Von Rainer Rupp
Professor Richard Wolff hatte jüngst in einem Gespräch auf der YouTube-Seite "Dialogue Works" den sogenannten "Friedensgipfel" am 15. und 16. Juni 2024 in der Schweiz vor dem Hintergrund des Niedergangs der USA und des Aufstiegs der BRICS als "kolossales Scheitern des Westens" bezeichnet. Die Washingtoner Führungskaste zeige Symptome zunehmender Verzweiflung, denn der kollektive Westen unter Führung der USA, der bisher global tonangebend war, wird weltweit immer weniger respektiert.
Weil die US-Führungseliten sich weigern, die Geschehnisse infolge der fundamentalen Verschiebung der Korrelation der globalen Kräfte zuungunsten des Westens wahrzunehmen, verstehen sie auch nicht, warum sie die Veränderungen nicht nach ihrem Willen steuern können, so Prof. Wolff. Um dennoch abzuschrecken, fuchteln sie zunehmend unkontrolliert symbolisch herum. Folgt man den weiteren Ausführungen von Prof. Wolff, dann ist die Verwirrung in den Köpfen der politischen "Eliten" in Washington nicht verwunderlich.
Zum besseren Verständnis schlägt der Professor vor, sich in die Denkweise von Leuten wie US-Außenminister Antony Blinken, Präsident Joe Bidens Nationalem Sicherheitsberater Jake Sullivan oder anderen Top-Entscheidern in Washington zu versetzen, die z. B. entsetzt feststellen müssen, dass die Rolle des US-Präsidenten für den Großteil der Welt "nicht mehr besonders relevant ist". Die Beispiele dafür reichen in der Tat von den Huthis im Jemen über Afghanistan und Saudi-Arabien bis zu den BRICS-Ländern und -Anwärtern. Der Fingerzeig aus Washington wird immer weniger befolgt.
Die aktuelle US-Machtelite wuchs in den Vereinigten Staaten zu einer Zeit auf, in der die USA den größten Teil der Welt dominierte und dabei die alten Kolonialmächte in Europa – Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Italien und einige andere wie die Niederlande – fest als Vasallen an seiner Seite wusste. Der einzige Feind der USA war ein Land, das sie nicht unterwerfen konnten, nämlich Russland, ab 1917 dann die Sowjetunion und ab 1991 wieder Russland.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden die USA noch dominanter. Wenn sie sich Sorgen wegen der Sowjetunion machten, dann war das weniger eine politische oder wirtschaftliche, sondern hauptsächlich eine militärische Herausforderung. Die wurde jedoch durch die Politik der Eindämmung unter Kontrolle gehalten, die mit George Kennan, dem Vater des Kalten Kriegs, in den 1950er-Jahren begonnen hatte und für den größten Teil der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bestehen blieb. Zugleich wuchs die Dominanz der USA in allen Bereichen weiter. Selbst die wirtschaftliche Revolution in China, die in den 1980er-Jahren begann, schien aus Washingtoner Sicht die US-Dominanz im Indopazifik nicht zu schmälern.
Allerdings gab es auch schon damals einige besorgniserregende Entwicklungen wie den verlorenen Krieg in Vietnam. Dies war ein Schock, der die Machtelite in Washington beunruhigte, weshalb sie ihr Militär noch stärker aufbaute.
Dann, 1991, mit der Auflösung der Sowjetunion, glaubte die US-Machtelite plötzlich, in einer neuen Welt der unbegrenzten globalen US-Dominanz gelandet zu sein. Und die Neokonservativen faselten schon vom 21. Jahrhundert als dem "Amerikanischen Jahrhundert". Heute, 33 Jahre später, hat Washington nicht wie erwartet die totale Kontrolle, sondern das Gegenteil ist eingetroffen, und die einstige Dominanz zerrinnt wie Wasser zwischen den Fingern.
Prof. Wolff führt weiter aus, dass die US-Machteliten "aufgrund ihrer ideologischen Scheuklappen die Ironie dieser Entwicklung nie erkennen konnten. Sie haben nämlich selbst maßgeblich zu ihrem eigenen Niedergang beigetragen. Als die Kapitalistenklasse der USA, Westeuropas und Japans eine Profitmöglichkeit in China sah, ging sie dorthin. Sie machten den Deal und sagten: 'Wir wollen von euch in China billige Arbeitskräfte und Zugang zu eurem riesigen und wachsenden Markt.' Die Chinesen willigten ein, und kein Kapitalist konnte diesem Angebot widerstehen. Sie investierten in China und unterzeichneten Verträge zur gemeinsamen Nutzung von Technologie. Niemand zwang sie dazu, niemand musste ihnen etwas stehlen. Sie waren bereit, es zu verkaufen, und sie verkauften es."
"Die Chinesen erkannten, dass der schnellste Weg, eine moderne Wirtschaft zu entwickeln, nicht darin besteht, entweder ganz privat wie Großbritannien und die USA oder ganz staatlich wie die Sowjetunion zu sein, sondern eine gut verwaltete Kombination aus beidem. Ein leistungsfähiger Staat, kontrolliert von einer fokussierten Kommunistischen Partei, die sowohl die private als auch die öffentliche Wirtschaft fördert. Das ist ihr System. Ob man es mag oder nicht, spielt keine Rolle. Man muss verstehen, dass sie die erfolgreichste Wirtschaftswachstumsgeschichte der Weltgeschichte geschrieben haben. Kein anderes Land kommt dem nahe."
Die Chinesen haben allerdings eine andere Entwicklungsphilosophie als der imperialistische Westen mit seinen kolonialen und neokolonialen Raubzügen. Chinas Projekt der globalen Neuen Seidenstraße (Belt and Road Initiative) baut auf dem Prinzip des gegenseitigen Vorteils aller Beteiligten auf. Dem kann das US-Imperium nicht standhalten, Washingtons Fähigkeit zur Macht schrumpft in ungeahnter Geschwindigkeit, und parallel dazu schwindet der globale Einfluss der US-Vasallen.
Zwar sind die Vereinigten Staaten immer noch ein reiches und mächtiges Land, aber der Westen könne "seine globale Position nicht halten", das könne man "jede Woche an neuen Statistiken erkennen, wenn man es sehen will", so Prof. Wolff. Er führt weiter aus, dass die US-Machteliten und ihre Vasallen zunehmend verzweifelt versuchten, diesen Niedergang zu stoppen, aber sie könnten es nicht, "weil sie nicht bereit sind, sich der veränderten globalen Wirtschaft und Politik anzupassen". Zuletzt habe man das am Ausgang der sogenannten Schweizer Friedenskonferenz gesehen. Das Desaster in der Ukraine, wo die USA Jahr für Jahr den Krieg verlieren, sei eine komplette Farce. Jeder, der wolle, könnte auch erkennen, dass
"China und Russland durch starke gemeinsame Interessen verbunden sind. Russland ist wieder ein wichtiger Akteur auf der Welt. China sieht seinen Vorteil darin, einen erfolgreichen Verbündeten wie Russland zu haben. Russland hat ein weiter entwickeltes Militär als China, also können sie den Chinesen das bieten, und die Chinesen können Russland ihren Markt und wirtschaftliche Möglichkeiten bieten. Das ist eine 'Ehe im Himmel', wie die Franzosen sagen würden, und es gibt nichts, das der Westen dagegen tun kann. Die USA könnten höchstens einen Atomkrieg führen, aber dann wäre ohnehin alles vorbei."
"Wir US-Amerikaner", so Prof. Wolff weiter, "sind nicht verrückter als andere Völker, wir sind nur genauso intelligent. Aber wir verhalten uns auf eine Weise, die intelligente Menschen fragen lässt, was bei uns los ist. Zum Beispiel haben wir nur die Wahl zwischen Biden und Trump. Das allein ist Beweis genug, dass in diesem Land etwas furchtbar falsch läuft. Wenn Sie das verstanden haben, dann erkennen Sie auch, dass hier hauptsächlich Theater gespielt wird, ein Theater, das das US-Publikum nicht durchschaut."
"Dagegen ist es der Rest der Welt, der glaubt, dass die Vereinigten Staaten verrückt sind. Aber man muss vorsichtig mit ihnen umgehen, weil es ein gefährliches Verrücktsein ist. Die USA haben immer noch Atomwaffen und Menschen, die ernsthaft in Erwägung ziehen, sie einzusetzen."
Um die US-Amerikaner zu verstehen, muss man die Besonderheiten dieser Gesellschaft kennen. Dazu gibt Prof. Wolff Folgendes zu bedenken:
"Die Vereinigten Staaten werden noch mehrheitlich von Nachkommen europäischer Einwohner bewirtschaftet. Die europäischen Einwanderer kamen und töteten alle Einheimischen. Sie ermordeten sie mit Gewalt oder gezielt mit Krankheiten. Sie zerstörten die einheimischen Kulturen, betrieben ethnische Säuberungen und Völkermord. All das trifft zu. Es dauerte ein Jahrhundert oder zwei, bis in diesem Land so gut wie alle getötet waren. Die wenigen, die übrig blieben, wurden in Reservaten gehalten, was auch eine Art von Völkermord ist, nur langsamer, damit es nicht so offensichtlich ist.
Die USA wurden in unsagbarer Gewalt geboren. Die war überall, im Nordosten, im Süden, im Westen, im Mittleren Westen. Aber dieses Massaker an der indigenen Bevölkerung ist nur ein Teil der Geschichte dieses Landes, denn nachdem die US-Amerikaner die indigene Bevölkerung zerstört und ermordet hatten, nahmen sie indigene Menschen aus Afrika und brachten sie in die USA als Sklaven. Die Sklaverei existierte nicht nur im Süden der USA, sondern auch in New York, Ohio, überall. Die Geschichte von New York City ist voll von Artikeln über die wirtschaftliche Bedeutung der Sklaverei in der Stadt. Die Sklaverei endete offiziell erst vor etwa eineinhalb Jahrhunderten. In historischen Zeiträumen ist das nicht lang.
Die USA sind ein Land, dessen Überleben in der nicht allzu fernen Vergangenheit als abhängig von Massenmord identifiziert wurde. Deshalb denkt es, es kann seine Probleme nur mit militärischer Gewalt lösen. Die USA geben heute mehr fürs Militär aus als die nächsten neun größten Länder der Welt zusammen. Und die nächsten neun umfassen Russland und China, alle anderen sind Verbündete der USA. Das US-Militär ist völlig außer Kontrolle.
Als die Sowjetunion 1989 zusammenbrach, gab es für die USA keinen militärischen Gegner mehr. Es war vorbei, die Kommunistische Partei war weg; ihre Macht war weg. Die Menschen in Russland wollten wie in Westeuropa leben. Aber die USA haben ihre militärische Dominanz nicht reduziert, sie mussten militärisch dominant bleiben. Nach 9/11 mussten sie erst recht militärisch dominant sein. Denn die islamischen Terroristen lieferten den Vorwand, einige widerspenstige islamische Länder in die Knie zu zwingen. Der militärische Wahn in den USA hört nie auf. Russland und Putin sind für die Machtelite in Washington wie Stalin und die Sowjetunion, und Xi Jinping ist ein weiterer Stalin."
An dieser Stelle des Gespräches gibt Prof. Wolff ein banales Beispiel aus dem US-Alltag:
"Es gibt eine Touristenattraktion, etwa drei Stunden Fahrt von New York City entfernt. Wenn Sie in das kleine Dorf gehen, sehen Sie die alten Kolonialhäuser, die ersten Häuser, die von britischen Einwanderern gebaut wurden, als dies noch eine britische Kolonie war. Sie können die alten Häuser besuchen, sehen, wie sie gebaut wurden und welche Möbel darin stehen. Vor jedem Haus gibt es Informationstafeln, auf denen man ein wenig über die Geschichte des jeweiligen Hauses lesen kann, z. B. 'In einer Nacht 1742 griffen 60 Wilde (Savages) dieses Haus an. Der Oberst und seine Frau Abigail mussten auf ihren Pferden fliehen, um den Wilden zu entkommen.'"
"Alle Tafeln an den Häusern erzählen dieselbe Geschichte von guten weißen Einwanderern gegen die bösen Wilden. Genau so wurde über drei Jahrhunderte hinweg den US-Amerikanern ihre Geschichte beigebracht. Erst waren die einheimischen Indianer die Wilden, dann waren es die Sklaven, dann jeder, der gegen die USA war. Fidel Castro war ein Wilder, Putin ist ein Wilder, Xi Jinping ist ein Wilder."
"Das ist die Welt, in der nicht nur die Entscheidungsträger in Washington Zeit ihres Lebens sozialisiert wurden und in der sie immer noch leben. Und dabei sind sie überzeugt, das Böse zu bekämpfen."
Es sei diese Seite erbärmlich-kindische Selbstwahrnehmung der US-Bevölkerung, auf die US-Politiker zurückgreifen, wenn sie für ein Amt kandidieren oder öffentlich sprechen, so Prof. Wolff. Auf diese Weise werde aus der Ukraine die unschuldige, aber tapfere Demokratie, die gegen die russischen Wilden kämpft. Und Prof. Wolff führt ein weiteres aktuelles Beispiel an:
"Wenn die Israelis unsere Verbündeten sind, dann müssen ihre Gegner die Wilden sein. Und so fügt man die Ereignisse vom 7. Oktober letzten Jahres in diese Geschichte ein: Die Wilden taten den Israelis dasselbe an, was die Wilden den britischen Einwanderern in Massachusetts im 18. Jahrhundert angetan hatten."
All das sei unglaublich. Aber die US-amerikanischen Menschen, die in diesem Denkschema gefangen sind, machten keinen skeptischen Schritt zurück und durchschauten die Sache daher auch nicht. Weiter führt er aus:
"Das Erste, was ein Reporter tut, wenn er irgendwo auf der Welt hingeht, wo die USA aktiv sind, ist, zu sehen, wer der Wilde und wer der Gute ist, um dann die Geschichte entsprechend zu erzählen. Dies wird oft von Journalisten getan, die nicht absichtlich lügen, sondern die sich keiner anderen Realität bewusst sind."
Sie sähen die Welt als Produkte dieser US-Gesellschaft. Die Geschichten von den Guten und den Wilden sei ihnen tausendmal erzählt worden. Man findet sie in Hollywood-Filmen, in Liedern, überall. Wer dies nicht verstehe, könne auch die US-Politik nicht verstehen. Wörtlich führt er weiter aus:
"Ich sehe, dass wir in der Ukraine verlieren. Aber wenn ich mir diese Situationen genau anschaue, erkenne ich, dass die Vereinigten Staaten sich selbst besiegen. Sie versuchen, mit der Ukraine als Mittel eine Welt zu managen, die nicht so nicht mehr existiert, und sie werden sehr frustriert, weil es nicht funktioniert."
Früher seien die USA einmal so dominant gewesen, dass es keine Rolle spielte, welche Fehler sie gemacht haben. Wenn es auch mal nicht funktionierte, waren sie immer noch die Reichsten und Mächtigsten. Aber wenn es jetzt nicht mehr funktioniert, dann ist es zunehmend schmerzhaft, weil sie nicht mehr die Reichsten sind und sich nicht mehr aus dieser Situation herauskaufen können.
Die Niederlage in Afghanistan sei total gewesen. Die Taliban kamen in diesem Land wieder an der Macht und sind es seit mehreren Jahren. Sie haben 20 Jahre lang der US-Militärpräsenz widerstanden. Sie wurden nicht von den Vereinigten Staaten besiegt, obwohl diese enorme militärische Macht dorthin geschickt hatten. Die Taliban sind arm, sie haben keine Ressourcen, sie haben Schwierigkeiten mit ihren Nachbarn, mit Iran, mit China, aber sie können trotzdem gegen die USA bestehen. Doch in den USA wird so getan, als hätte man in Afghanistan gar nicht verloren. Niemand fragt: Warum haben wir verloren? Was haben wir falsch gemacht? Was haben wir missverstanden? Nichts, nichts, nichts. Die Niederlage ist keine Niederlage. Das ergänzt Prof. Wolff mit eigenen Erfahrungen:
"Wenn ich öffentliche Vorträge halte und sage, dass wir in Vietnam verloren haben, oder über unsere Verluste in Afghanistan, in Iran oder im Irak rede, wissen meine US-Zuhörer nicht, was sie tun sollen. Sie sitzen im Auditorium und schauen mich an wie fünfjährige Kinder, die gerade erfahren haben, dass es keinen Weihnachtsmann gibt. Er kommt nicht durch den Schornstein und bringt euch zu Weihnachten Geschenke. Das ist nicht die Realität. Aber sie weigern sich, diese schreckliche Realität zu verinnerlichen. Zehn Minuten nach dem Ende meiner Vorlesung kehren sie zurück zu ihrer altvertrauen Denkweise in die geliebte Scheinrealität, die ihnen tagtäglich vorgegaukelt wird."
Richard Wolff ist emeritierter Professor für Wirtschaftswissenschaften an der University of Massachusetts in Amherst, wo er von 1973 bis 2008 Wirtschaftswissenschaften lehrte. Derzeit ist er Gastprofessor im Graduiertenprogramm für internationale Angelegenheiten der New School University in New York City. Zuvor hatte er Wirtschaftswissenschaften an der Yale University (1967–1969) und am City College der City University of New York (1969–1973) gelehrt. 1994 war er Gastprofessor für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Paris (Frankreich), I (Sorbonne). Wolff war auch regelmäßiger Dozent am Brecht Forum in New York City.
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