Eine Analyse von Scott Ritter
Das Jahr 2022 markiert den 21. Jahrestag der Terroranschläge vom 11. September 2001 gegen die Vereinigten Staaten. Der 21. Jahrestag ist traditionell kein hochkarätiger Gedenktag. Menschen gedenken vergangener Ereignisse gerne anhand eines Kalenders. Einjährige Jubiläen sind wichtig, zwei Jahre später schon etwas weniger wichtig. Der zehnte Jahrestag ist eine große Sache, jedoch nicht der elfte.
Im vergangenen Jahr gedachten die USA und die westliche Welt dem 20. Jahrestag der Anschläge vom 11. September. Was dieses Datum wichtiger als das einfache Verstreichen von Zeit macht, ist seine Relevanz. Das Jahr 2021 markierte den 20. Jahrestag seit dem Eintritt der USA in den sogenannten "globalen Krieg gegen den Terrorismus". Und der Jahrestag ereignete sich weniger als einen Monat nach dem beschämenden Rückzug der USA und seiner Verbündeten aus Afghanistan.
Die Evakuierung aus Kabul im August 2021 war der letzte Akt in einem zwei Jahrzehnte andauernden Drama, in dem die Vision eines "neuen amerikanischen Jahrhunderts" von einer amerikanischen neokonservativen Elite propagiert wurde, die den Schrecken des 11. Septembers als einen Katalysator für die Übernahme der Weltherrschaft betrachtete. Tatsächlich aber liefen diese Kräfte in den Untiefen der geopolitischen Realität auf Grund, kenterten und sanken in einem selbst herbeigeführten Sturm nationaler Überheblichkeit.
Jene Vereinigten Staaten, welche aus der 20 Jahre dauernden politischen Katastrophe eines "Kriegs gegen den Terrorismus" hervorgegangen sind, wurden gezüchtigt und gedemütigt, aber nicht besiegt oder erniedrigt. Es besteht ein Zwiespalt zwischen der geopolitischen Realität, in der sich die Vereinigten Staaten nach 20 Jahren Ignoranz gegenüber dem Rest der Welt wiederfanden, nachdem sie das Blut, die Reichtümer und den Ruf der Nation in den Wüsten und Bergen des Nahen Ostens vernichtet hatten, und der narzisstischen Arroganz einer Führungselite, die nicht in der Lage oder willens ist, den Schaden, den sie dem eigenen Land zugefügt hat, anzuerkennen.
Eine Haltung, die den kollektiven Nutzen geeigneter diplomatischer, wirtschaftlicher und sicherheitspolitischer Strategien zur Wiederherstellung der Normalität zunichtegemacht hat. Der Gedenktag 21 Jahre nach dem 11. September ist der erste Jahrestag für diese neue Realität.
Die Unfähigkeit des US-amerikanischen Kollektivs aus Bevölkerung, politischer Führung und Mainstream-Medien besteht darin, faktenbasiert und emotionslos zu reflektieren, wo sie am 20. Jahrestag des 11. September standen, wie sie dorthin gelangten und wohin die Reise gehen wird. Das bedeutet, dass sie die Tatsache nicht begriffen haben, dass sie den 21. Jahrestag einer Realität begangen haben, über die sie anscheinend weitgehend nichts wissen.
Aus den 20 Jahren Umherirrens in der geopolitischen Wildnis des Nahen Ostens und Zentralasiens gingen die USA als eine geschwächte Nation hervor. Militärisch, wirtschaftlich und diplomatisch. Diese Schwächung wurde durch die Tatsache verschlimmert, dass, während die Vereinigten Staaten zwei Jahrzehnte lang mit ihrer Selbstverbrennung beschäftigt waren, der Rest der Welt nicht auf der Stelle trat, sondern sich vorwärts bewegte und eigene Fähigkeiten entwickelte. Diese Fähigkeiten waren zwar nicht unbedingt darauf ausgelegt, den Vereinigten Staaten entgegenzutreten, aber sie brachten die Länder in eine weitaus vorteilhaftere Position, falls die Zeit dafür jemals kommen sollte.
Länder wie Iran, China und Russland sahen zu, wie die USA ihre Macht auf der Jagd nach Geistern verschwendeten und nahmen sich jene Lektionen zu Herzen, welche Washington unwissentlich in Bezug auf seine militärischen Fähigkeiten, seine wirtschaftliche Verwundbarkeit und diplomatischen Mängel erteilt wurden. Diese Lehren wurden im chaotischen Klassenzimmer der US-amerikanischen Demokratie zusätzlich vertieft, wo die Welt Zeuge unberechenbarer Wechselwirkungen zwischen Politik und Prinzipien wurde, die von einem Zweiparteiensystem im Krieg mit sich selbst ausgingen.
Auf acht Jahre neokonservative Aggression unter George W. Bush folgten acht Jahre neoliberale Täuschung unter Barack Obama. Die vier Jahre des von Überheblichkeit getriebenen Chaos der Regierung unter Donald Trump wurden durch die bisher zwei Jahre eines fehlgeleiteten und inkompetenten Revanchismus der Regierung unter Joe Biden ersetzt. Eine Regierung, die unter der Prämisse operiert, dass man den Schaden aus Jahrzehnten US-amerikanischen Politikversagens mit der Bereitschaft rückgängig machen könne, ihn sich einfach wegzuwünschen.
Die US-amerikanische Demokratie, diese angeblich "leuchtende Stadt auf dem Hügel", die den Rest der Welt dazu inspirieren wollte, so zu sein wie sie und ihrem Beispiel zu folgen, ist als Potemkinsches Dorf entlarvt worden. Kaum mehr als ein Ghetto, das als gepflegter Vorort getarnt wurde. Die Welt konnte diese Transformation mit eigenen Augen beobachten. Die US-Amerikaner hingegen blieben ahnungslos und wurden durch das falsche Versprechen eines uneingeschränkten Konsumverhaltens zu einer ignoranten Unterwerfung gezwungen. Schulden müssen jedoch irgendwann zurückbezahlt werden.
Der 11. September nach 20 plus einem Jahr spiegelt eine Realität wider, in der viele dieser Schulden im In- und Ausland fällig werden.
Im Jahr 21 nach dem 11. September befinden sich die Vereinigten Staaten in einem politischen Bürgerkrieg, der droht, in eine von Spaltungsbestrebungen getriebene Gewalt zu münden, die seit dem ersten US-amerikanischen Bürgerkrieg nicht mehr zu sehen war. Die Dominanz des US-Dollars als Reservewährung der Welt bröckelt, da die globalen Märkte, die eine ständige Einmischung der USA in ihre souveränen Wirtschaftsentscheidungen satt haben, den Dollar zugunsten anderer Währungen fallen lassen.
Nachdem man Russland als eine "Tankstelle, die sich als Nation tarnt", belächelt hat, finden sich die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten in der Lage von Autofahrern wieder, die auf einer Straße inmitten der Wildnis mit leeren Kraftstofftanks und ohne Tankstellen in Reichweite gestrandet sind. Vor allem deshalb, weil sie alle Tankstellen vor Antritt ihrer Reise geschlossen hatten. Die Wirtschaftssanktionen des kollektiven Westens gegen Russland haben sich in einen Akt der Selbstverletzung verwandelt, der die Volkswirtschaften Europas zusammenbrechen lässt, wobei die USA nicht in der Lage oder willens sind, diese zu retten.
Washingtons Führungsanspruch basierte immer auf der Prämisse, dass das US-amerikanische Modell der demokratischen Regierungsführung dazu beiträgt, die soziale, wirtschaftliche und militärische Stärke zu schaffen, auf die sich die USA stützen, um den Mächten des Bösen in der Welt entgegenzutreten. Dieses Modell existiert nicht mehr, was zum großen Teil darauf zurückzuführen ist, wie sich die USA in den ersten 20 Jahren nach den Anschlägen vom 11. September 2001 verhalten haben. Im Jahr 21 nach den Anschlägen stehen die Vereinigten Staaten Angesicht zu Angesicht mit der Realität dessen, was sie angerichtet haben. Sei es in der Ukraine, im Pazifikraum, im Nahen Osten, in Afrika, in Asien und im eigenen Land. Oder wie es in der Bibel heißt: "Denn sie säen Wind und werden Sturm ernten."
Aus dem Englischen
Scott Ritter ist ein ehemaliger Geheimdienstoffizier des US Marine Corps. Er diente in der Sowjetunion als Inspektor bei der Umsetzung des INF-Vertrags, im Stab von General Schwarzkopf während des Golfkriegs und von 1991 bis 1998 als UN-Waffeninspektor. Man kann ihm auf Telegram folgen.
Mehr zum Thema - Die USA 20 Jahre nach dem 11. September: Ein Land, das nicht mehr wiederzuerkennen ist