Über eines sollten wir uns im Klaren sein: Dies ist nicht der 'Fall Assange', sondern der der Informationsfreiheit.
So unterstreicht Rafael Poch, der frühere und über viele Jahrzehnte aktive Auslandskorrespondent der spanischen Tageszeitung La Vanguardia (mit Stationen in Berlin, Moskau und Peking) in einem Beitrag auf CTXT die tatsächliche Bedeutung der Verhaftung des Mitbegründers und langjährigen Chefredakteurs von WikiLeaks Julian Assange nach der Aufhebung seines diplomatischen Asyls in der Londoner Botschaft Ecuadors. Assange droht die Auslieferung in die USA und damit sein Verschwinden im weltweit größten Gefängnissystem.
Poch nimmt die aktuellen Vorgänge rund um Assange daher zum Anlass, an die Dimensionen dieses "American Gulag" und den Zustand der USA zu erinnern, der sich unter anderem in ebendiesem Gefängnissystem zeigt.
Jimmy Carter, der ehemalige Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, beschreibt sein Land als eine "korrupte Oligarchie". Und für Oskar Lafontaine sind die USA "die größte Bedrohung für den Weltfrieden". Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges haben die USA mit Bombardierungen, Invasionen, Embargos und "Regime-Change"-Operationen alle möglichen Arten von militärischer und ökonomischer Gewalt angewandt, die sich nach internationalen Schätzungen auf rund 50 direkte Interventionen summieren, in denen zwischen 20 und 30 Millionen Menschen ihr Leben verloren. Die Arbeit von WikiLeaks und Julian Assange hat unzählige Details und Methoden dieser einzigartigen Gewalt der selbsterklärten "einzigartigen Führungsnation der freien Welt" ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt – zweifellos der größte journalistische Scoop des Jahrhunderts, und ebenso zweifellos ein enormer Schaden für das Imperium.
Deshalb wollen die USA ein Exempel statuieren und eine Lektion erteilen, was mit allen Journalisten irgendwo auf der Welt passieren kann, selbst wenn sie keine US-Amerikaner sind (Assange ist es nicht)", so Poch.
Was Assange erwartet
"Wenn sie ihn in ihre Finger bekommen, werden sie kriminelle und unmoralische Dinge mit ihm anstellen, es wird Folter sein", erklärt Matthew Hoh vom Center for International Policy in Washington, der Assange während seines Botschaftsasyls besucht hatte.
Und Chris Hedges, Pulitzer-Preisträger und bis zu seiner Kritik am völkerrechtswidrigen US-geführten Irakkrieg 2003 Korrespondent der New York Times, beschreibt nicht zuletzt anhand der Erfahrungen aus der Festnahme und dem Prozess von Chelsea Manning in Einzelheiten dieses System der Folter:
Er wird eine Kapuze über dem Kopf haben, er wird gefesselt und angekettet, er wird auf einen schwarzen Flug verfrachtet, er wird in die USA gebracht, in Einzelhaft genommen – was eine Form der Folter ist, auf diese Weise werden Menschen gebrochen, und das oft sehr schnell. Er wird unerbittlich verhört werden, es wird alle möglichen psychologischen Techniken geben – es wird sehr heiß in seiner Zelle und dann sehr kalt sein. Sie werden ihn ständig alle paar Stunden wecken, sodass er unter Schlafentzug leidet. Sie werden ihn vielleicht sogar in eine Trockenzelle bringen, in der es kein Wasser gibt, also muss er nach Wasser fragen, um auf die Toilette zu gehen oder sich zu waschen.
Jeder hat eine Schwachstelle, an der er bricht, und sie werden versuchen, ihn psychologisch zu zerstören. Und wir haben mit Guantánamo gesehen, dass mehrere dieser Gefangenen, von denen die meisten gerade von Kriegsherren in Afghanistan oder Pakistan in die USA verkauft wurden, emotional auf Lebenszeit verkrüppelt sind. Es wird eine Folter nach wissenschaftlichen Methoden sein. Ich habe früher über den Stasi-Staat in Ostdeutschland berichtet, und der Witz im Stasi-Staat war, dass die Gestapo die Knochen gebrochen hat und die Stasi den Verstand bricht. Und das werden sie tun. Das wird passieren. Ich habe es bei Muslimen gesehen, die in den USA in sogenannte terroristische Verschwörungen verwickelt wurden, und wenn ihnen dann nach einiger Zeit der Prozess gemacht wird, sind sie Zombies.
"Es wird einen Anstrich von Legalität geben", fügt Hedges hinzu, "einen Anschein von Rechtmäßigkeit. Doch er wird wie alle Menschen behandelt werden, die aus der ganzen Welt in diesem System verschwunden sind."
Das Gefängnis im Inneren des Imperiums
Das Gefängnissystem im Inneren der USA entspricht deren imperialem Handeln und damit der Gewalt, die dieses Land im Äußeren anwendet, schreibt Poch. Die Dimensionen dieses Systems seien klar und bekannt, auch wenn man kaum darüber spreche. Sie würden aus den USA das globale Hauptquartier des Gulags machen: "Das größte Gefängnissystem der Welt. Der Gulag, das sind sie."
Mehr als 1.000 Personen würden pro Jahr durch Aktionen der Polizei in den USA sterben, durch Schusswaffen, Schläge oder Einsatz von Tränengas und ähnlichem. Praktisch verfüge die Polizei damit über die Lizenz zum Töten, angesichts der verschwindend geringen Anzahl von diesbezüglich verurteilten Polizeibeamten.
Besonders betroffen von diesem Gewaltsystem im Inneren der USA sind bekanntermaßen Arme, die sich den nötigen juristischen Beistand buchstäblich nicht leisten können, und damit vor allem Nicht-Weiße – Latinos und Schwarze.
Rache und Unterdrückung sind explizite Ziele staatlicher Institutionen gegenüber Schwarzen.
Wer als Schwarzer in die Maschinerie der US-Justiz eintritt, wird fast nie wieder ein freier Bürger werden, auch wenn sein ursprüngliches Verbrechen darin bestand, einen Joint in der Jugend zu rauchen und dann aus Hunger eine Pizza zu stehlen. Millionen von Schwarzen und Latinos werden aus dem Gefängnis entlassen, ohne ihre Freiheit wiederzuerlangen, denn nur sehr wenige schaffen es, wieder freie Bürger zu werden", zitiert Poch den schweizerischen Journalisten und früheren langjährigen Korrespondenten des Nachrichtenmagazins Der Spiegel, Walter Tauber.
Fast täglich würden Schwarze durch Polizeibeamte erschossen. Der Zeitung USA Today zufolge töteten weiße Polizisten im Zeitraum von 2006 bis 2012 im Durchschnitt 96 schwarze Jugendliche pro Jahr, jeden vierten Tag ein Todesopfer. Allerdings enthalte diese Zählung des FBI nur die verurteilten Straftäter. Diese Situation habe schließlich zur Gründung der Bewegung "Black Lives Matter" ("Das Leben der Schwarzen zählt") geführt, mit der Stadt Ferguson in Missouri als einem ihrer Zentren. Die Proteste in Ferguson brachen im August 2014 aus, nach dem Tod des schwarzen Jugendlichen Michael Brown.
Seit damals sind sechs Personen, die mit jenen Protesten in Zusammenhang standen, unter skandalös zweifelhaften Umständen ums Leben gekommen, wie Poch bilanziert:
Zwei wurden verbrannt und mit einer Kugel im Kopf in einem Auto gefunden, das in zwei verschiedenen Fällen jeweils verbrannt wurde. Weitere drei starben an seltsamen Selbstmorden, und ein Sechster starb in einem Bus, angeblich an einer Überdosis.
Des Weiteren erhielten die Führer der Bewegung anonyme Drohungen. Einer von ihnen, der Priester Darryl Gray, habe in seinem Auto eine Kiste mit einer Schlange vorgefunden. Den Aktivisten zufolge handele es sich dabei um eine Serie von Vorfällen, hinter denen "weiße Rassisten oder Sympathisanten der Polizei" stecken.
Das größte Gefängnis-Netzwerk der Welt
"Mehr als 2,3 Millionen Personen, mehrheitlich Schwarze und Latinos, sind im weltweit größten Netz aus Haftantstalten und Internierungszentren für Immigranten gefangen", eine Zahl, die sich "auf sieben Millionen erhöht, wenn man all diejenigen hinzuzählt, die unter Bewährungsauflagen auf freiem Fuß sind", rechnet Poch vor und fügt hinzu:
Kein Land der Welt hat so viele Gefangene wie die Vereinigten Staaten: 698 Menschen pro 100.000 Einwohner. Mehr als die Sowjetunion in ihrer Endphase, mehr als China, das 1,6 Millionen Gefangene bei einer viermal größeren Bevölkerung hat. Mehr als heute in Russland oder Brasilien (600.000). Und sogar mehr als Indiens 400.000 (Zahlen für 2015). Viele sind inhaftiert, weil sie arm sind und keine 10.000 US-Dollar Kaution zahlen können, und jeder Fünfte, weil er zu harten Strafen für gewaltfreie Drogen verurteilt wurde.
Laut einer Untersuchung des US-Justizministeriums zu den Gefängnissen im Bundesstaat Alabama seien die Haftbedingungen grauenhaft: "Vergewaltigungen, Morde, Schläge, Selbstmorde (allein 15 in den vergangenen 15 Monaten)." Eine Situation, die einem Experten zufolge durch die Besonderheit des US-Systems bedingt ist:
Die verborgene Natur der US-Gefängnisse stellt in hohem Maße eine bewusste politische Entscheidung dar – eine Entscheidung, die einzigartig unter den Demokratien ist, die wir als unsere Partner-Nationen betrachten.
In den Vereinigten Staaten gibt es keine unabhängige nationale Institution, die die Lebensbedingungen in den Gefängnisssen überwacht.
Ein "schwarzes Loch"
Täglich sitzen mehr als 60.000 Gefangene in Einzelhaft, welche die Vereinten Nationen als Folter einstufen, die viele der ihr Unterzogenen psychisch krank hinterlässt, erläutert Poch und zitiert aus einem Interview, das er vor drei Jahren mit Albert Woodfox, einem 71-jährigen schwarzen Aktivisten, über die Haftbedingungen geführt hatte:
Eine Zelle von sechs Quadratmetern, in der du allein und 23 Stunden am Tag eingeschlossen bist, mit einer Stunde Freigang. Es gibt auch Begasungen und Schläge, es ist Folter. Das System wurde entwickelt, um deinen Geist und deine Würde zu brechen, viele werden verrückt, andere begehen Selbstmord, es gibt Menschen, die sich die Adern aufschneiden, um für ein paar Stunden ins Krankenhaus zu kommen.
Woodfox sei zweifellos der Häftling, der weltweit die längste Zeit in Isolationshaft verbracht hat: 43 Jahre und zehn Monate. Er kam wegen kleinerer Delikte ins Gefängnis, verurteilt zu 15 Jahren, konnte später ausbrechen und wurde zum Aktivisten gegen die Haftbedingungen im Bundesstaat New York, beschreibt Poch die Geschichte von Woodfox. Sein Einsatz als Aktivist habe ihn schließlich erneut in den Knast gebracht, wo er Mitglied der Bewegung der Black Panthers geworden sei.
Wir schufen die einzige Abteilung der Black Panthers im Gefängnis. Wir wurden beschuldigt, für den Tod eines Wachmanns verantwortlich zu sein. Alles war eine Falle. Unser Prozess war die Rache für unsere Militanz." Isolation sei Teil dieser Rache gewesen, denn "von dem Moment an, in dem man verurteilt wurde, wird man zum Sklaven", so Woodfox.
Der letzte Satz von Woodfox ist alles andere als rhetorisch gemeint, betont Poch:
Zwar verbiete die Verfassung der Vereinigten Staaten seit 1865 die Sklaverei, "außer als Strafe für eine Straftat, wegen derer der Täter ordnungsgemäß verurteilt wurde".
Woodfox und seine Mitstreiter seien für das schwerste mögliche Verbrechen verurteilt worden: die Rebellion der Schwarzen, um als Personen anerkannt und behandelt zu werden. Darauf fuße bis heute eine ganze, hauptsächlich privatisierte Gefängnisindustrie, die an solcher Sklavenarbeit verdient.
So sehen im Allgemeinen und im Besonderen die Umstände aus, die Julian Assange in den Vereinigten Staaten erwarten, schließt Poch, sollte die britische Gerichtsbarkeit genehmigen, dass er ausgeliefert wird – um in diesem schwarzen Loch zu verschwinden.
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