Die Ukraine und die fatale Verknüpfung von Minsk II mit den Russland-Sanktionen

Bernd Murawski

Ein Ausstieg aus den Russland-Sanktionen war nicht möglich, weil sie mit dem Minsker Vertrag verknüpft waren, dessen Umsetzung von der ukrainischen Führung jahrelang torpediert wurde. Erst der Präsidentenwechsel in Kiew veränderte die Lage.

von Bernd Murawski

Die Russland-Sanktionen der westlichen Staaten sind bereits mehr als fünf Jahre in Kraft. Nach offizieller Lesart dienen sie der Erzielung politischen Drucks, um Moskau zur Erfüllung seiner Verpflichtungen aus Minsk II zu veranlassen. Diese von falschen Prämissen und Selbstüberschätzung geprägte Position steht in Kontrast zu den Entspannungssignalen, die in letzter Zeit zu vernehmen waren. Deren Ursachen lassen sich wie folgt benennen:

Westliche Bemühungen um eine Normalisierung der Beziehungen zu Russland gehen einher mit den Intentionen des neuen ukrainischen Präsidenten Wladimir Selenskij, den Ostukraine-Konflikt alsbald zu lösen. Durch die Parlamentswahlen im Juli 2019 erlangte er eine Mehrheit in der Werchowna Rada, die es ihm ermöglichte, mit der Umsetzung seiner Pläne zu beginnen. Wie zu erwarten war, formierte sich die nationalistisch gesinnte Opposition zu erbittertem Widerstand, der sich in Massenprotesten und harschen Vorwürfen aus dem politischen Establishment artikulierte.

Der wohl bedeutendste Schritt zur Realisierung von Minsk II wurde durch das Abkommen zwischen der Ukraine, Russland und den abtrünnigen Gebieten um Donezk und Lugansk vollzogen, das am 1.10.2019 unterzeichnete wurde. In ihm sind die Etappen einer Autonomieregelung gemäß der "Steinmeier-Formel" festgelegt. Die erste vertrauensbildende Maßnahme war der bereits im September durchgeführte Gefangenenaustausch. Kürzlich wurde mit dem militärischen Rückzug von der ostukrainischen Frontlinie begonnen, wodurch die letzte Hürde für eine Wiederaufnahme der Verhandlungen im Normandie-Format beseitigt sein dürfte. 

Kein Ende der Russland-Sanktionen ohne Minsk II

Ein Ende der Russland-Sanktionen steht dennoch nicht unmittelbar bevor. Vertreter der EU-Staaten haben wiederholt betont, dass Minsk II zuvor vollständig umgesetzt sein muss. Obwohl Russland keine Konfliktpartei ist, wurde dessen Regierung jahrelang beschuldigt, für die Nichterfüllung der vereinbarten Maßnahmen verantwortlich zu sein. Im Westen hieß es, Moskau könnte auf die Führungen in Donezk und Lugansk mehr Druck ausüben, da sie in hohem Maß von dessen Hilfsleistungen abhängig seien. Konkret wurde verlangt, die Anwerbung und Grenzüberschreitung russischer Freiwilliger zu unterbinden. Doch ausländische Söldner kämpften gleichwohl auf der ukrainischen Seite, ohne dass dies beanstandet wurde.

Während die Führungen der ostukrainischen Rebellengebiete das Minsker Vertragswerk prinzipiell akzeptierten, wurde es von einem relevanten Teil der politischen Elite Kiews abgelehnt. Dass bislang keine Autonomieregelung beschlossen und in Kraft gesetzt wurde, erklärt sich aus den Mehrheitsverhältnissen im Parlament, wie sie vor den letzten Wahlen bestanden. Obwohl klar erkennbar war, dass die Bremser in der Ukraine saßen, blieben sie von westlicher Kritik weitgehend verschont. Es gab lediglich Äußerungen des Bedauerns, wobei für Kiews Blockierungen sogar Verständnis artikuliert wurde.    

Hätte Moskau seine Unterstützung für Donezk und Lugansk deutlich zurückgefahren, wäre die Ukraine in die Position gelangt, den Widerstand der abtrünnigen Regionen mittels militärischer Übermacht zu brechen. Die Stellungnahmen führender Vertreter Kiews ließen keinen Zweifel daran, dass die im Minsker Abkommen vorgesehene Autonomie wie auch andere Bestimmungen, die ihren Interessen zuwiderliefen, dann nicht mehr umgesetzt worden wären. Hierbei hätte es für die ukrainische Regierung keinen Anlass gegeben, sich vor Maßregelungen des Westens zu fürchten. Sie war gewohnt, mit ihren Aktionen bei westlichen Politikern und Medien auf ein positives Echo zu stoßen.    

Dies wusste natürlich auch die russische Führung. Die Umstände des Sturzes des früheren ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowitsch waren noch in frischer Erinnerung, wobei Politiker und Medien des Westens ihre Genugtuung über den Machtwechsel nicht verhehlten. Der einen Tag zuvor ausgehandelte Kompromiss zwischen Regierung und Opposition, als deren Garantiemächte Deutschland, Frankreich und Polen fungierten, war nur noch Makulatur. Westliche Politiker störte weder der Vertrauensverlust, den sie in Russland bewirkten, noch der durch den Staatsstreich vollzogene Verstoß gegen die ukrainische Verfassung, der eigenen demokratischen Leitzielen widersprach.  

Kritik daran wurde durch eine massive Medienkampagne erstickt. Der Begriff des "Putinverstehers" wurde kreiert und zur Diffamierung von Personen eingesetzt, die sich kritisch zur offiziellen Russlandpolitik positionierten. 

Ausstieg aus den Sanktionen ohne Gesichtsverlust

Der Vorwurf, Russland sabotiere die Umsetzung von Minsk II, diente lange Zeit propagandistischen Zwecken. Das Land sollte als unzuverlässiger Vertragspartner erscheinen. Indem eine Verbindung mit den westlichen Sanktionen hergestellt wurde, konnten die Regierungschefs der EU-Staaten diese im halbjährigen Rhythmus ohne größere Debatten verlängern. Jedoch setzte sich sukzessive die Erkenntnis durch, dass es die Ukraine war, die sich destruktiv verhielt. Zudem ließ sich schwerlich negieren, dass der Westen die Vertrauensbasis zerstört hat, die Moskau einen möglichen ersten Schritt erlaubt hätte.

Im Zuge wachsender Kritik aus den eigenen Reihen, dass die Russland-Sanktionen nicht nur wirkungslos, sondern auch schädlich seien, wurde die Verknüpfung mit dem Minsker Abkommen allmählich als Ballast empfunden. Ein Ausstieg aus dem Sanktionsregime wäre andererseits kaum zu rechtfertigen, wenn nicht von Moskau eine Gegenleistung verlangt würde. Eine Veränderung des Schwerpunkts westlicher Argumentation wurde erforderlich. Plötzlich galt Russland als kooperationswilliger Verhandlungspartner, mit dem sich eine Lösung für die Umsetzung von Minsk II finden lasse. Für den Westen öffnete sich endlich ein Weg, die Sanktionen ohne Gesichtsverlust zu beenden.  

Der Minsker Vertrag wird – seine Erfüllung vorausgesetzt – zum Behelf, sich elegant aus der Sanktionsspirale zu befreien. Zugleich muss aber eine Rehabilitierung Russlands verhindert werden. Es soll der Eindruck verbleiben, dass eine beharrliche Diplomatie des Westens Moskau zum Einlenken bewegt habe. Der russischen Führung wird als Plus ein gewisses Maß an Kooperationsfähigkeit bescheinigt, was als Seitenhieb gegen Donald Trump und Recep Tayyip Erdoğan verstanden werden kann.

Bezüglich der Ukraine wird eine klare Positionierung vermieden. Auf der einen Seite erhält Präsident Selenskij vom Westen für seine konstruktiven Schritte viel Lob, auf der anderen wird der Kritik aus Kreisen der früheren Regierung eine partielle Berechtigung zugestanden. Deren Ablehnung der "Steinmeier-Formel" liegt zwar nicht im westlichen Interesse an einer Lösung des Ostukraine-Konflikts. Da jene Kräfte aber jahrelang hofiert und ihre Argumente übernommen wurden, würde eine abrupte Kehrtwende die Glaubwürdigkeit des Westens aufs Spiel setzen.

Frank-Walter Steinmeier unterbreitete seinen Vorschlag bereits im Jahr 2016. Die russische Führung und die Vertreter der abtrünnigen Gebiete der Ostukraine unterstützten ihn, während die damalige Kiewer Regierung ihn zurückwies. Nachdem Selenskij ihn jetzt akzeptiert hat, werden hohe Erwartungen an die Verhandlungen im Normandie-Format gerichtet, die wohl in den nächsten Wochen beginnen werden. Sogar ein rasches Ergebnis erscheint möglich, zumal es nur noch einer Verständigung über Zeitplan und Modalitäten bedarf, worüber keine prinzipiellen Differenzen bestehen sollten.

Kommt es zu einer vertraglichen Übereinkunft, dann steht einer Beendigung der Sanktionen durch die EU nichts mehr im Wege. Der früheste Termin wäre Ende Dezember 2019, wenn die nächste turnusmäßige Verlängerung ansteht. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass die vollständige Umsetzung der zu erzielenden Vereinbarungen abgewartet wird, was im Verlauf des nächsten Jahres geschehen dürfte.

Derweil wird das russische Feindbild kaum aufgegeben werden. Die Regierungen mehrerer westlicher Nachbarn Russlands benötigen es für die eigene Agenda, dasselbe gilt für Kreise der NATO und der Rüstungsindustrie. Dennoch hat bereits jetzt eine Kräfteverschiebung stattgefunden, die auf weitere Schritte der Entspannung hoffen lässt. Die begonnene Rückkehr zu normaler wirtschaftlicher, kultureller und wissenschaftlicher Kooperation dürfte das Tauwetter zwischen der EU und Russland beschleunigen.

Es ist anzunehmen, dass die russische Führung den bislang praktizierten Deeskalationskurs fortsetzt. Die in den vergangenen Jahren gezeigte Bereitschaft, propagandistische Tiefschläge wegzustecken, stärkt die Erwartung, dass Moskau auch künftig besonnen agiert. Neben den Kontakten zur EU kommt der Normalisierung der Beziehungen zur Ukraine eine besondere Bedeutung zu. Sie würde nicht nur die Umsetzung von Minsk II befördern, sondern ebenso einer Verständigung in der Krimfrage dienlich sein. Mittelfristig steht als große Herausforderung die Revitalisierung der Ostukraine an, die nur bei enger Kooperation Russlands und der Ukraine zu bewältigen ist. 

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