Prof. Dr. Anton Latzo
(Teil 1 von 2)
Seit Ende des 1. Weltkrieges wurden auf beiden Seiten immer wieder Versuche unternommen, den Verlauf der internationalen Beziehungen auszunutzen, um aus der Veränderung des internationalen Kräfteverhältnisses einseitigen politischen Profit zu schlagen und eigene Ziele zu verwirklichen. In diesem Sinne wurde eine bestimmte Traditionslinie begründet und entwickelt. Die Geschichte beginnt auch in dieser Frage nicht erst 1989.
Historische Linien: Groß-Polen gegen (Sowjet)Russland
So war auch das 14-Punkte-Programm, das US-Präsident Woodrow Wilson der Pariser Friedenskonferenz (1919) vorlegte, von Widersprüchen gekennzeichnet. In Punkt 6 forderte Wilson zwar eine Lösung der Russland betreffenden Fragen, die dem Land die "völlige und unbehinderte Möglichkeit garantierte, eine unabhängige Entscheidung über seine eigene politische Entwicklung und seine nationale Politik zu treffen".
Der wahre Gehalt dieser Rhetorik zeigte sich erst in dem offiziellen Kommentar der US-Delegation zu diesem Punkt. Darin hieß es:
Die Hauptfrage besteht in Europa darin, ob man unter russischem Gebiet dieselben Gebiete zu verstehen hat, die vormals zum russischen Reich gehörten. Es ist klar, dass dies nicht der Fall ist, denn Punkt 13 verlangt die Schaffung eines unabhängigen Polen, ein Vorschlag, der die Wiederherstellung des gesamten Reichsgebietes ausschließt. Das, was für die Polen gilt, wird man gewiss auch für die Finnen, Litauer, Letten und möglicherweise auch für die Ukrainer gelten lassen müssen. (Zit. nach: Geschichte der Diplomatie, Erster Band/Teil 1, SWA-Verlag/Berlin 1948, S. 35)
Damit verwandelte sich Punkt 6 aus Wilsons 14-Punkte- Programm in ein Projekt zur Zergliederung Russlands, zur Verhinderung Sowjetrusslands und zur Zerschlagung einer aufkommenden politischen Konkurrenz und gesellschaftlichen Alternative! Als ein Instrument dazu und zur Schaffung einer langfristig wirksam werdenden antirussischen und antisowjetischen Kraft sollte ein mächtiges Polen dienen, das zugleich an die USA gebunden war.
Das Prinzip "Teile und Herrsche", das auch die nachfolgenden Entwicklungen in ganz Europa bestimmen sollte, kam nachdrücklich zum Vorschein. Sowohl in Bezug auf die Rolle, die Polen von den USA in Europa, als auch als Nachbarstaat Russlands zugeschrieben wurde.
Polen wurde zum Werkzeug im Kampf der damaligen Großmächte um Hegemonie und gegen die Sowjetunion eingesetzt. Antikommunismus und Russophobie waren schon damals das bevorzugte Mittel. Auch die französische Delegation der Friedenskonferenz sprach von der Gefahr des Bolschewismus, die Polen bedrohe. Sie forderte die Schaffung eines "Großpolen", womit man ein Gegengewicht sowohl zu Deutschaland als auch zu Sowjetrussland schaffen wollte. Frankreichs Regierungschef Georges Clemenceau erklärte offen:
Wenn wir von der Schaffung eines polnischen Staates sprechen, müssen wir im Auge behalten, dass dies nicht nur getan wurde, um eine der größten Ungerechtigkeiten der Geschichte gutzumachen. Man wollte auch eine Barriere zwischen Deutschland und Russland errichten. (Geschichte der Diplomatie …, S. 51)
Die USA haben auch in den folgenden Perioden des 20. Jahrhunderts die Republik Polen im Kampf gegen die Sowjetunion missbraucht. Dazu gehörte der polnisch-sowjetische Krieg (1920), als die Entente Polen gegen den Sowjetstaat ins Feld ziehen ließ. Anfang 1920 lancierte der polnische Staatschef Józef Pilsudski einen Plan, der vorsah, im Kampf gegen den Bolschewismus einen Bund aller an Russland angrenzenden Staaten, einschließlich Finnlands und des "antibolschewistischen Russlands" (Weißgardisten) mit Polen an der Spitze zu bilden. (Vgl.: Geschichte der sowjetischen Außenpolitik 1917-1945, Berlin 1969, S. 141)
Später hat Pilsudski die "Intermarium"-Initiative entwickelt, die Polen als Zentralstaat eines Bündnisses von Staaten von der Ostsee bis zur Adria beziehungsweise zum Schwarzen Meer vorsah. Damit sollte ein Ring um die Sowjetunion gebildet und verhindert werden, dass es zwischen den europäischen Staaten und der Sowjetunion zu politischen Übereinkommen kommt, die den Interessen der USA schaden könnten.
Das Intermarium-Konzept ist zwar bisher nie offizielle Politik der USA geworden. Die kapitalistischen Großmächte umschrieben ihr Vorgehen lieber mit "cordon sanitaire", den sie um die Sowjetunion legten. Doch wichtige Teile der US-Eliten unterstützten und unterstützen die Intermarium-Idee bis heute.
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Auch in den folgenden Jahren fand Pilsudskis Politik den Zuspruch der USA. 1943 wurde in New York das "Jozef Pilsudski Institut of Amerika for Research in the Modern History of Poland" gegründet, das das politische und geistige Potenzial der in den USA lebenden Polen zusammenführen und im Sinne Washingtons in Richtung Polen wirksam werden lassen sollte. Gegenwärtig leben in den USA beinahe 10 Millionen Polen oder Amerikaner polnischer Herkunft. Vor seiner Wahl versprach ihnen Präsident Donald Trump während eines Treffens 2016 in Chicago:
Wir engagieren uns sehr für die Sache eines starken Polens, wir engagieren uns sehr. Auch für die Sache eines starken Osteuropas als ein Bollwerk der Freiheit und Sicherheit.
Diese politische Ausrichtung hat auch die Tätigkeit von Stanislaw Mikolajczyk bestimmt, der erst Vizepremier der polnischen Londoner Exilregierung und dann bis 1947 Stellvertreter des polnischen Ministerpräsidenten war. Nach dem Scheitern seiner wesentlich von den USA inspirierten und unterstützten Pläne zur Verhinderung einer sozialistischen Entwicklung in Polen flüchtete er 1947 in die USA. Im Jahre 2000 wurden seine sterblichen Überreste nach Polen überführt und in Ehren beigesetzt.
Dieser Faden der Geschichte findet sich auch im Verhalten der USA zur polnischen Londoner Exilregierung und bei der Unterstützung ihrer Anhänger während der Kämpfe gegen die Entstehung eines sozialistischen Polens in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre. Er ist in Zusammenhang mi der Entstehung und dem Wirken der Gewerkschaft "Solidarnosc", die am 17. September 1980 offiziell unter der Führung von Lech Walesa gegründet wurde, erneut wirksam geworden.
Die USA reagierten geradezu lehrbuchartig gemäß ihrer seit drei Jahrzehnten in Gremien diskutierten Strategie eines bevorstehenden Aufstandes. Am 29. Dezember 1981 wurden Wirtschaftssanktionen sowohl gegenüber Polen als auch der Sowjetunion verhängt. Im Mai 1982 unterschrieb US-Präsident Ronald Reagan eine geheime Weisung (NSDD 32), die ausdrücklich die Verstärkung von verdeckten Operationen in den europäischen sozialistischen Staaten vorsah, vor allem in Polen.
In Polen wurde auch die Macht der Kirche eingesetzt. Zwischen Reagan und Papst Johannes Paul II. fanden direkte geheime Gespräche über den Beitrag der Kirche gegen die sozialistischen Länder statt. Reagans Politik beschreibt Peter Schweizer in seinem 2003 erschienen Buch "Kampf gegen kommunistische Systeme". In einer Rezension der FAZ heißt es, dass
Reagan mit Papst Johannes Paul II. ein für beide attraktives Feld geheimer Zusammenarbeit eröffnet hatte. Ihr Ziel war es, die polnische 'Solidarität' trotz des Kriegsrechts weiter zu stärken. Dazu beauftragte Reagan den in Geheimdiensten erfahrenen Sonderbotschafter Vernon Walters, den Papst fortlaufend auf der Grundlage der durch die amerikanische Aufklärung gewonnen Erkenntnisse über die Entwicklung in Polen und die Raketenrüstung der Sowjetunion zu unterrichten. Sybillinisch heißt es bei Schweizer, Walters habe dem Papst 'eine Kooperation zu Polen betreffenden Fragen' vorgeschlagen – und der Papst habe dem zugestimmt.
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US-Präsident Barack Obama bescheinigte später während seines Besuches in Polen, die Solidarnosc sei eine Kraft gewesen, die die "friedliche Revolution" eingeleitet und zum "Sturz der Diktaturen in der Region" geführt habe. Die USA haben besonders bei der Politisierung dieser "Gewerkschaft" große Unterstützung geleistet, die aber nicht von sozialen, sondern von geopolitischen und subversiven Motiven und von ihren politischen Ambitionen bestimmt wurde. Obama würdigte Polen, das zu einer "regionalen Führungsmacht" geworden sei. In diesem Sinne haben sich alle US-Präsidenten verhalten, von Reagan bis Trump. George Bush senior sagte ausdrücklich:
Wir unterstützen die Bewegung, die die Vorstellungskraft der Welt berührt hat.
Kompatible gesellschafts- und außenpolitische Konzepte
Von polnischer Seite erklärte Lech Walesa schon 1989 vor dem US-Kongress: "Die Vereinigten Staaten bedeuten bei uns Großzügigkeit und Opferbereitschaft. Das unabhängige Polen will ihr Freund und Partner sein." Die Außenpolitik der Regierungen Polens, sowohl die der jetzt regierenden Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) als auch die jetzigen Oppositionspartei Bürgerplattform (PO) wird in diesem Sinne gestaltet. Sie schafft günstige Ansatzpunkte für die außenpolitischen Optionen der USA.
Sowohl das Weltbild als auch die Außenpolitik dieser Parteien sind sehr stark historisch aufgeladen. Die Außenpolitik greift vor allem auf die nach 1918 entwickelten Denkmuster zurück und wird vom Streben nach einem "Großpolen" geprägt. Zur Begründung wird das Gedankengut der katholischen Kirche überproportional einbezogen. So wird sowohl die Sicht auf die eigene Nation als auch auf die Rolle und die Interessen Polens begründet. Eine realistische Sicht wird in vielen Fällen durch Subjektivismus verdrängt. Daran knüpft auch die Außenpolitik der USA bei der Entwicklung ihrer Zusammenarbeit mit der polnischen Regierung an, wenn sie Polen zum Beispiel eine angebliche Vorbildfunktion zuschreibt.
Ausdruck der Gemeinsamkeiten zwischen beiden Ländern und Demonstration der herausgehobenen Rolle der USA in der polnischen Außen- und Sicherheitspolitik ist die zwischen beiden Ländern bestehende bilaterale Strategische Partnerschaft. Diese unterstreicht den Vorrang des Bilateralismus im Verhältnis zwischen USA und Polen. Im Konzept beider Seiten ist diese Partnerschaft die wichtigste Garantie für Polen gegen die "Gefahr aus dem Osten". Sie dokumentiert, dass Polen den USA eine höhere Wertschätzung und ein größeres Vertrauen zukommen lässt als der NATO und den EU-Mächten.
Auch in diesem Punkt überschneiden sich die Ansichten des osteuropäischen Staates und der USA, die an einer starken und eigenständigen EU, die mit einer Stimme spricht, nicht interessiert sind.
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(Teil 2 widmet sich der aktuellen militärischen Kooperation zwischen Polen und den USA sowie dem Versuch, Polen bei der Energieversorgung Europas gegen Russland in Stellung zu bringen.)
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