Die Nachricht kam nicht überraschend, doch das Ausmaß ihres politischen Gewichts wird erst allmählich sichtbar. Am 12. Mai erklärte das österreichische Verteidigungsministerium vor dem Landesverteidigungsausschuss des Nationalrats seine offizielle Unterstützung für die Pläne zur Schaffung einer Europäischen Verteidigungsunion. Damit bekennt sich die Alpenrepublik zu einer sicherheitspolitischen Neuorientierung, die mit der jahrzehntelang kultivierten Rolle des neutralen Vermittlers kaum noch in Einklang zu bringen ist.
Dass Europa militärisch aufrüstet, ist keine abstrakte Vision mehr. Frankreich und Deutschland planen gemeinsame Rüstungsprojekte, Polen erhöht seine Verteidigungsausgaben massiv, und mit der Ukraine, die zunehmend in EU-Strukturen eingebunden wird, ergibt sich eine Frontstellung, die europäische Sicherheitsüberlegungen grundlegend verändert.
Was in offiziellen Verlautbarungen als administrative oder gar technische Entscheidung dargestellt wird, markiert in Wahrheit einen historischen Einschnitt. Erstmals beteiligt sich Österreich nicht nur rhetorisch, sondern institutionell an einem Projekt, das die militärische Integration Europas vorantreiben soll. Der Schritt bedeutet eine faktische Abkehr von jenem Neutralitätsverständnis, das seit dem Staatsvertrag von 1955 als identitätsstiftendes Fundament der Zweiten Republik galt.
Die Tragweite des Schwenks ist kaum zu unterschätzen: Es geht nicht nur um eine Anpassung an veränderte geopolitische Rahmenbedingungen, sondern um eine bewusste Positionierung an der Seite eines sich formierenden europäischen Verteidigungskerns – eng abgestimmt mit den sicherheitsstrategischen Interessen Frankreichs, Deutschlands und zunehmend auch der NATO. Damit verändert sich das sicherheitspolitische Koordinatensystem Österreichs grundlegend.
Kritiker sprechen von einer schleichenden Abkehr von der immerwährenden Neutralität. Tatsächlich wirkt die aktuelle Entscheidung Wiens, sich formell an der EU-Verteidigungsunion zu beteiligen, wie der Kulminationspunkt einer Serie gezielter Schritte: Teilnahme an EU-Battlegroups, Engagement in PESCO-Strukturen, intensive bilaterale Kooperationen mit NATO-Staaten. Nun folgt die nächste Eskalationsstufe – sichtbar, offen, kaum mehr diplomatisch kaschiert.
Gerade der Zeitpunkt wirft Fragen auf: Während Europa sich zunehmend von den Vereinigten Staaten unter Donald Trump II entfremdet, bemüht sich Brüssel darum, militärisch eigenständiger zu werden – und instrumentalisiert dabei Länder wie Österreich, die bislang auf Ausgleich und Zurückhaltung gesetzt hatten. Die Lage in der Ukraine und im Nahen Osten dient hier weniger als reale Bedrohung denn als argumentative Folie, mit der innenpolitische Kurswechsel legitimiert werden.
Besonders scharfe Kritik kommt von Markus C. Kerber, Professor für öffentliches Recht an der TU Berlin und langjähriger Beobachter europäischer Integrationsprozesse. Kerber wirft der EU-Kommission Rechtsbruch vor. Laut Artikel 346 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union seien Verteidigungsfragen ausdrücklich in der nationalen Zuständigkeit verankert. Was Brüssel derzeit plane, gehe weit über die vertraglich vorgesehene Zusammenarbeit hinaus.
Die EU-Kommission, so Kerber, nutze gezielt Krisen aus – ob Pandemie oder Krieg – um ihre Macht zu erweitern.
In Wien drängen jene Akteure nach vorne, die Neutralität nicht als außenpolitischen Gewinn, sondern als Hindernis begreifen – und die stattdessen eine sicherheitspolitische Anbindung an EU-Strukturen bevorzugen, die sich zunehmend gegen Russland ausrichten. Was als "europäische Solidarität" etikettiert wird, bedeutet in der Praxis eine schrittweise Entfremdung von der bisherigen Vermittlerrolle, die Österreich historisch ausgezeichnet hat.
Dass das Verteidigungsministerium sich nun explizit zu einer "gemeinsamen Verteidigungslinie" bekennt, bedeutet einen tiefgreifenden Bruch – mit Traditionen, aber auch mit geostrategischer Nüchternheit. Der Schulterschluss mit Brüssel verengt die außenpolitische Handlungsfreiheit, schwächt Wiens Rolle als neutraler Verhandlungspartner und droht das Land in Blocklogiken hineinzuziehen, die einer multipolaren Weltordnung längst nicht mehr gerecht werden.
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