von Anton Latzo
Nach seiner Wahl hat der neue Präsident der USA davon gesprochen, dass "Amerika zurück" sei, dass "Diplomatie", also das Mittel zur Durchsetzung von Politik, zurück ist – aber nur wenige fragen nach dem Inhalt der Politik, die er mit Diplomatie durchsetzen will. Gleichzeitig bezichtigt er den Präsidenten Russlands, ein "seelenloser Killer" zu sein, und verleumdet damit das ganze russische Volk. Und alle Welt sieht sein Lächeln, hinterfragt aber noch immer nicht, ob es eine Kriegs- oder eine Friedensdiplomatie ist, die die USA und ihre Verbündeten betreiben!
Das ist aber nur die sichtbare Seite des desolaten, aber umso gefährlicheren Zustands der internationalen Beziehungen der Gegenwart. Die USA sind zwar noch immer die Hauptkraft der kapitalistischen Welt. Auch die Abhängigkeit der meisten Staaten der Welt von den USA ist noch nicht beseitigt. Aber die Zeit des Schwindens der absoluten Dominanz der USA ist trotzdem angebrochen. Das macht sie jedoch nicht ungefährlicher, sondern unberechenbarer, weil es in diesem System große Widersprüche und auch auseinanderstrebende Interessen und Tendenzen gibt, die die USA auf Dauer nicht unter Kontrolle halten und beherrschen können.
"Weicher Imperialismus"
In dieser Situation wird durch die USA und ihre Verbündeten in NATO und EU auf eine Politik des "gelenkten Chaos" gesetzt, die nicht nur aus indirekter Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten besteht. Sie knüpft an Schwachstellen der einzelnen Länder an, verstärkt die kontinuierliche und latente Einflussnahme auf deren Innen- und Außenpolitik und organisiert auf dieser Grundlage eine krisenhafte Lage, die bis zu einer Destabilisierung des politischen Systems der Länder fortgesetzt wird. Mit einer derartigen "weichen" Einflussnahme, die auch noch als Hilfe für demokratische Verhältnisse präsentiert wird, hofft man, hegemoniale Erfolge bei minimalem Einsatz von Mitteln und Aufrechterhaltung der Illusion einer Nichtbeteiligung der ausländischen Interventen an der bewusst angefachten Instabilität zu erzielen. Dieses Herangehen dürfte für längere Zeit die Außenpolitik der USA bestimmen.
Gleichzeitig sind die ("partnerschaftlichen") Konkurrenten der USA inzwischen so stark geworden, dass ihr Streben nach größerer Unabhängigkeit und mehr Einfluss auf die Weltpolitik zunimmt. Das müssen sie aber entgegen dem Willen der USA realisieren. Die scheidende Bundeskanzlerin spricht immer wieder von eigener Wertepolitik, was sie aber nicht daran hindert, Sanktionen gegen jene auszusprechen, die nicht den Vorstellungen der USA, Deutschlands und seiner Verbündeten folgen. Ihre Außenminister stützen diese Politik und betonen mit zunehmender Hartnäckigkeit, dass Deutschland darum ringen muss, nicht weiter "an der Seitenlinie" zu stehen, dass der Einsatz von Militär erneut als legitimes Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele betrachtet wird. Der englische Premierminister ringt nach dem Exit darum, das Commonwealth zu erhalten. Frankreich ringt um seine ehemaligen Kolonien als sein Einflussgebiet. Aus der ihnen eigenen Gleichheit der ökonomischen Basis und daraus erwachsender Interessen ergibt sich nicht automatisch, dass ihre politischen Ziele auch identisch sein müssen! Unterschiedliche Interessen untereinander wandeln sich zunehmend zu entgegengesetzten Interessen.
Aber zusammen sehen sie in China und Russland ihren gemeinsamen Gegner bzw. Feind, weil diese der Verwirklichung der imperialistischen Ziele entgegenstehen und ihre Märkte und Reichtümer verlockende Anziehungskraft auf die Profitgier des Kapitals ausüben, weil sie gesellschaftliche und internationale Hindernisse für eine erneute Neuaufteilung der Welt darstellen. Aus der Unfähigkeit der USA und ihrer Verbündeten, ihre inneren und äußeren Widersprüche auf politisch-diplomatischem Wege zu lösen, entsteht der Drang, derartige Widersprüche mit Drohungen, Erpressung und Gewalt zu überwinden. Sanktionen, mit denen auf der Gegenseite innere Schwierigkeiten erzeugt werden sollen und die darauf ausgerichtet sind, China und Russland so lange zu zermürben, bis sie kapitulieren, erweisen sich immer mehr als ein untauglicher und zunehmend kontraproduktiver Versuch.
"Das neue Konzert der Mächte"
In dieser Situation tauchen zunehmend "Szenarien" auf, die zwar mit realistischer Politik wenig oder gar nichts zu tun haben, aber umso mehr für die Vernebelung des Denkens der Menschen und die Verschleierung der Politik geeignet sind. Der einflussreiche George Friedman legte zum Beispiel ein Buch mit dem Titel "Sturm vor der Ruhe" vor, in dem er "die sehr reale, kommende Krise der 2020er- bis 2030er erklären und letztlich aufzeigen (will), wie die Vereinigten Staaten mit dem Leid und dem Durcheinander fertig werden und am Ende stärker und dynamischer daraus hervorgehen. (…) Ich sage eine extrem schwierige Periode vorher, zwischen dem Heute und dem Beginn der nächsten Phase der amerikanischen Geschichte in den 2030er-Jahren und der Periode von Zuversicht und Wohlstand, die darauf folgen wird". Offensichtlich sieht er die Zukunft in den Imperien. Denn aus der Geschichte Roms und Persiens schlussfolgert er vielsagend: "Die Imperien werden von Eroberern zu Aufsehern des Wachstums, des Handels und Friedens, der sonst nicht existiert hätte. Sie sind zudem ein Instrument des kulturellen Transfers und der kulturellen Evolution." Nach diesem Hohelied muss man sich doch wünschen, dass das amerikanische Imperium Wirklichkeit bleibt, oder man muss gegen alle kämpfen, die dagegen sind! Bemerkenswert ist seine Erkenntnis, dass erfolgreiche Imperien so wenig militärische Gewalt wie möglich einsetzen und die regionalen Spannungen zwischen Nationen nutzen, um ihre Interessen zu sichern. Da fallen einem doch auch schon Osteuropa, Zentralasien, das Südchinesische Meer, der Nahe Osten und auch Afrika und sogar die EU ein!
In einem Beitrag in Foreign Affairs (23. März 2021) plädieren Charles Kupchan und Richard Haass in diesem Sinne für "Das neue Konzert der Mächte". Lösungsmöglichkeiten für die Probleme in der Welt böte "ein globales Konzert der Großmächte", das neben der UNO und frei von völkerrechtlichen Bindungen agiert. Sie greifen nicht auf Rom und Persien zurück. Man begnügt sich mit den Erfahrungen des 19. Jahrhunderts! Konkret beziehen sie sich auf die Erfahrungen des Wiener Kongresses von 1815. "Wie die Geschichte des Europakonzerts des 19. Jahrhunderts gezeigt hat, kann eine Lenkungsgruppe den geopolitischen und ideologischen Wettbewerb bremsen, der mit Multipolarität einhergeht." Es geht ihnen dabei nicht um multilaterale und gleichberechtigte Zusammenarbeit für Frieden, Sicherheit und Wohlstand der Völker, sondern darum, zu erreichen, dass ein solches "Konzert" die "geopolitisch einflussreichen und mächtigen Staaten an den Tisch bringt, die dort sein müssen, unabhängig von ihrem Regimetyp". Mit einem solchen "Konzert" könnten "verbindliche und durchsetzbare Verfahren und Vereinbarungen vermieden werden, wodurch es sich deutlich vom UN-Sicherheitsrat unterscheidet"!
Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist der Hinweis darauf, dass das "Konzert" ein "beratendes und kein Entscheidungsgremium" wäre. Das sind sonderbare Vorstellungen von Multipolarität. Ein enger Kreis der Großen (China, die EU, Indien, Japan, Russland und die USA), die bestimmen, was die anderen Staaten der Welt zu tun haben – und das nach den Regeln, die diese Großen vorgeben, und bei Ausschaltung des UNO-Sicherheitsrates. Mit der Verbindlichkeit solcher Regeln nehmen sie es auch nicht zu streng, denn: "Die Mitglieder (dieser Lenkungsgruppe – A. L.) behalten sich das Recht vor, allein oder durch Koalitionen einseitige Maßnahmen zu ergreifen, wenn sie der Ansicht sind, dass ihre vitalen Interessen auf dem Spiel stehen."
Angesichts der "aktuellen internationalen Architektur" sei ein institutionalisiertes globales Konzert mit Hauptquartier und Sekretariat die vielversprechendste Alternative, so die Autoren. "Länder, die nicht am Konzert teilnehmen, könnten weiterhin ihren Einfluss auf die Vereinten Nationen und andere bestehende internationale Foren ausüben."
Befreit man diese Vorstellungen von ihrer demagogischen Hülle, so bleibt als Tatsache, dass eine neue Struktur geschaffen werden soll, die eine Großmachtpolitik zementieren soll, in der und durch die die USA ihre Hegemonie retten könnten. Die UNO und das demokratische, kodifizierte Völkerrecht sollen zu einem nur noch lästigen Überbleibsel degradiert werden. Die Selbständigkeit souveräner und gleichberechtigter Staaten wäre nur noch Geschichte, der weltweite Widerspruch zwischen Arm und Reich soll verewigt werden, und ein Schritt in Richtung einer "Weltregierung" wäre auch noch getan.
Die Alternative: Friedliche Koexistenz
Aus diesen Gründen wäre es verfehlt, der Präsentation des neuen Präsidenten der USA, Joe Biden, als altersschwacher Akteur zu folgen. Man sollte auch die Erwartungen im Zusammenhang mit der Frage des möglichen Übergangs der Entscheidungskompetenz an Vizepräsidentin Kamala Harris nicht überstrapazieren. Die wirklichen Akteure, die ihre Herrschaft verewigen wollen, verbergen sich hinter Bidens Lächeln. Denn das Kapital kämpft für die Neuaufteilung der Welt nicht etwa aus besonderer Bosheit Einzelner oder von Gruppen. Die erreichte Stufe der Konzentration zwingt dazu, diesen Weg zu beschreiten, wenn die Profite und die Existenz gesichert werden sollen. Es geht darum, die Macht zu sichern, damit man das Sagen bewahren und die wirtschaftlichen und geostrategischen Ziele bei der Gestaltung des großen Schachbretts (Zbigniew Brzeziński ) durchsetzen kann. Solche "Vorschläge" verkörpern die Sichtweisen mächtigster und einflussreicher Kreise der US-amerikanischen Gesellschaft im Ringen um ein System dauerhafter amerikanischer Vorherrschaft, auch wenn sie es mit "Multipolarität" oder "Multilateralität" umhüllen. Die anderen Großmächte sollen eingebunden werden, um die überwiegende Mehrheit der Staaten ausbeuten und "demokratisch" unter Kontrolle halten zu können.
Die zitierten Positionen sind Ausdruck einer Strategieforschung in den USA, die, aus der Defensive heraus, das alte Weltherrschaftsziel unter den neuen Bedingungen erreichbar machen soll. Den USA und ihren Verbündeten geht es nicht um gerechte Beziehungen zwischen den Staaten, nicht um die friedliche Zukunft der Menschheit oder ihre Entwicklung, sondern um das Wohlergehen und die Zukunft des Kapitals. Manipulation und Kontrolle der Menschen und der Völker, der Staaten und Regionen sind eine Voraussetzung für die Durchsetzung ihrer Pläne.
Die friedliche Alternative dazu besteht in der Suche nach einer neuen Weltordnung auf der Grundlage der Durchsetzung der Politik der friedlichen Koexistenz.
Mehr zum Thema – Neuer Kalter Krieg: Unkontrollierter Kampf alle gegen alle – und dann?