US-Außenminister Tony Blinken wurde im Internet scharf kritisiert, nachdem er wiederholt der Frage ausgewichen war, inwieweit sich der US-Präsident Joe Biden der tatsächlichen Lage vor Ort in Afghanistan bewusst sei. Auch andere Beamte der Biden-Regierung wichen dieser Frage aus.
Nach Bidens öffentlicher Bekundung verlaufe der US-Abzug und die Evakuierung aus Afghanistan durch die USA so gut, wie man es erwarten könne. Der Präsident behauptet, dass Al-Qaida – die Terrorgruppe, die vor 20 Jahren die USA vernichten wollte – in Afghanistan heute keine Bedrohung darstelle und dass die Verbündeten der USA Washingtons Rückzug aus dem Land gelobt hätten.
Diese Darstellungen sind eindeutig falsch. UN-Berichten zufolge ist Al-Qaida in fast der Hälfte der 34 Provinzen Afghanistans präsent – und die Verbündeten der USA haben nachweislich den chaotischen Abzug der USA verurteilt. Armin Laschet, der darum kämpft, Nachfolger von Bundeskanzlerin Angela Merkel zu werden, bezeichnete den Abzug als "das größte Debakel, das die NATO seit ihrer Gründung erlebt hat".
Angesichts der Diskrepanz zwischen Bidens Äußerungen und der Realität fragte Fox News-Moderator Chris Wallace den US-Außenminister Tony Blinken am Sonntag: "Weiß der Präsident nicht, was los ist?" Blinken entgegnete anstelle einer Antwort ausweichend: "Dies ist eine unglaublich emotionale Zeit für viele von uns."
Er ging gar nicht auf die Frage ein und begann stattdessen mit anscheinend vorab zurechtgelegten Argumenten über die Beziehungen zwischen den USA und ihren Verbündeten. Als Wallace ihn erneut darauf ansprach, gab Blinken die gleiche Antwort über die "sehr emotionale Zeit", welche die Regierung Biden und die ausländischen Verbündeten gerade durchleben müssten.
Blinkens Ausweichmanöver wurden naturgemäß von den Zuschauern aufmerksam verfolgt, weshalb ein Kommentator vorschlug, Blinken solle doch mal "eine Pause von Fernsehauftritten einlegen, bis die Regierung ihre Geschichte in Ordnung bringen kann."
Widersprüchliche Geschichten, also "Narrative", und widersprüchliche Äußerungen sind ein Markenzeichen der Biden-Regierung, seit Kabul vor einer Woche an die Taliban gefallen war. Nach monatelangen Zusicherungen durch Biden, seine Generäle und die US-Geheimdienste, dass die afghanische Hauptstadt mehrere Wochen oder Monate lang den Kämpfern der Taliban standhalten würde, wurde nun die US-Regierung bildlich in die Mangel genommen, wie sie sich so sehr irren konnte und wie es ihr nicht einmal gelungen ist, die US-Amerikaner in geordneter Weise zu evakuieren. Doch bisher hat noch niemand von den Verantwortlichen eine überzeugende Antwort gegeben.
In den Sonntags-Talkshows gab Blinken gegenüber CBS News zu, dass die USA nun auf das Wohlwollen der Taliban zählen, um Tausende von US-Amerikanern bis zum Flughafen von Kabul bringen zu können.
Blinken gab nicht nur zu, dass die USA im Grunde die Taliban um Erlaubnis bitten, viele Menschen in der Hauptstadt zu evakuieren, sondern verwies auch auf ein Gespräch, das er vor einigen Tagen mit "Präsident Karzai" geführt habe – einem ehemaligen Staatschef, der allerdings Afghanistan seit 2014 nicht mehr regiert.
Der US-Verteidigungsminister Lloyd Austin trat ebenfalls in Sonntagssendungen auf, und auch er strahlte wenig Gewissheit über Bidens Kenntnis der Lage in Kabul aus. Austin weigerte sich, Martha Raddatz der ABC News mitzuteilen, welche Ratschläge denn er Biden für die Durchführung des Abzugs gegeben hatte, und sagte lediglich, dass Biden "auf unseren Rat gehört hat". In Einklang mit Blinken fügte Austin hinzu, dass er darauf zähle, dass die Taliban die US-Amerikaner durch ihre Kontrollpunkte zum Flughafen vorlassen würden, wies allerdings auch darauf hin, dass einige US-Amerikaner bereits "harte Begegnungen" mit den islamistischen Kämpfern gehabt hätten.
Während die Evakuierung der USA weitergeht, errichten sowohl US-Truppen als auch Taliban-Kämpfer jeweils einen "eigenen" Sicherheitsbereich um den Flughafen von Kabul. Nach einer Woche des Chaos, in der zahllose Afghanen den Flughafen stürmten, wobei es zu sporadischen Schusswechseln kam, und sich einige gar im verzweifelten Versuch, der Taliban-Herrschaft zu entkommen, an US-amerikanischen Transportflugzeuge klammerten, sagte ein NATO-Beamter der Nachrichtenagentur Reuters am Sonntag, dass dadurch in der letzten Woche mindestens 20 Menschen auf dem Flughafen und in dessen Umgebung ums Leben gekommen wären.
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