Kommentar von Damian Wilson
Die Deutschen – denn so müssen wir es aufrichtig glauben – versuchen wohl durchaus, ihren Überschwang an Ordnungssinn zu zügeln. Nicht zuletzt auch, weil diese hochgeschätzte nationale Eigenschaft – führt man sie dem misstrauischen Ausland allzu eifrig vor – bei entsprechender Portion Pech die Deutschländer manchmal in die Gülle reiten kann.
Der deutsche Außenminister Heiko Maas sprach auf der diesjährigen Konferenz der deutschen Botschafter in Berlin (mal gut, dass diese heiße Kiste digital über Zoom lief – die Blitzer-Knöllchen der Botschafter unterwegs dorthin wären sonst unzählbar und unbezahlbar viele). Dabei verstieg sich offensichtlich so sehr in seinen Wutrausch, dass jeder Versuch, besagte Vorsicht walten zu lassen, ins Leere laufen musste.
Bei der Eröffnung der Konferenz beklagte er sich darüber, dass beim Aufbau einer zusammenhängenden Außenstrategie der Europäischen Union immer Probleme aufkommen würden. Und das, solange irritierende Einzelstaaten ein Vetorecht haben:
"Wir können uns nicht länger in Geiselhaft nehmen lassen von denjenigen, die die europäische Außenpolitik durch ihre Vetos lähmen. Wer das tut, spielt über kurz oder lang mit dem Zusammenhalt Europas. Deshalb muss man auch ganz offen sagen: Das Veto muss weg – auch wenn das bedeutet, dass man selbst einmal überstimmt werden kann."
Also, damit wir hier alle miteinander ganz sicher auf dem richtigen Dampfer sitzen: Maas ärgert sich darüber, dass sich die 27 Mitgliedsstaaten über die Außenpolitik einig sein müssen, bevor sie umgesetzt werden kann. Dabei kann ein einziges Mitgliedsland ("Ungarn, da hinten in der Tiefe des Klassenraumes! Ellenbogen vom Tisch, Rücken gerade!!") all die sorgfältig ausgearbeiteten Handlungsabsichten, die monatelangen diplomatischen Empfänge und die in den Hinterzimmern gegebenen Versprechungen einfach durch sein Veto zunichtemachen.
Das, denkt er, ist nämlich etwas Falsches. Ich für meinen Teil bin mir nicht ganz sicher, ob Heiko Maas in seinem "Führungshandbuch des guten Europäers" das Kapitel über Demokratie auch wirklich gelesen hat.
In der EU liebt Brüssel nichts so sehr wie aufmüpfige Staaten herumzukommandieren, die ihren vermeintlichen Irrwegen beharrlich treubleiben – man denke hier an Großbritannien, man denke an Ungarn, man denke an Polen. Einzig und allein die Existenz des Vetorechtes verhindert, dass die einzelnen hartnäckigeren oder auch die zaghafteren Mitgliedsstaaten einfach von den Ansprüchen und großen Plänen der bevölkerungsreicheren und politisch dominanten Länder überrollt werden. Denken Sie hier an Deutschland. Denken Sie hier an Frankreich.
"In der Europäischen Union ist das Vetorecht die Rettungsleine der Demokratie."
Seit ihrer Gründung strebt die EU nach einer "immer engeren Vereinigung". Doch selbst wenn die allgemeinen Prinzipien dieses Ideals geteilt werden: Das Vetorecht erlaubte den Mitgliedsländern bisher, ihre eigene Identität auszudrücken, stellte ein Gegengift zur europäischen Hegemonie und verschaffte den Stimmen selbst der kleinsten Minderheiten Gehör.
Das plus 1 bei der G-7+1 der westlichen "Super"mächte
Die Ansicht ist nicht ungewöhnlich (wenn auch vielleicht etwas unfair), die Europäische Union sei nichts anderes als ein deutsches Schuldbewältigungsprojekt: Hier würden Milliarden und Abermilliarden von Euro von einem Land ausgegeben und bewilligt, das versuche, seine zentrale Rolle in zwei Weltkriegen zu kompensieren. Deutschland ist der einzige echte wirtschaftliche Kraftklotz im Block und mit 17,2 Milliarden Euro der größte Nettozahler im Projekt. Das sind zehn Milliarden Euro mehr, als vom zweitplatzierten Frankreich kommen. Die aktuellen Zahlen zeigen auch, dass Deutschland seinen Anteil an der finanziellen Schwerstarbeit sicherlich weit übererfüllt.
Manchmal jedoch geht mit Deutschland die gute alte teutonische Ungeduld gegenüber dem Verhalten des undisziplinierten Ungetüms durch, bei dessen Erschaffung man selbst eine dermaßen tragende Rolle innehatte. Und nun ist einer jener Momente, an denen uns ein Einblick in dieses Geschehen zuteilwird. Das Veto gibt Querulanten wie dem ungarischen Premierminister Viktor Orban, einem raffinierten und umsichtigen politischen Operator, die Möglichkeit, den Konsens zu kippen. Er kann die Pläne gemäß diesem Konsens blockieren, indem er alle mit einer Einigung stur hinhält.
Jüngst spielte er die Vetokarte bei einer EU-Erklärung zu Chinas Sicherheitsgesetz in Hongkong und bei dem EU-Handels- und Entwicklungsabkommen mit afrikanischen, karibischen und pazifischen Ländern aus. Auch hielt er sich bei einer EU-Forderung nach einem Waffenstillstand zwischen Israel und den Palästinensern zurück. All dies sehr zum Ärger der Deutschen.
Und gerade solche Ärgernisse treiben diejenigen, die von einer einheitlichen, globalen und weitreichenden EU-Außenpolitik träumen – also die größeren Staaten – zu völliger Weißglut. Damit wird ihnen die Möglichkeit verwehrt, an der Seite der Supermächte – als eine, von denen sie sich selbst in ihrem Wahn sehen – in geschlossener Front aufzutreten.
Deshalb ist man im EU-Apparat auch so hocherfreut, in der zweiten Juni-Woche zum G-7-Gipfel in Großbritannien eingeladen zu werden: Man nimmt das nämlich als universelle Bestätigung der eigenen Sonderstellung wahr – wenn man dort auch nur als das "plus eins" zu Frankreich, Deutschland und Italien (die USA, Kanada, Japan und Großbritannien vervollständigen das Septumvirat) dabei sein darf.
Die Realität sieht für Brüssel indes anders aus: Dieser Sonderstatus ist auch nicht gerade der ultimative Bringer, wie die Jugend (und vielleicht Budapest) sagen würden. Das Vetorecht dient als unwillkommene Erinnerung daran, dass dem wahrscheinlich so ist.
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Damian Wilson ist ein britischer Journalist, ehemaliger Herausgeber in Blättern der Fleet Street, Berater der Finanzbranche und Sonderberater für politische Kommunikation in Großbritannien sowie der EU. Die Originalversion seines Textes finden Sie hier.
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