von Friedhelm Klinkhammer und Volker Bräutigam
Wer´s bezweifelt, gurgle bitte Tee mit Nowitschok-Geschmack, dieser allertödlichsten Chemiewaffe, von den "Soffjets" ausgebrütet. Es ist daher für Tagesschau und Tagesthemen nur konsequent, dass Bundeskanzlerin Merkel beweislos behauptet, Alexei Nawalny sei mit Nowitschok vergiftet worden und Putin müsse jetzt umgehend dazu Stellung nehmen. Da gibt’s keine redaktionelle Rückfrage, das wird uns im O-Ton rapportiert. Für ARD-Qualitätsjournalisten hat nämlich nur US-Präsident Trump einen an der Waffel, weil er seinen Mitbürgern empfahl, Sagrotan gegen das Virus SARS-CoV-2 zu schlucken.
Es ist unglaublich, was die deutsche Politikerelite und der ihr hörige Medien-Mainstream der Öffentlichkeit mit der Nawalny-Nummer zugemutet haben. Selbst nach einer Woche lebt die Story immer noch: Der böse Wladimir Putin und seine Geheimdienstkiller haben den "führenden russischen Oppositionspolitiker" Alexei Nawalny im Gulag-Sibirien erst mal mit Nowitschok abgefüllt. Dann wollten sie das vertuschen und haben so getan, als wollten sie sein Leben retten. Und dann haben sie ihn samt Familie und Propagandamannschaft nach Deutschland ausfliegen lassen, damit dort die gemeine Vergiftung von der Bundeswehr nachgewiesen werden kann. Schmerz, lass nach!
Solchen Schmarren servierte ARD-Tagesthemen-Moderatorin Caren Miosga am 2. September in vollem Ernst. Liebhabern der Realsatire sei dieser Tiefpunkt des bundesdeutschen Nachrichtenjournalismus zur Betrachtung anempfohlen; die komprimierte Ansammlung von Verstößen gegen zentrale Bestimmungen (§ 11 Auftrag) des Rundfunkstaatsvertrags ist in der ARD-Mediathek abrufbar.
Die Sendung erreichte 2,27 Millionen Zuschauer und einen "Marktanteil" von 11,1 Prozent. Sie begann hochdramatisch, ohne Begrüßung und übliche Anmoderation, mit O-Ton der Bundeskanzlerin:
Alexei Nawalny wurde Opfer eines Angriffs mit einem chemischen Nervenkampfstoff der Nowitschok-Gruppe. Dieses Gift lässt sich zweifelsfrei in den Proben nachweisen. Damit ist sicher: Alexei Nawalny ist Opfer eines Verbrechens. Er sollte zum Schweigen gebracht werden und ich verurteile das im Namen der ganzen Regierung auf das allerschärfste.
Miosga verstand es nicht als ihre Aufgabe, die apodiktischen Behauptungen der Kanzlerin distanziert zu zerlegen und kritisch zu beleuchten. Sie kann so etwas nicht. Wer alt genug ist, das seichte Geschwätz des TT-Moderatoren-Gespanns Miosga/Zamperoni mit den journalistischen Glanzleistungen zu vergleichen, die Barbara Dickmann und ihr Kollege Hanns-Joachim Friedrichs vor 40 Jahren als Tagesthemen-Moderatoren der ersten Stunde vollbrachten, spürt einen Kloß im Hals.
Miosga fiel keine einzige relevante Frage zur Aufhellung des Sachverhalts ein, obwohl selbst das ZDF schon vor Jahr und Tag zu Nowitschok verkündet hatte:
Für die Herstellung solcher Stoffe braucht man nicht unbedingt eine staatliche Infrastruktur."
Möglicherweise war das unserer begnadeten Fachfrau fürs Nichtbegreifen der Hintergründe einer Nachricht nicht einmal bekannt. Aus vermutlich gleichem Grund verlor sie auch kein Wort darüber, dass ausgerechnet ein – wohlgemerkt anonymes und weisungsgebundenes – Bundeswehr-Labor und nicht eine unabhängige zivile Institution die angeblich von Nawalny stammenden Proben untersucht hat.
Sachkenntnis behindert nur
Miosga und ihre Redaktion hatten ersichtlich auch nicht daran gedacht, erst mal bei der Leitung der Charité in Berlin nachzufragen, von wem und warum deren Wissenschaftler angewiesen worden waren, die Bundeswehr einzuschalten – und warum sie sich nicht beispielsweise an das erstklassige zivile Hamburger "Institut für Hygiene und Umwelt" gewandt hatten, eines der ganz wenigen Fachinstitute weltweit, die ein Spitzen-Zertifikat der UNO vorzuweisen haben. Wir hätten gerne erfahren, ob sich die toxikologischen Kapazitäten der Berliner Charité – wie die ARD-Anstalten eine öffentlich-rechtliche Körperschaft – nicht von der Bundesregierung veralbert und missbraucht fühlen.
Der fade Geschmack, den man bei dem Vorgang empfindet, rührt daher, dass der Bundesnachrichtendienst Anfang der 1990er Jahre bei einer Geheimoperation unter Mitwirkung der Bundeswehr an eben dieses russische "Nowitschok" gelangt war, wie selbst die führende russophobe Süddeutsche Zeitungzu berichten wusste.
Eine Miosga – und die ihr zuarbeitenden rund 20 Redakteure – interessieren solche Feinheiten anscheinend nicht. In Ihrer Sendung – volle 14 Minuten allein über das Thema Nawalny/Nowitschok – durfte Reporterin Kerstin Balzer frech an Standard-Vorurteile anknüpfen:
Ob der Kreml mit dem Giftanschlag zu tun hat, ist jetzt die große Frage.
Der Kreml. Alles klar. Schon irritierte da nicht einmal mehr, dass Jan van Aken, der vormalige Bundestagsabgeordnete der Linkspartei (promovierter Biologe und ehemaliger UNO-Biowaffeninspekteur), vorsichtig anmerkte:
der Verdacht liegt nahe, das Gift könnte aus Moskau kommen, es könnte aber auch von anderen Geheimdiensten sein, die es Moskau in die Schuhe schieben wollen.
Gesunde Zweifel an dem Getöse der Kanzlerin zu wecken, war schlicht unerwünscht. Miosga griff den Hinweis von Jan van Aken einfach nicht auf. Vielmehr gab sie der Grünen-Fraktionsvorsitzenden Katrin Göring-Eckardt Gelegenheit, zu gemeinsamen Strafaktionen Deutschlands, der EU und gar der USA gegen Russland aufzurufen – und den ultimativen, US-gefälligen Schuss ins deutsche Knie zu verlangen:
Nord Stream 2 ist nichts mehr, was wir gemeinsam mit Russland vorantreiben können.
In diesem intellektuellen Souterrain verblieb denn auch Moderatorin Miosga, als sie die russophobe ARD-Korrespondentin Ina Ruck in Moskau fragte:
Die Bundesregierung scheint sich sicher zu sein, dass hinter dem Giftanschlag der russische Staat steckt. Was spricht dafür?
Merken wir was? Ruck servierte prompt das gewünschte Pflaumenmus:
Kampfstoffe wie dieses Nervengift werden seit Sowjetzeiten in Geheimlaboren hergestellt, und ich glaube, wir können sicher sein, dass die Zeiten vorbei sind, dass man solche Stoffe irgendwo auf dem Schwarzen Markt kaufen kann. …Diese Labore sind unter strenger Kontrolle der Geheimdienste. Das mag der Grund für die Annahme sein, dass das hier kein zufälliger Kriminalfall ist.
Solches Gelaber – "ich glaube, wir können sicher sein …" "das mag der Grund für die Annahme sein…" ist Ina Rucks Ersatzformel für: "Ich weiß nix Genaues, ich hab keinen Schimmer, worüber ich hier daherrede: Hauptsache, ich bin auf Sendung und kann meinen schnellen antirussischen Beißreflex zeigen. Gelle?
Hetzer am Werk
Russland ist vor mehr als 20 Jahren dem "Übereinkommen über das Verbot der Entwicklung, Herstellung, Lagerung und des Einsatzes chemischer Waffen und über die Vernichtung solcher Waffen" beigetreten und Mitglied der Überwachungsorganisation OPCW. Darauf spricht Miosga die Moskau-Korrespondentin Ruck aber nicht an – weiß diese Moderatorin überhaupt davon? Man dürfe jetzt in Berlin nicht zufrieden sein, hechelt sie, sondern müsse zu
Sanktionen greifen. Und wie könnten die aussehen und was heißt das für das deutsch-russische Verhältnis? Ich habe den Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages, Norbert Röttgen gefragt.
Der zeigt denn auch wie erhofft, was ein ausgewiesener Russenfresser und Stellvertretender Vorsitzender der Atlantikbrücke so auf der Pfanne hat. Auszüge (wörtliche Mitschrift. Für das verkorkste Deutsch ist Röttgen selbst verantwortlich):
Jetzt sind wir erneut brutal in die menschenverachtende Realität des Regimes Putin damit konfrontiert worden … Es muss eine klare harte europäische Antwort geben … Wenn es jetzt zur Vollendung des Gasprojekts Nord Stream 2 käme, dann wäre das die maximale Bestätigung und Ermunterung für Waldimir Putin … Es gibt nur eine einzige Sprache, die Putin versteht … deshalb muss man über die Nichtvollendung der Pipeline sprechen. … Putin ist abhängig von den Erdgasverkäufen an uns.
Tiefsinnige Erörterung der Prinzipien demokratischer Rechtstaatlichkeit erübrigt sich angesichts der Entgleisungen. Befragung der deutschen Zuständigkeit, Unschuldsvermutung, sachliche Offenlegung und Beweiswürdigung als Voraussetzung für unabhängiges Urteilen und jegliche Planung einer Bestrafungsaktion: überflüssig. Für die Kanzlerin steht der Schuldige fest und hat damit für alle anderen Deutschen ebenfalls als schuldig zu gelten:
Wir erwarten, dass die russische Regierung sich zu diesem Vorgang erklärt."
Der Außenminister-Darsteller Heiko Maas tutet natürlich ins gleiche Horn, und die Tagesthemen verbreiten auch sein Gedöns ohne Rückfrage:
Wir werden in den nächsten Tagen darüber beraten, wie wir in Europa darauf angemessen reagieren können. Darüber werden wir auch im Lichte dessen entscheiden, wie Russland sich nun verhält."
Ein wahres Glück, dass einigen Vernunftbegabten unter den EU-Ratsmitgliedern das US-amerikanische Motto "erst schießen, dann fragen" noch immer zuwider ist.
Bundesregierung und Tagesschau-Redaktion unterschlugen den sehr bedeutsamen Umstand, dass die russische Generalstaatsanwaltschaft bereits fünf Tage zuvor, am 27. August, ein Rechtshilfeersuchen nach Berlin geschickt hatte, um eine auf die deutschen "Erkenntnisse" bezogene Untersuchung einleiten zu können, die über die eigenen polizeilichen Vorermittlungen in Russland hinausgeht. Dieses Ersuchen blieb unbeantwortet. Dahinter steckt böse Absicht, wie man durchaus nachvollziehbar – und nicht nur in Moskau – vermuten darf.
Primitive Agitation statt Journalismus
Nach all den O-Tönen, Moderations- und Reportertexten hatte die ARD-aktuell immer noch nicht genug. Zur Krönung ihres Spitzenprodukts von AgitProp erlaubte sie der Barrikadenbraut Golineh Atai ein visuelles und intellektuelles Attentat auf die mentale Integrität der Zuschauer. In ihrem Kommentar – nee, bei ARD-aktuell heißt der ja jetzt "Meinung" – durfte sie ein Visa-Verbot für einen erweiterten Kreis von Russen fordern, das Einfrieren russischer Vermögenswerte vorschlagen und – darauf kam es an – die sofortige Kündigung des Nord Stream 2-Projekts.
In Atais von Sachlichkeit und Rechtsverständnis unbelasteter Suada fehlte nur noch der Vorschlag, Putin und seinen Außenminister Lawrow umgehend auf dem Roten Platz in Moskau zu füsilieren. Merkwürdig, dass sie darauf verzichtete, denn spätestens seit ihrer verfälschenden und verlogenen Ukraine-Berichterstattung ist sie für ausgeprägte journalistische Bösartigkeit bekannt. Erst kürzlich fiel sie wieder einmal unangenehm auf, als sie per Twitter versuchte, den Philosophen Richard David Precht öffentlich anzupinkeln, weil er ihr nach einer Maischberger-Sendung über Weißrussland komplette Ignoranz vorgeworfen hatte.
Strich drunter. Es geht der ARD-aktuell nicht um unparteiische, sachgerechte, umfassende Information über Russland und diesbezügliche geopolitische Zusammenhänge; bitte machen Sie sich selbst ein Bild anhand der von uns hier betrachteten Sendung.
Wir jedenfalls konstatieren: Die Nachrichten-Zentralredaktion des Ersten Deutschen Fernsehens vermittelt bei vollem Bewusstsein der Problematik schiere antirussische Propaganda. Sie erzeugt gezielt Ablehnung und Hass, sie malt Feindbilder von einem Land, das schon einmal Opfer deutscher Machtfantasien war und mit mehr als 26 Millionen Toten für die Befreiung von unserer Obsession bezahlte. Diese Machtfantasien werden heute nur anders serviert, sind aber auf identische Ziele ausgerichtet. Neu, beinahe voller schwarzem Humor, ist dabei der Dilettantismus, mit dem unsere hochdotierten Qualitätsjournalisten vorgehen.
Wegbereiter des Krieges
Beruhigen darf uns das allerdings nicht. Der Publizist Ulrich Teusch nannte diese Art der Propaganda "Der Krieg vor dem Krieg" und stellt die berechtigte Frage: "Wie oft haben Medien durch tendenziöse, emotionalisierende Berichterstattung und Kommentierung für den Krieg gesorgt? Wie oft haben sie jene gesellschaftliche Sportpalast-Atmosphäre erzeugt, die ihn erst möglich machte?"
Wie zu Jelzins Zeiten schon greifbar nahe, will die US-geprägte transatlantische Plutokratie die unermessliche Russische Föderation und ihre reichen Bodenschätze kontrollieren, nicht bloß Westeuropas Regierungen an der Kandare halten. In Moskau bestimmen zwar keine Waisenknaben, aber sie sind die gegenwärtigen Garanten des Weltfriedens. An Putin und Lawrow besticht die gelassene Sachlichkeit, die sie so oft den gehässigen Angriffen transatlantischer Politiker und Journalisten entgegenbringen. Sie üben eine geostrategische Bremsfunktion aus und lassen damit den Wertewesten immer wieder auflaufen: in Venezuela oder in Syrien, in der Ukraine oder in Libyen, im Umgang mit Iran oder in den Vereinten Nationen.
Aischylos, griechischer Schöpfer der klassischen Tragödie, erkannte schon vor 2.500 Jahren: "Im Krieg ist die Wahrheit das erste Opfer". Nach tausendfacher Erfahrung weiß man heute, dass die von Politikern vorgebrachte Lüge erst nach ihrer Verbreitung durch Journalisten wirklich kriegswirksam wird. Der Bombenkrieg gegen Afghanistan begann 2001 mit der Lüge, dort säßen die Verantwortlichen für den Anschlag auf die Zwillingstürme in New York. Die Mär, Saddam Hussein besitze heimliche Massenvernichtungswaffen, diente anno 2003 zur Begründung des Dritten Irakkriegs. Die Kriege gegen Libyen 2010 und gegen Syrien 2011 wurden mit Lügen über die angeblich "mörderischen Regimes" der Präsidenten Muammar al-Gaddafi und Baschar al-Assad losgetreten. Haben unsere Qualitätsjournalisten jemals sichtbare Erkenntnisse aus der üblen Historie gewonnen und Konsequenzen aus dem bösartigen Geschwätz der Politiker gezogen?
Nicht die Bohne. Tendenzfreie, professionell recherchierte und friedensförderliche Nachrichten sind bei Tagesschau und Tagesthemen so selten wie dicke Briefträger bei der Post.
Wir erlauben uns ein Postskriptum
Einen Offenen Brief an Bundeskanzlerin Merkel, Außenminister Maas, Kriegsministerin Kramp-Karrenbauer und die gesamte Stahlhelm-Fraktion von CDU und Grünen im Deutschen Bundestag:
Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, sehr geehrte Damen und Herren Volksvertreter mit und ohne Ministeramt,
Am 3. Januar dieses Jahres befahl US-Präsident Donald Trump, den iranischen General Qassem Soleimani zu ermorden. Er ließ sich live unterrichten, als eine Drohne MQ-9-Reaper auf dem Flughafen Bagdad die Wagenkolonne des Iraners mit Raketen beschoss. Außer Soleimani wurden zehn weitere Menschen zerfetzt, darunter ein Flughafenarbeiter. Die Aktion wurde über die US-Relaisstation in Ramstein/Pfalz gesteuert und Deutschland zum Mordkomplizen gemacht. Haben Sie von Trump und der US-Administration eine Erklärung verlangt? Haben Sie den deutschen Generalbundesanwalt angewiesen, ein Ermittlungsverfahren gegen den Massenmörder im Weißen Haus in Washington einzuleiten? Nein?
gez. Friedhelm Klinkhammer, Volker Bräutigam
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Das Autoren-Team:
Friedhelm Klinkhammer, Jahrgang 1944, Jurist. 1975 bis 2008 Mitarbeiter des NDR, zeitweise Vorsitzender des NDR-Gesamtpersonalrats und des ver.di-Betriebsverbandes sowie Referent einer Funkhausdirektorin.
Volker Bräutigam, Jahrgang 1941, Redakteur. 1975 bis 1996 Mitarbeiter des NDR, zunächst in der Tagesschau, von 1992 an in der Kulturredaktion für N3. Danach Lehrauftrag an der Fu-Jen-Universität in Taipeh.
Anmerkung der Autoren:
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