Amerikawissenschaftler Strick: Trump ist "die Kasperlefigur eines großen Desinformationsimperiums"

Im Interview erläutert Simon Strick seine Ansicht über die Ereignisse in den USA. In Amerika vollziehe sich derzeit ein "Kulturkampf" mit "realen gewaltsamen Folgen". Strick analysiert die Trump-Anhänger und zieht Vergleiche zur Anti-Corona-Bewegung in Deutschland.

Dr. Simon Strick promovierte in Amerikastudien und ist derzeit Mitarbeiter beim ZeM - Brandenburgisches Zentrum für Medienwissenschaften.

In Ihrem Beitrag "TIRED TRUMP oder: Die Ermüdung der Theorie" für das Buch "The Great Disruptor" erörtern Sie die Frage, welches theoretische Instrumentarium angesichts heutiger politischer Dynamiken in den USA analytisch adäquat sein könnte. Was ist Ihre Schlussfolgerung?

Die Theoriefrage gehört sicher eher an die Universität. Für die Leserschaft ist interessant, dass ich unter anderem vorschlage, populistische Führungsfiguren etwas an den Rand der Aufmerksamkeit zu stellen. Sie sind vor allem Effekte der gewandelten Öffentlichkeit, die wir im Netz und den Medien vorfinden: so etwas wie Aufmerksamkeitszentren, um die sich Gruppierungen und Emotionen versammeln. Trump ist weniger Regisseur als die Kasperlefigur eines großen Desinformationsimperiums. Dieses Imperium ist älter und geht bis in die Nixon-Jahre zurück. Andrew Breitbart hat es ins Netzzeitalter gebracht.

Welchen Zusammenhang sehen Sie zwischen den Phänomenen Alt-Right und Neofaschismus und den jüngsten Ereignissen in den USA?

Die Alt-Right ist als rassistische und ethnonationalistische Bewegung seit einigen Jahren nicht mehr sehr präsent, wie der Experte Cas Mudde erklärt. Ihre Haltungen – Nationalismus, Rassismus, Antifeminismus, Anti-Elitismus usw. – sind aber noch da. Sie sind in die Breite der Gesellschaft gestreut worden, unter anderem durch Propaganda und Desinformation im Internet. Besonders aber durch die Konflikte, die die Trump-Regierung mitproduziert hat: Die "stolen election" war ein Kernthema, mit dem eine breite Öffentlichkeit auf den Weg der Verschwörungstheorie, der Systemfeindschaft, des rassistischen Ultranationalismus gebracht wurde. Die rechten Akteure, die ich seit Jahren erforsche, haben dieses Narrativ schon vor einiger Zeit in Umlauf gebracht. Trump, Giuliani und Barr haben es aufgegriffen und breitentauglich skandalisiert.

Wie würden Sie die Gruppe beschreiben, die am Mittwoch zuerst an einer Veranstaltung mit US-Präsident Donald Trump teilgenommen und danach das Kapitol gestürmt hat?

Es war keine homogene Gruppe, sondern eine Ansammlung vieler Verstreuter, die sich dort gefunden haben. Sie haben gemeinsam, dass sie an eine "gestohlene Wahl" und ein "feindliches System" glauben und sich wenig um demokratische Prozesse scheren. Sie halten sich selbst für Demokraten. Die Unterschiede der Leute dort waren sichtbar an ihren Insignien: von "MAGA" und "America First" über "QAnon" bis zur Südstaatenflagge und zum antisemitischen "Camp Auschwitz"-T-Shirt.

Die Übergänge zwischen diesen Gruppierungen sind fließend: Neofaschisten und White Nationalists gehören dazu wie auch die einfachen "Trumpisten". Diese Gruppen verstehen sich in solchen Momenten sehr gut miteinander, wie auch schon auf den MAGA-Märschen im November und Dezember, wo ca. 17.000 Menschen dem Agitator Alex Jones und der QAnon-Politikerin Marjorie Taylor-Greene lauschten.

Ähnliche Mischungen sieht man in Deutschland auf den Anti-Corona-Demonstrationen wie im August 2020 in Berlin. Ihr Konsens ist, dass sich die Welt, das System, die Medien oder auch die universitären Eliten gegen sie verschworen hätten und dass sie sich wehren müssten.

Welche Ziele und Ideale verfolgt diese Gruppierung?

Da es aus meiner Sicht keine einzelne Gruppe war, ist das eine schwierige Frage. Einige der Leute waren gewaltbereite Neofaschisten, andere waren Neofaschisten, die in erster Linie Selfie-Bilder machen. Andere waren einfach die Anhänger der Gegenöffentlichkeit, die sich um Trump gebildet hat und die auf den Rallyes im ganzen Land zu sehen war.

Aus meiner Sicht verfolgen diese Menschen weniger gemeinsame Ideale als Gefährdungsgefühle: Sie glauben, dass sich das System (etc.) gegen Weiße, gegen Männer oder gegen die "wahren Amerikaner" verschworen hat. Das Wahlergebnis ist für sie nur ein Ausdruck davon.

Ihre Ziele sind unterschiedlich: Es gibt Aktivisten, die einen gewaltsamen Aufstand planen oder befürworten, bei dem Regierung, Eliten und ethnische Minderheiten bestraft, d. h. ermordet werden sollen. Andere sind auf mediale Störung und spektakuläre Bilder aus oder leben ihre Sehnsucht nach einer "Revolution" aus. Einige sind tatsächlich dort, weil man im Internet mit solchen Provokationen und rechter Stimmungsmache gutes Geld verdienen kann. Das ist ein großer Faktor dieses "American fascism": Es ist ein gutes Geschäft.

Hat sich diese Gruppierung auf Donald Trump fixiert oder hat sich Trump der Gruppierung angenähert?

Ein wechselseitiger Prozess der Annäherung. Harte Neofaschisten glauben nicht an politische Lösungen, sahen in Trump aber einen opportunen Partner. Andere sind durch Trump und die Diskussionen, die seine Figur auslöste, radikalisiert worden. Der rassistische Unterboden, auf dem alle diese Bewegungen stehen, ist aber älter und breiter als die Figur Trump: Nicht umsonst brachten sie Südstaatenflaggen mit ins Kapitol, die bekanntlich für ein segregiertes Amerika und für "white supremacy" stehen.

Der Politikwissenschaftler Dr. Thunert äußerte in einem Interview mit RT DE, dass Trump-Anhänger "in ihrer eigenen Welt leben". Wie ordnen Sie deren Weltanschauung ein?

Ich glaube, es gibt in der Tat gerade mehrere Amerikas, deren Einwohner völlig unterschiedliche Zugänge zur Welt, zur Gesellschaft oder zum Mediengeschehen haben. Wer davon spinnt, d. h., wessen Weltsicht gilt, ist weitgehend eine Machtfrage und eine Mediensache. Daher waren die Kapitol-Stürmer eher an Bildern als an Gewalt interessiert: Sie kämpfen einen Bilderkrieg und einen Kulturkampf. Ihr Schlachtfeld sind wesentlich das Internet und die Parallelöffentlichkeiten, die dort entstehen.

Dieser Kulturkampf hat auch, wie die vielen rassistischen Anschläge und Morde der letzten Jahre gezeigt haben, reale gewaltsame Folgen. Das ist ein wichtiger Aspekt dieser "eigenen Welt", die "Trumpisten" und Rechtsextreme oft teilen: Sie ist grundlegend rassistisch, und in ihr sind die "white Americans" eine Gruppe, die sich gegen ihre Entrechtung verteidigen muss. Wer sich nur kurz mit den rassistischen Grundstrukturen der USA (oder des Westens) beschäftigt, weiß, wie realitätsfern und falsch das ist.

Die Wählerschaft und auch seine Anhänger existieren ja weiter. Wie wird es nach Trump in den USA weitergehen?

Die 76 Millionen, die Donald Trump im Amt bestätigen wollten, werden nicht geschlossen nachgeben. Ihrem Gefühl nach leben sie schon in einem "anderen Amerika", das sowieso immer in Gefahr ist. Es wird sich in den nächsten Jahren zeigen, wie groß und dauerhaft die Macht der rechten, rassistischen und faschistischen Gegeninformation ist. Sie geht unabhängig von Wahl, Regierung oder sozialer Wirklichkeit weiter.

Die organisierte Rechte – "white nationalism", Neofaschismus – wird die verlorene Wahl (und alles, was folgt) zum "Nationalisten-Trauma" ernennen und daraus Profit schlagen. Seit vielen Jahren setzt rechte Agitation darauf, eine große "Oppositionsbewegung" zu repräsentieren. Auf diese Weise will sie viele Menschen ansprechen und miteinander vernetzen. Große Aufreger wie die Wahl oder das Kapitol nutzen sie dafür gnadenlos aus. Wenn sie keine Aufreger finden, erfinden sie selbst welche. Ich glaube, wir stehen erst am Anfang eines langen und gewaltvollen Zerfallsprozesses. Nicht nur in den USA im Übrigen.

Welche Rolle spielen die Medien für den Spannungsaufbau bei und nach der US-Wahl?

Die "Medien" sind ein unüberschaubarer Bereich: Von den großen TV-Sendern bis zur kleinsten Facebook-Gruppe kann massive Spannung aufgebaut werden. Der "Kapitol-Sturm" wurde zum Beispiel stark auf einem rechten Forum namens "thedonald.win" herbeigewünscht und teilweise geplant. Diese Foren, oder auch nationalistische Youtube-Kanäle, haben teilweise den Status rechter Massenmedien erreicht. Sie produzieren eine eigene Weltsicht und auch viele Medienereignisse, die nur begrenzt real sind, aber emotional sehr stark wirken. Gut wäre es, wenn die sogenannten Leitmedien diesen rechten Medien nicht mehr auf den Leim gingen und deren Erfindungen reproduzierten.

Wie schätzen Sie Trumps Präsenz in den sozialen Medien ein? War die temporäre Sperrung von Trumps Twitter-Account eine angemessene Maßnahme, um die Situation in Washington, D.C. in den Griff zu bekommen?

Trump ist nun komplett gesperrt auf einer Reihe von Plattformen, die lange von seinen Provokationen profitierten. Die Sperrung kommt Jahre zu spät und wirft mindestens zwei Probleme auf: Das sogenannte Deplatforming sollte ein politischer Prozess sein, keine Alleinentscheidung von CEOs. Und weiter: Desinformation wird nicht verschwinden oder weniger werden, weil Donald Trump nicht mehr twittert. Es gibt unzählige Kanäle, Akteure und Plattformen. Wie diese zu handhaben oder zu regulieren sind, ist eine komplexe Frage, die eine breite Debatte erfordert. Außerdem treffen Sperrungen und Zensur nie nur faschistische Kanäle, sondern auch oft Menschen, die gerade gegen Rechte recherchieren und arbeiten. Der Zugang zu Plattformen ist eine der entscheidenden Fragen der Gegenwart.

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