von Darius Shahtahmasebi
Wer wird al-Baghdadis Thronerbe?
Nachdem das US-Militär im Oktober vergangenen Jahres angeblich den IS-Anführer Abu Bakr al-Baghdadi getötet hatte, wurde viel darüber spekuliert, wer seinen Platz einnehmen würde. Laut Times ist der neue IS-Chefterrorist Amir Mohammed Abdul Rahman al-Mawli. Ein Anführer, der für die Planung des Völkermords an den Jesiden im Nordirak verantwortlich ist.
Aufgrund seiner schillernden Vergangenheit, unter anderem in seiner Rolle bei der Ermordung von 5.000 Jesiden und der Versklavung von Hunderten von Frauen und Kindern, haben die USA al-Mawli erst kürzlich zu einem "specially designated global terrorist" (dt. ungefähr: "erwiesener, global agierender Terrorist") erklärt. Durch diesen Status betrachten die Vereinigten Staaten jegliche Unterstützung für al-Mawli automatisch als Verbrechen.
Stutzen fördert Wachstum: Wie die USA den IS und Al-Qaida durch gezielte Tötungen stärken
Obwohl nicht oft darüber gesprochen wird, scheinen die USA in der jüngsten Geschichte eine sonderbare Tendenz an den Tag zu legen: Sie vernichten Terroristenanführer, die aber durch noch gefährlichere Terroristen ersetzt werden.
Nehmen wir zum Beispiel die gezielte Tötung von Osama bin Laden im Jahr 2011. Entgegen der landläufigen Meinung konnte bin Laden in den Jahren vor seinem Tod kaum als funktionsfähiger Führer von Al-Qaida angesehen werden. Tatsächlich soll sich bin Laden in Abbottabad in der pakistanischen Provinz Khyber nicht aus dem Grund versteckt haben, weil die verbliebene Führungsriege der Al-Qaida-Führungsriege ihn schützen wollte, sondern weil er im Wesentlichen von dieser ins Exil gezwungen worden war.
Hier stellt sich natürlich die Frage: Wieviel Weisungskapazität kann man überhaupt umsetzen, wenn man einmal eben für ein Jahrzehnt permanent untertaucht?
Nach der Analyse der Dokumente, die bei der Durchsuchung des Geländes in Abbottabad gefunden wurden, konnten die Zuständigen in den USA kein einziges Beispiel dafür anführen, dass Bin Laden tatsächlich Weisungen für einen echten, die Al-Qaida einbeziehenden Aktionsplan, erteilt hatte. Mehr noch: Bin Ladens Nachfolger Aiman al-Sawahiri wurde oft als weitaus todbringender angesehen als Bin Laden selbst. Zu den ersten Schritten Sawahiris nach Bin Ladens Tod gehörte die Ankündigung einer offiziellen Allianz mit der blutrünstigen somalischen Terrorgruppe al-Schabaab. Man tut sich daher schwer mit der Vorstellung, dass der Tod Bin Ladens die Al-Qaida in irgendeiner Weise geschwächt haben soll.
Im Jahr 2011 bekannten sich die USA zur Tötung des radikalislamischen Predigers Anwar al-Awlaki. Dieser war US-Bürger, wurde mit Terroranschlägen in westlichen Ländern in Verbindung gebracht und setzte sich für diese als ein "Bin Laden des Internets" öffentlich ein.
Damals gab es Spekulationen darüber, dass al-Awlaki eine führende Rolle in der Al-Qaida übernehmen sollte. (Anm. d. Red.: Awlaki war der erste US-Bürger, dessen Tötung ohne Gerichtsverfahren offiziell durch die US-Regierung in Auftrag gegeben wurde. Sein nur 16 Jahre alter Sohn Abdulrahman, ebenfalls US-Bürger, kam zwei Wochen später bei einem US-Drohnenangriff ums Leben. Im Jahr 2017 kam Awlakis achtjährige Tochter bei einem Angriff beziehungsweise einer Razzia durch Sondereinheiten der US-Kriegsmarine gegen wichtige Al-Qaida-Funktionäre im Jemen ums Leben. Man kann sich leicht ausmalen, dass die Tötung, im Gegensatz etwa zu einer Inhaftierung, eines rein ideologischen Anführers wie Awlaki samt Familie einen Märtyrer schaffte und so eher zur Radikalisierung von Muslimen beitrug, anstatt sie einzudämmen.)
Ebenfalls im Jahr 2011 kam es zu einem Drohnenangriff im pakistanischen Süd-Wasiristan. Hierbei wurde ein hochrangiges Al-Qaida-Mitglied und ein Feldkommandeur eliminiert. Noch im selben Jahr und auch in Pakistan wurde bei einem US-Drohnenangriff Atijah Abd al-Rahman, einer der ranghöchsten Anführer der Organisation, getötet. Im Jahr 2012 tötete ein CIA-Drohnenangriff außerdem Abu Jahja al-Libi, den stellvertretenden Anführer der Al-Qaida in Pakistan.
Dieses Handlungsmuster setzt sich schon seit einiger Zeit fort. Doch ganz gleich, wie oft die USA einen Chefterroristen töten: Das Terrornetzwerk scheint zusehends zu erstarken. Bis zum heutigen Tag.
Natürlicher Terroristenkreislauf wird offenbar
Die US-Regierung und ihre Lakaien in den Medienkonzernen überbieten sich jedes Mal in Freudensang und Jubelreigen, wenn Washington einen prominenten Terroristenanführer ausschaltet. Tatsache bleibt aber, dass die USA schon seit geraumer Zeit diese Anführer außergerichtlich töten, dass diese Getöteten rasch wie Zahnrädchen in einem Mechanismus durch neue ersetzt werden, und dass sich der "natürliche Terroristenkreislauf" ungehindert fortsetzt.
Im Jahr 2002 ermächtigte die Bush-Regierung die CIA zum Mordanschlag gegen einen mutmaßlichen Anführer der Al-Qaida im Jemen. Die Operation gelang. Kommen wir zur Gegenwart: Die USA betrachten Al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel (AQAP, engl. Akronym für "Al-Qaida on the Arabian Peninsula"), den im Jemen wütenden Al-Qaida-Zweig, nach wie vor als einen der tödlichsten Ableger der Organisation.
Erst Anfang dieses Jahres nahmen die USA einen weiteren Anführer der AQAP ins Visier und töteten ihn. Man erklärte uns zwar, dies habe der Terrorgruppe einen "bedeutenden Schlag" versetzt. Doch scheint dieses Leitmotiv immer wiederzukehren, ohne dass die Wellen des im Nahen Osten und darüber hinaus wogenden Extremismus durch solche Tötungen wirklich eingedämmt würden.
Man kann darauf wetten: Die Meisten sind sich nicht einmal bewusst, dass die AQAP ihre eigene Zeitschrift Inspire hat, die den "individuellen Terrorismus" stark fördert. Braucht die Al-Qaida dann überhaupt eine Führung? Und wenn nicht, warum bestehen die USA auf dieser Strategie der Enthauptung von Terrororganisationen?
Die Geister, die ich rief: Wie die USA al-Mawli schufen
Auch und gerade weil die USA damit schnell bei der Hand sind, jegliche Unterstützung für al-Mawli zu kriminalisieren, wäre jetzt vielleicht ein guter Zeitpunkt daran zu erinnern, dass Washingtons Außenpolitik einen Mörder wie al-Mawli überhaupt erst erschuf.
Als Paul Bremer nach dem Einfall der USA in den Irak im Jahr 2003 die Leitung der CPA (Coalition Provisional Authority, die Übergangsverwaltung der Koalition im Irak) auferlegt bekam, war einer seiner ersten Schritte die Entlassung Hunderttausender Polizei- und Militärangehöriger. Nach Angaben von CNN wurden allein durch diese Entscheidung schätzungsweise 350.000 bis 400.000 Sicherheitskräfte von einem Tag auf den nächsten auf die Straße gesetzt. Wie ein hoher US-Regierungsbeamter damals erklärte, war dies der Tag, an dem die USA sich eine Viertelmillion Feinde im Irak machten.
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Einige davon waren erfahrene und kampferprobte Kommandeure, die unter Saddam Hussein Krieg gegen den Iran gedient hatten. Nicht wenige von ihnen waren echte Säkularisten, also alles andere als religiöse Fanatiker.
Auch al-Mawli, der in Saddam Husseins Armee diente, war ein solcher Offizier. Hätten die USA den irakischen Staat nicht gestürzt, gäbe es die Bedrohung, die al-Mawli heute für die internationale Gemeinschaft darstellt, nicht.
In ihrer Gesamtheit betrachtet scheint die US-Außenpolitik ein immerzu wiederkehrendes Handlungsmuster an den Tag zu legen. Dabei wird zuerst ein bestimmter Staat geschwächt, so dass dort der Terror Wurzeln schlagen kann. Anschließend wird dieses Terroristenproblem durch gezielte Tötungen der Terroristenanführer verschärft und verstärkt. Wäre diese These nicht wahr, dann wäre doch zu erwarten, dass der Terror jedes Mal abnimmt, wenn die USA eine prominente Führungsperson der Al-Qaida ausschalten. Zu sehen bekommen wir aber das Gegenteil. Im Laufe der Jahre haben wir gesehen, wie sich Al-Qaida wandelte, ausbreitete und immer stärker wurde. Obwohl die USA mehrere erfolgreiche Operationen vorweisen können, bei denen Chefterroristen getötet wurden.
Al-Mawli wird da keine Ausnahme darstellen. Falls die USA beschließen, den derzeitigen IS-Chef zu beseitigen, dürfte aller Wahrscheinlichkeit nach ein noch zäherer, härterer Anführer seinen Platz einnehmen. Parallel dazu wird die Terrororganisation entschlossen das Konzept des "individuellen Terrorismus'" weiterentwickeln und popularisieren. Dieses hat bereits jetzt Mitglieder von IS- und Al-Qaida auf breiter Front zu neuen Untaten inspiriert.
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Übersetzt aus dem Englischen. mDarius Shahtahmasebi ist ein in Neuseeland ansässiger Rechts- und Politikanalytiker, der sich auf die US-Außenpolitik im Nahen Osten, in Asien und im Pazifikraum konzentriert. Er ist als Rechtsanwalt an zwei internationalen Gerichtsbarkeiten akkreditiert.
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