von Friedhelm Klinkhammer und Volker Bräutigam
Der Qualitätsjournalismus von ARD-aktuell hat es geschafft: Gemeinhin gilt als unumstößlich, dass künftig "immer weniger Erwerbstätige eine immer größere Zahl von Rentnern finanzieren müssen". Denn: "Die Deutschen leben immer länger." Daher der Zwang, die Beiträge zu erhöhen, die Lebensarbeitszeit zu verlängern und das Rentenniveau abzusenken. Das Erste deutsche Fernsehen und die übrigen öffentlich-rechtlichen Rundfunkanbieter haben wesentlichen Anteil an der Festigung dieses Glaubenssatzes. Alternative Rentenmodelle spielen im öffentlichen Diskurs kaum mehr eine Rolle.
Überhaupt tun Tagesschau, Tagesthemen & Co. wenig bis nichts, ihr zahlendes Millionenpublikum zu kritischem Nachdenken über das System der Altersvorsorge zu bewegen. Wurde jemals die Frage aufgeworfen, unter welchen Schieflagen der "Generationenvertrag" leidet? Er dekretiert beispielsweise in aller Scheingerechtigkeit, dass die Erwerbstätigen und ihre Arbeitgeber je zur Hälfte als Beitrag in die Rentenkassen einzahlen, was an die Alten ausgezahlt wird. Wobei hypothetische 20 Prozent (10 + 10) Gesamtbeitrag als Zumutbarkeitsgrenze ausgegeben werden.
20 Prozent (derzeit tatsächlich nur 18,6 Prozent) wovon? Von den Brutto-Arbeitslöhnen. Aber nur bis zu einer willkürlich festgelegten Bemessungsgrenze (derzeit 6.500 Euro West bzw. 5.750 Euro Ost Monatsgehalt). Oberhalb davon endet die Solidarität mit der Rentnergeneration.
Bereits da endet auch das Informationsangebot der Tagesschau. Die grundsätzliche Schieflage des Rentenbeitragssystems und deren gewollte sozialpolitische Folgen an einem simplen, fiktiven Beispiel deutlich machen, erlaubt sich ARD-aktuell ohnehin nicht:
Die Semmelfabrik A erzielt mit 1.000 Beschäftigten einen Jahresumsatz von 400 Millionen Euro. Sie zahlt tausend Einzelbeiträge in die Rentenkasse. Die Versandapotheke B erzielt mit 100 Beschäftigten ebenfalls 400 Millionen Euro Jahresumsatz. Sie zahlt aber nur einhundert Beiträge.
Bei völlig gleichem Umsatz zahlt B zehnmal weniger Sozialbeiträge als A. Das Kriterium "Arbeitsplatz-Anzahl" bestimmt den Umfang des Rentenbeitrags, nicht die wirtschaftliche Leistungskraft des jeweiligen Unternehmens. Die Folge: maximaler Abbau von Arbeitsplätzen. Frage: Warum wird der Arbeitgeberanteil von der Zahl der Arbeitsplätze abhängig gemacht – und nicht beispielsweise auf Basis des Jahresumsatzes berechnet?
Warum ignorieren Tagesschau, Tagesthemen & Co. im Gleichklang mit dem Interesse des Geldadels und seines Berliner Politpersonals so krampfhaft den Lösungsansatz "Produktivitätssteigerung erlaubt höhere Renten"? Der Politikwissenschaftler Egbert Scheunemann stellt fest,
dass das deutsche BIP zwischen 1995 und 2015 von knapp 1,9 Billionen Euro auf über drei Billionen Euro gestiegen ist – also viel schneller als der Anteil der Rentner an der Gesamtgesellschaft oder auch nur in Relation zur Erwerbsbevölkerung.
Anschlussfrage: Warum wird nicht darüber diskutiert, die riesigen Vermögenseinkünfte sozialabgabepflichtig zu machen?
Seit Jahren wird der Rentendiskurs von ARD-aktuell und ZDF-heute nur selektiv und unter größter Rücksichtnahme auf neoliberale, neokonservative Interessen begleitet und somit entgegen dem Informationsanspruch der Rentenbezieher und der Öffentlichkeit insgesamt. Diese Redaktionslinie steht in deutlichem Widerspruch zu den Vorgaben des Rundfunkstaatsvertrags. Der verpflichtet schließlich zu objektiver und vollständiger Information, die Nachrichtenkonsumenten jeden Bildungsstandes befähigen soll, sich ein sachgerechtes eigenes Urteil zu bilden. Der gebührenfinanzierte Qualitätsjournalismus verweigert die dafür nötige Basisinformation jedoch hartnäckig.
Die Diskussion wird derzeit verengt auf die von der SPD angesprochene Garantie eines Rentenniveaus von 48 Prozent bei 45 (!) Beitragsjahren. Es gibt Meinungsverschiedenheiten darüber, für wie lange diese Armseligkeit (2) garantiert werden könne. (Anmerkung: Vor 40 Jahren lag das Rentenniveau noch bei 59,5 Prozent.) Bis zum Jahr 2040 (Finanzminister Scholz)? Oder doch nur bis 2025 (Kanzlerin Merkel)? Eine infame Scheindebatte. Sie übertüncht, dass vom Brutto-Rentenniveau die Rede ist. Das Netto-Rentenniveau nimmt unabhängig davon ohnehin laufend weiter ab, weil die Einkommensteuer auf Renten kräftig steigt.
Bereits jetzt beträgt der steuerfreie Anteil der Neurente nur noch 24 Prozent. Bis zum Jahr 2025 sinkt er auf 15 Prozent, vom Jahr 2040 an entfällt er ganz. SPD und Unionsparteien handeln in der Garantiezeit-Debatte wie Trickbetrüger. Tagesschau & Co. senden Werbung für falsche Fuffziger statt Aufklärung darüber.
Unbeirrt verbreitet ARD-aktuell im Zusammenhang damit wieder das müde Märchen, demografisch bedingte Finanzierungsprobleme ließen keine günstigere Regelung zu. Die regelmäßige Wiederholung macht zwar das Märchen nicht wahrer, blockiert aber eine offene Diskussion aller mit der Alterssicherung verbundenen Fragen, einschließlich denkbarer Alternativen. Sie blockiert vor allem die Kritik daran, dass das gegenwärtige Desaster gewollt ist.
Im öffentlich-rechtlichen Nachrichtenwesen wird nicht daran erinnert, dass der Abbau der gesetzlichen Rente unter Führung der SPD organisiert wurde, dass sie es war, die den "Generationenvertrag" entwertete und die Teilprivatisierung des Alterssicherungssystems betrieb. Einer Regierungspartei flickt ARD-aktuell nicht am Zeug. Folglich gibt es auch keine Information darüber, dass und wie die grundsätzliche Fehlentwicklung im Rentensystem korrigierbar wäre.
ARD-aktuell äußert sich ohnehin nie selbst zur Rententhematik, ihre Reporter werfen keine neuen Fragen auf. Die Redaktion bietet lediglich opportunen "Experten" ein Forum für frustrierend destruktive, antisoziale Darlegungen. Es sind Neoliberale, die sich hier austoben dürfen, bekannt dafür, dass sie Verschlechterungen des gesetzlichen Rentensystems das Wort reden. Verschlechterungen, die den privaten, kommerziellen Rentenversicherern Kunden zutreiben sollen, ganz im Sinne der Regierungspolitik.
Das tagesschau.de-Interview vom 24. August mit dem Finanzexperten Prof. Jens Boysen-Hohgrefe vom Kieler Institut für Wirtschaftsforschung ist dafür typisch. Er repräsentiert die Linie der berüchtigten Neocon-"Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft", INSM. Er lehnt nicht nur Rentenverbesserungen ab, sondern sieht auch die Pensionen "explodieren" und kann natürlich der Erhöhung des Spitzensteuersatzes nichts abgewinnen.
Boysen-Hohgrefes und seinesgleichen "Expertisen" in voller Schlagseite zu verbreiten, ist eine beliebte ARD-aktuell-Methode der Meinungsmache. Die vorgeblich absolute Gültigkeit einer doch lediglich erwünschten Sichtweise soll mittels Berufung auf akademische Autoritäten unterstrichen werden.
Wenn – wie gezeigt – die Expertenauswahl interessengeleitet erfolgt und wenn gegensätzliche, von anderen Experten stammende Konzeptionen ignoriert werden, dann handelt es sich um blanke Scheinargumentation. Mit dem Ausdruck "opportune Zeugen" bezeichnet der Medienwissenschaftler Lutz M. Hagen die parteiische Auswahl von Darstellungen, mit denen Medienberichte eine gewünschte Tendenz bekommen, ohne dass ihre Autoren selbst Position beziehen müssen. Ergänzt wird solch manipulativer Journalismus durch Kommentare, die sozialfeindliche Absichten zur Rentenverschlechterung stützen und offenlegen.
Ein perfider, oft widerlicher Sprachgebrauch kennzeichnet darüber hinaus manche dieser Elaborate, die dem Publikum unter der formal-legitimen Tarnkappe "freie Meinungsäußerung eines Journalisten" zugemutet werden. Da wird schon mal ein Familienname genutzt, um einen ironisch-sarkastischen Giftpfeil auf seinen Träger abzuschießen – Wortspielerei mit Namen gehört zur primitivsten Form der Verächtlichmachung:
"Vorstellung des Rentenpakets, Heils Versprechen"
heißt es anzüglich mit Bezug auf den Namen des Bundesarbeitsministers, und seine intellektuell und materiell ohnehin äußerst bescheidenen Verbesserungsvorschläge werden a priori als utopisch und lächerlich abqualifiziert.
Man ist bereits daran gewöhnt, dass abweichende Informationen zur Rentengestaltung vom öffentlich-rechtlichen Qualitätsjournalismus so stiefmütterlich behandelt werden, dass sie das Publikum nicht als praktikable Alternative wahrnehmen kann. Viele sachkundige Analysen und Konzepte lässt ARD-aktuell gänzlich außer Betracht, sie werden den Zuschauern systematisch vorenthalten. Albrecht Müller zeigt das regelmäßig in den NachDenkSeiten auf.
Alternative Modelle zur Finanzierung einer guten Rente und einer gerechten, auskömmlichen Versorgung im Alter gibt es nicht nur in Form abgesicherter Konzepte der Sozialwissenschaft, sondern auch als gelebte Praxis. Aber: Was weiß der deutsche Nachrichtenkonsument schon über das Schweizer Rentenmodell? Was weiß er über die skandinavischen Rentensysteme?
Dänemark zum Beispiel: eine steuerfinanzierte "Volksrente" von derzeit knapp 1.500 Euro monatlich, ergänzt durch eine obligatorische Betriebsrente, auf die mehr als 90 Prozent der Erwerbstätigen Anspruch haben! Wundert sich jemand, dass die Dänen zu den glücklichsten Menschen der Welt zählen – bei einer durchschnittlichen Rentenerwartung von weit mehr als 2.300 Euro monatlich? Warum kann Österreich sich ein gut 30 Prozent höheres Rentenniveau leisten als Deutschland?
Vorwürfen über die Mitverantwortlichkeit der ARD-aktuell an der weitverbreiteten Unkenntnis begegnet Chefredakteur Dr. Gniffke mit der Behauptung,
... dass ARD-aktuell über die Rentenpolitik und ihre Probleme sowie über Lösungsansätze in den unterschiedlichsten Ausspielwegen auf vielfältige, formatgerechte Art berichtet hat, sowohl aktuell als auch hintergründig. Alle relevanten Positionen sind zu Wort gekommen, die grundlegenden Probleme sind korrekt dargestellt worden.
Mit anderen Worten: Es liege nicht an ARD-aktuell, dass sich das Zerrbild von der zwangsläufigen Rentennot festgesetzt hat. Das Publikum sei selbst schuld, weil es die angeblich vielen alternativen Tagesschau-Informationen einfach nicht kapieren wolle. Ganz schön dreist.
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Das Autoren-Team:
Friedhelm Klinkhammer, Jahrgang 1944, Jurist. 1975 bis 2008 Mitarbeiter des NDR, zeitweise Vorsitzender des NDR-Gesamtpersonalrats und des ver.di-Betriebsverbandes sowie Referent einer Funkhausdirektorin.
Volker Bräutigam, Jahrgang 1941, Redakteur. 1975 bis 1996 im NDR, zunächst in der Tagesschau, von 1985 an in der Kulturredaktion für N3. Danach Lehr- und Forschungsauftrag an der Fu-Jen-Uni in Taipeh.
Anmerkung der Autoren:
Unsere Beiträge stehen zur freien Verfügung. Wir schreiben nicht für Honorar, sondern gegen die "mediale Massenverblödung" (in memoriam Peter Scholl-Latour). Die Texte werden zumeist auf der Seite https://publikumskonferenz.de/blog dokumentiert.