Die in Europa immer weiter steigenden Großhandelspreise für Gas und Strom bringen derzeit Versorger und Endkunden in Not. So auch Österreichs größten Energieversorger Wien Energie. Er ist für rund zwei der insgesamt fast neun Millionen Einwohner der Alpenrepublik sowie für Tausende von Gewerbebetrieben zuständig. "Wien Energie ist über das Wochenende an uns herangetreten mit der Bitte, dass wir uns dringend treffen, weil sie in eine finanzielle Notlage geraten sind", erklärte Österreichs Finanzminister Magnus Brunner (ÖVP) am Sonntagabend in der ORF-Sendung "ZIB2". Der Wiener Energieversorger brauche "dringend Unterstützung".
Brisanter Hintergrund, aber wenig verwunderlich: Wien Energie soll einzig durch die Strompreisverteuerung auf dem europäischen Strommarkt in Zahlungsschwierigkeiten geraten sein, denn auch dieser größte Energieversorger Österreichs kauft Strom im Energie-Großhandel ein. Dort treibt der als Folge der europäischen Sanktionspolitik gegen Russland immer noch stark steigende Gaspreis sämtliche Preise für Energieträger in Rekordhöhe. Schuld daran ist das sogenannte Merit-Order-Prinzip, wonach der momentane Preis für alle Energieträger zur Stromerzeugung durch den teuersten Energieträger im Zeitfenster der Erzeugung bestimmt wird, um den aktuellen Bedarf zu decken. Auch der Preis für den in diesem Zeitfenster aus Wasser- oder Windkraft erzeugten Strom wird dann nach dem Gaspreis berechnet, der zur Deckung der momentanen Spitzenlast benötigt wird.
Laut Brunner müsse man nun klären, was die Stadt Wien als Eigentümer zur Rettung von Wien Energie beitragen könne und was dann dafür von der Bundesregierung erwartet wird. "Wir kennen die genauen Zahlen nicht", erklärte der Finanzminister. "Die Versorgungssicherheit ist gegeben, aber es geht um die Liquidität in den nächsten Tagen und Wochen." Österreichs Regierung hatte am Sonntagabend kurzfristig zu einem Krisentreffen ins Kanzleramt geladen, an dem neben Brunner unter anderem auch Michael Strebl als Leiter von Wien Energie und der österreichische Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) teilnahmen.
Wien Energie selbst dementierte jegliche Medienberichte, wonach der Energieversorger zahlungsunfähig sei. "Nein, Wien Energie ist nicht insolvent", hieß es auf Anfrage der Nachrichtenagentur APA: "Wien Energie und die Wiener Stadtwerke sind solide, wirtschaftlich gesunde Unternehmen mit bester Bonität." Um die Versorgung der Kunden sicherzustellen, führe das Unternehmen Handelsgeschäfte an Energiebörsen durch. Dort aber müsse Wien Energie – wie alle Börsenteilnehmer – Sicherheitsleistungen hinterlegen. "Aufgrund des am Freitag abermals europaweit explodierten Strompreises steigen diese erforderlichen Sicherheitsleistungen unvorhergesehen an", erklärte das Unternehmen.
Daher gestaltet sich die Realität für den österreichischen Energieversorger offenbar keineswegs rosig. Denn wie die österreichische Tageszeitung Heute unter Berufung auf Regierungskreise berichtet, musste Strebl während der Krisensitzung am Sonntagabend auf Druck der Anwesenden dann doch eingestehen, dass Wien Energie aufgrund der immensen Teuerungen am Strommarkt derzeit in heftige Turbulenzen schlittert. Zwischen 1,7 und 1,8 Milliarden Euro müsse der Energieversorger Anfang der Woche als Sicherheit an der Energiebörse hinterlegen, hieß es in Medienberichten. Die Summe könne das Unternehmen allein nicht mehr aufbringen.
Dabei soll die Stadt Wien dem angeschlagenen Energieversorger laut einem Bericht der Kronen Zeitung in den vergangenen Wochen bereits mit einer milliardenschweren Garantie ausgeholfen haben. Da jedoch nun auch die österreichische Hauptstadt finanziell an ihre Grenzen komme, braucht man jetzt Sicherheiten von der Bundesregierung. Andernfalls droht Wien Energie die Pleite, was katastrophale Folgen hätte: Zwei Millionen österreichische Energiekunden würden im Winter ohne Energieanbieter dastehen, Kraftwerke stünden ohne Energieträger still, was wiederum verheerende Auswirkungen auf das bereits jetzt oft instabile Stromnetz hätte.
Denn es sind nicht viele weitere Faktoren nötig, um das empfindliche System zum kompletten Absturz zu bringen. Stets, auch in Krisenzeiten, muss das europäische Stromnetz ausglichen sein. Kann dafür nicht die Netzfrequenz halbwegs konstant bei 50 Hertz stabilisiert werden, drohen Kaskaden von automatischen Abschaltungen und Stromausfälle bei den Endverbrauchern. Bei einer zu starken Abweichungen der Netzfrequenz vom Idealwert 50 Hertz droht sogar der Zusammenbruch der Stromversorgung – ein Blackout.
Sobald nämlich bei einem Unterangebot an Elektroenergieleistung ein Wert von 47,5 Hertz Netzfrequenz unterschritten wird, würden sämtliche Kraftwerke damit beginnen, sich selbstständig abzuschalten – und zwar europaweit. Ein schnelles Wiederhochfahren eines solch komplexen kontinentalen Systems ist dann nicht mehr innerhalb von Minuten, Stunden oder gar Tagen möglich. Europa wäre zurück in der Steinzeit.
Zwar reicht ein kurzzeitiger Versorgungsausfall eines oder weniger österreichischer Kraftwerke nicht aus, diese europaweit gefürchtete Kettenreaktion auszulösen. Doch auch in Frankreich stehen derzeit mehr als die Hälfte aller Kraftwerke still. Das Land betreibt 56 Kernkraftwerke, die normalerweise nicht nur Frankreich selbst, sondern teilweise auch Deutschland und die Schweiz mit Strom versorgen. Doch nicht jetzt, denn derzeit ist mehr als die Hälfte der Leistung französischer Atomkraftwerke nicht verfügbar.
Zwölf der sonst 56 Reaktoren in Frankreich musste der staatlich kontrollierte Energiekonzern EDF nach eigenen Angaben unvorhergesehen vom Netz nehmen, nachdem bei vielen Reaktoren Korrosionsschäden an Schweißnähten festgestellt wurden. Neben den unvorhergesehenen Abschaltungen stehen gegenwärtig auch mehr Kernkraftwerke als üblich wegen routinemäßiger Wartungsarbeiten still. Käme hierzu auch nur zeitweise ein Ausfall österreichischer Kraftwerke, würde Europa ein Blackout drohen.
Laut dem österreichischen Finanzminister Brunner besteht derzeit jedoch noch kein Grund zur Beunruhigung. Andere Landesenergieversorger steckten nicht in finanziellen Schwierigkeiten, sagte er dem ORF:
"Momentan ist es so, dass es nur um die Wien Energie geht."
Vonseiten der Stadt Wien hieß es indes, dass sie gemeinsam mit dem Bund an einem Rettungspaket arbeite. Die Stadt wolle der angeschlagenen Wien Energie demnach kurzfristig rund zwei Milliarden Euro zur Verfügung stellen, mehrere hundert Millionen sollen von der Regierung kommen. Die Stadt Wien betont jedoch, dass auch andere Energieanbieter in Österreich betroffen seien.
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