von Prof. Dr. Anton Latzo
Geschichtliches
Seit der Gründung der Bundesrepublik ist Olaf Scholz der 9. Bundeskanzler. Davon waren fünf Mitglied der CDU und vier – einschließlich Scholz – der SPD. Dazu kommt noch die Rolle Kurt Schumachers bei der Remilitarisierung der BRD! Die SPD war und ist also aktiver Gestalter dieser BRD und ihrer Politik! Aber in wessen Interesse?
Der bekannte französische Historiker Alfred Grosser kam zu dem Ergebnis: "Die Bundesrepublik wurde 1949 als eine Zwillingsschwester des Atlantikpaktes geboren. Vater war der kalte Krieg."
Konrad Adenauer hat das in seinen Erinnerungen bestätigt: "Ich war der Auffassung, der Gegensatz zwischen Sowjetrussland und den freien Völkern werde ständig wachsen. Es war auch für Amerika lebensnotwendig, dass ein starkes Westeuropa entstand. Hierzu war Deutschland unentbehrlich. Es lag im Interesse der Vereinigten Staaten, dass Deutschland wieder stark würde. Das waren die Leitgedanken meiner Politik."
Das war auch der politische Hintergrund für Willy Brandt und Helmut Schmidt, und ist es auch für Gerhard Schröder, und auch jetzt für Olaf Scholz geblieben.
Natürlich gibt es auch das ökonomische und politische Grundinteresse des Monopolkapitals. Das bestimmte zugleich die Motivation für die Gründung der Bundeswehr und für die Militärpolitik aller bundesdeutschen Regierungen. In diesem Sinne wurde diese Republik aufgebaut, und wird sie bis heute eingesetzt.
Aber wichtig ist auch, was Konrad Adenauer während eines Pressegesprächs am 4. Januar 1952 verriet: Er sagte, dass er schon vor der Gründung der BRD Nazigeneral Speidel beauftragt habe, "ein Memorandum auszuarbeiten über die vergleichsweise Zusammensetzung der europäischen Armeen und darüber, was die Verbündeten eines schönen Tages von uns fordern könnten." Es war also nicht so, dass erst Deutschland gespalten wurde und dann kamen die alten Kräfte hervor. Der Westen wurde abgespalten, damit die angelsächsischen Monopole gemeinsam mit den deutschen Militärs dafür sorgen konnten, dass die alten Kräfte wieder hervorkamen.
Daraus erwuchs der sozialökonomische, politische und traditionelle geistige und institutionelle Rahmen, in dem sich alle Bundeskanzler der BRD zu bewegen hatten. Es entstand die BRD. Die Remilitarisierung wurde verwirklicht... Die SPD und die CDU waren entweder gemeinsam in der Regierung, oder sie waren alternativ die eine in der Regierung (Bundeskanzler) und die andere stärkste Oppositionskraft im Bundestag. Nichts konnte ohne sie geschehen!
Schon 1969 verkündete Kanzler Willy Brandt das Projekt "Mehr Demokratie wagen", was offensichtlich zur aktuellen Losung "Mehr Fortschritt wagen" inspiriert hat. Auch damals sollte damit zum Ausdruck gebracht werden, dass man eine "fortschrittliche Gesellschaft" gestalten wolle. Und mit welchem Ergebnis? Die Brandt-Regierung hat zwar die Ostpolitik verändert und Verhandlungen ermöglicht, die bis zur Helsinki-Konferenz geführt haben. Er hat aber dabei nicht das Wesen und die Ziele der NATO-gebundenen Außenpolitik der BRD verändert. Und innenpolitisch gab es zum Beispiel die Berufsverbote!
Bundeskanzler Helmut Schmidt war einer der Initiatoren der damaligen Rüstungsrunde und Verfechter des Doppelbeschlusses der NATO über die Stationierung nuklearer Mittelstreckenwaffen in Westeuropa, darunter auf dem Territorium der BRD. Er war Freund von Henry Kissinger.
Mit der Aggression gegen Jugoslawien zeichneten Gerhard Schröder (SPD) und Joschka Fischer (Die Grünen) als Verantwortliche für die erste militärische Intervention der BRD nach dem Zweiten Weltkrieg. Bekanntlich führte sie zur Zerschlagung des Staates Jugoslawien. Gerhard Schröder war auch derjenige, der öffentlich dazu aufforderte, mit der "Tabuisierung des Militärischen" aufzuhören!
Außerdem: seit 1969, als Willy Brandt das Amt übernahm, waren für die Zeit von mehr als 50 Jahren alle Außenminister der BRD von der SPD, der FDP und den Grünen, also von den jetzigen Koalitionspartnern, gestellt worden.
Die jetzige Regierung schreibt die Außenpolitik fort, die sie über ein halbes Jahrhundert – auch gemeinsam mit der CDU - vertreten hat!
Erneut gegen "das System"
Nach der Niederlage des Sozialismus in Europa und nach der Zerschlagung der UdSSR glaubten die USA am Ziel zu sein, und Helmut Kohl verkündete den endgültigen Sieg des Kapitals sowie das Ende der Geschichte, also der historischen Entwicklung.
Doch China und auch Russland entwickeln sich trotz derartiger Kalkulationen zu einer internationalen Kraft, die Frieden braucht, um Gegenwart und Zukunft entsprechend den Erwartungen ihrer Völker gestalten zu können, und die zunehmend in der Lage ist, Frieden zu schaffen.
Das ist, kurz gefasst, der historische und gesellschaftspolitische Hintergrund der "System"-Formulierung im Koalitionsvertrag. Es ist in mancher Hinsicht eine richtige Feststellung, aber sie begründet nicht eine Politik der friedlichen Koexistenz, sondern ist als Kampfansage formuliert, und im Sinne einer gewollten Konfrontation zu einer der wichtigsten Begründungen der Außenpolitik erhoben.
Das ist ein Grund, warum im Koalitionsvertrag kein geschlossenes Konzept für eine Friedenspolitik zu erkennen ist, die gleichberechtigte Zusammenarbeit der Staaten, Abrüstung und Sicherheit sowie eine friedliche Entwicklung der Völker gewährleistet. Man sollte sich schon fragen, warum es im Koalitionsvertrag von 2018 noch hieß, dass die deutsche Außenpolitik "dem Frieden verpflichtet und fest in den Vereinten Nationen und der EU verankert" – und diese Aussage im Vertrag von 2021 fehlt!? Vor längerer Zeit sprach man auch von der EU als einer "Friedensunion"!
Im Programm der neuen Regierung ist eine auf Fortschritt ausgerichtete gesellschafts- und sozialpolitische Komponente, wie sie in manchen SPD-Dokumenten noch als Restposten anzutreffen ist, nicht mehr zu finden. Für die Außenpolitik gelten die wirtschaftlichen und politischen Interessen eines Deutschlands, das "immer mehr Verantwortung" anstrebt, das bereit ist, dieses Ziel auch mit militärischen Mitteln durchzusetzen. Und da es allein nicht zu verwirklichen ist, braucht man Verbündete, besonders die USA.
So ist die aktuelle SPD-Führung bei den zitierten Überlegungen von Adenauer angekommen, aber auf heute angepasst! Sozialdemokratische Ideale von Freiheit, Friede und Gleichberechtigung sind auf der Strecke geblieben!
Den Anhängern der von den USA übernommenen "System"-Formel geht es nicht darum, sich auf die Grundprozesse der Entwicklung der Gesellschaft zu konzentrieren, um die Politik auf die Förderung progressiver Prozesse einzustellen, sondern um Bedingungen zu schaffen, die ihre auf Dominanz und Profit ausgerichtete Strategie rechtfertigen. Dafür wird mit der "System"-Formel eine Argumentationsgrundlage geschaffen, die es ermöglichen soll, alle "demokratischen Kräfte" – früher hieß es "willige" Kräfte – gegen die "chinesische Gefahr" und die "russische Autokratie" mobilisieren zu können. "Im internationalen System gilt es, unsere Werte entschlossen mit demokratischen Partnern zu verteidigen", heißt es im Koalitionsvertrag. Es geht also nicht um Frieden und gleichberechtigte Zusammenarbeit, sondern um "unsere Werte".
Dabei ist aber bestimmt nicht an die Werte der Sozialdemokratie gedacht, wie sie von Bebel und vielen anderen entwickelt wurden. Und auf dieser Grundlage will man "notwendige Modernisierung" durchsetzen? Es stellt sich die Frage: Modernisierung in wessen Interesse? Es kann nur von Vorteil sein, daran zu denken, dass es Modernisierung sein soll, um sich gegen China und Russland durchsetzen zu können!
Die aktuelle SPD-Führung geht also wieder ein Stück weiter beim Aufgeben der eigenen Identitätsmerkmale und sogar beim Verzicht auf wesentliche Bestandteile der Außenpolitik von Willy Brandt. Diese Formel ist somit zugleich Ausdruck der sich vertiefenden Krise der Sozialdemokratie, die auf dem besten Wege ist, ihre eigene ideologische Legitimität und außenpolitische Relevanz weiter zu verlieren.
Formierung zu einer außen- und militärpolitisch schlagkräftigen, militanten Macht
Das ist die Hauptrichtung, in der die Beziehungen zu den USA sowie die NATO- und auch die EU-Politik der Koalitionsregierung ausgerichtet sind.
Ausgangspunkt für die Regierung ist dabei die "globalen Verantwortung" Deutschlands als "viertgrößter Volkswirtschaft der Welt" bei der "Verteidigung unserer Werte" durch die "Zusammenarbeit mit unseren demokratischen Partnern".
Davon ausgehend sieht die BRD im "transatlantischen Bündnis", also in den Beziehungen zu den USA, den "zentralen Pfeiler" und ist "die NATO unverzichtbarer Teil unserer Sicherheit".
Damit ist der Platz der BRD in den internationalen Beziehungen eindeutig bestimmt. Nicht Frieden und Zusammenarbeit stehen im Mittelpunkt, sondern Verteidigung "unserer Werte". Es geht also nicht um gleichberechtigte internationale Zusammenarbeit auf der Grundlage des allgemein-demokratischen Völkerrechts, sondern im Bündnis mit den "demokratischen Partnern", zu denen ja bekanntlich Russland und China nicht gezählt werden, was man eigenmächtig, auf der Grundlage eigener Stärke bestimmt. Das lässt mehr Konfrontation als Kooperation erwarten!
Dafür sollen nicht nur die politischen und militärischen Potenziale des Staates eingesetzt werden. Man will auch die "zivilgesellschaftlichen Akteure stärken", das heißt auch illegale Mittel und nicht kontrollierbare Kräfte einsetzen und eine Politik der Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Länder verfolgen. Zu welchen Ergebnissen das führt, kann man nicht nur am Beispiel der Ukraine, Georgiens, Moldawiens, Syriens und Afghanistans sehen, sondern auch an der Lage in den osteuropäischen Mitgliedsstaaten der EU ablesen!
Da es dabei in erster Linie "um Systemwettbewerb mit autoritär regierten Staaten" geht, muss "eine strategische Solidarität mit unseren demokratischen Partnern" hergestellt bzw. gepflegt werden. Wir erleben eine Wiederkehr der Einteilung in "Gut und Böse"! Das legitimiert nicht nur wirtschaftliche Sanktionen, sondern ebenso subversive Aktivitäten und auch militärische Maßnahmen wie sie gegenwärtig im Schwarzen Meer und Südostasien durchgeführt werden.
Diese Position erklärt auch, warum Fragen der Abrüstung, des Abzugs der amerikanischen Atomwaffen aus Deutschland und Europa, Fragen der kollektiven Sicherheit, der Auswertung des Helsinki-Prozesses im Koalitionsvertrag und damit auch in der Außenpolitik der kommenden Jahre nicht zum außenpolitischen Aktionsfeld der BRD gehören werden.
Mit der Anschaffung bewaffneter Drohnen sowie atomwaffenfähiger Kampfflugzeuge als Ersatz für die Bundeswehr-Tornados wird die nukleare Teilhabe zementiert. Sie ist keine Sicherheitsgarantie, sondern soll die Wirkung der Abschreckungsstrategie potenzieren. Es wird aber in der Gesellschaft zu oft übersehen, dass sie auch die Möglichkeit eines Krieges zumindest offen hält.
In diesem Sinne soll auch die "strategische Souveränität der Europäischen Union" erhöht werden, "indem wir unsere Außen-, Sicherheits-, Handels- und Entwicklungspolitik wertebasiert und als Basis gemeinsamer europäischer Interessen ausrichten." Die Einstimmigkeitsklausel soll beseitigt und durch "qualifizierte Mehrheiten" ersetzt werden. So will man den "Mechanismus entwickeln, um auch die kleinen Mitgliedsstaaten auf diesem Wege angemessen zu beteiligen." Im Klartext heißt das: die eigene Dominanz ausnutzen, um auf die anderen Mitgliedsstaaten Druck auszuüben, damit diese eine Politik ermöglichen, die nicht ihren nationalen Interessen entspricht. Es geht darum, den Willen der Mächtigen – einschließlich und zunehmend auch ihre militärischen Ziele - ohne großen Widerstand als Konzept der Union durchzusetzen, um so die Dominanz Deutschlands als die ökonomisch stärkste Macht innerhalb der EU zu verfestigen und sie international wirksamer zu Geltung zu bringen.
Fazit
Der Koalitionsvertrag weist insgesamt eine Verstärkung der militanten, aggressiven Elemente in der Außenpolitik der BRD aus. Auf der Grundlage der bisherigen Bündnisse soll die Dominanz der BRD in der EU gefestigt und ihr internationales Gewicht erhöht werden. Dabei richtet sich die erhöhte Militanz vor allem gegen Russland und China. Die Losung "Mehr Fortschritt wagen" soll von dieser Entwicklung ablenken. Frieden und Sicherheit der Völker auf der Grundlage der allgemein-demokratischen Völkerrechts, der UNO-Charta gehören nicht zu den Prioritäten der zu erwartenden deutschen Außenpolitik!
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