von Anna Belkina
Meldungen über einen brandneuen EU-Bericht, der noch immer geheim ist, aber lückenlos an Reuters und die Daily Mail durchsickerte, führten in den letzten Tagen zu über hundert Schlagzeilen in ganz Europa.
Der Bericht soll vom Europäischen Auswärtigen Dienst (EAD) erstellt worden sein. Und obwohl der EAD – wahrscheinlich unter Einhaltung von Richtlinien zur sozialen Distanzierung – keine Lust hatte, RT das Papier bereitzustellen, legen anekdotische Hinweise nahe, dass unser Sender ein wesentlicher Bestandteil des Berichts selbst ist. Zumindest wurde RT in der Berichterstattung zumeist prominent hervorgehobenen:
Der Daily Express warf den russischen Medien einschließlich RT eine mörderische Verschwörungen vor:
Russland plant, die Zahl der Coronavirus-Todesopfer in Europa mit gefälschten Nachrichten zu erhöhen. Ein kürzlich veröffentlichter Bericht des vom Kreml unterstützten Senders Russia Today zeigte Briten, die die Abschottung ignorierten und den spanischen Badeort Benidorm besuchten.
Die Financial Times sah die wahre Bedrohung in der wachsenden Beliebtheit von RT:
RT Spanish – eine Filiale der staatlich geförderten russischen Nachrichtenagentur, die früher unter dem Namen Russia Today bekannt war – verzeichnete zwischen dem 1. Januar und dem 12. März mehr als 6,8 Millionen geteilte Artikel auf Facebook, Twitter und Reddit über Coronavirus-Inhalte, so die Analyse. Das machte es zur zwölft beliebtesten Quelle unter den untersuchten Domains, noch vor einigen großen westlichen Medienunternehmen.
Im Vergleich zu den anderen war Reuters noch relativ zurückhaltend:
Auch Russland verstärkt eindeutig seine eigenen Bemühungen, das internationale Narrativ zu gestalten. Zur am meisten gelesenen Nachricht von Russia Today wurde an diesem Wochenende die drastische Reduzierung der bevorstehenden US-geführten Übung 'Defender 2020' in Europa und die Verspottung der Vereinigten Staaten, weil sie nicht bereit sind, eine Infektion zu riskieren, um ihr Engagement für den Kontinent zu demonstrieren.
The Independent bekräftigte die Paranoia des EU-Establishments und schrieb:
Die EU beschuldigt Russland, den Westen mit einer Coronavirus-Desinformationskampagne destabilisieren zu wollen. Die EU-Analyse deutet darauf hin, dass vom Kreml finanzierte Medien wie RT bewusst 'apokalyptische Geschichten' vorangetrieben haben. Es zitiert 'Fake News', die von Russland in Italien, dem westlichen Epizentrum der Krise, geschaffen wurden, laut denen die Gesundheitssysteme anderswo nicht in der Lage wären, damit fertig zu werden – und dass Menschen zum Sterben zurückgelassen wurden.
Ich werde gleich auf Italien zu sprechen kommen. Behalten Sie aber im Hinterkopf, dass der Bericht des Independent nur vier Tage nach dem Bericht der britischen Zeitung The Guardian mit folgender Schlagzeile erschien:
Das Coronavirus könnte britische Ärzte dazu zwingen, zu entscheiden, wen sie retten wollen. Ein Mangel an Ressourcen könnte bedeuten, dass jüngere, gesündere Patienten vorrangig behandelt werden, während andere sterben müssen.
Diese kognitive Dissonanz ruft bei mir Halluzinationen hervor.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Massenmedien hunderte Artikel über die Bedrohung durch russische Desinformationen veröffentlicht haben, in denen sie RT in den Vordergrund stellten, ohne jedoch ein einziges Beispiel für eine "Falschmeldung", einen Fehler, eine Ungenauigkeit oder eine besagte "Desinformation" zu liefern. Es wurde kein auch noch so winziger Beweis angeboten, um RT in irgendeinem Artikel mit solchen Aktivitäten in Verbindung zu bringen – weil es keinen gibt. Jetzt sagen Sie mir, wer hier wirklich Desinformationen verbreitet.
Es gibt natürlich Fälle von Fehlinformation, Desinformation und altmodischer Fehlberichterstattung über die Coronavirus-Pandemie. Das US-Magazin Foreign Policy zum Beispiel hat im Januar drei solcher Geschichten entlarvt – alle aus US-amerikanischen und kanadischen Medien stammend.
Dieses Phänomen ist leider nicht untypisch angesichts einer neuen, schnell wachsenden, kaum verstandenen Bedrohung, gegen die kein Teil der Welt und auch keine Medien eines Landes immun sind.
Warum also RT und warum Russland? Russland hat keine Memes über die Desinfektionsmittel für Hände geschaffen, obwohl wir sie jetzt mit ebenso viel Freude teilen wie unsere US-amerikanischen und deutschen Kollegen. Russland hat weder die Vorschläge des Vereinigten Königreichs zur Herdenimmunität, noch Berichte über italienische Krankenhäuser erfunden. Letztere sind so sehr um Ressourcen bemüht, dass sie Patienten nach Alter und Heilungschancen priorisieren müssen.
Wie wir den Schlagzeilen in der Presse entnehmen können, ist die Kernprämisse des EAD-Papiers, dass Russland bewusst eine "Desinformationskampagne" betreibt, um Europa schlecht aussehen zu lassen, das Vertrauen der Öffentlichkeit zu untergraben und das "europäische Projekt" endgültig zum Scheitern zu bringen.
Da die oben genannten Beispiele aber – so schädlich sie für das europäische Image auch sein mögen – auf der Realität beruhen, wie kann dann Russland daran schuld sein? Indem sie eine verantwortungsvolle und sachliche Berichterstattung als eine ausländische Desinformationskampagne darstellen, tun der EAD und die Mainstream-Medien so, als sei ihr größtes Problem die PR, nicht die Pandemie selbst.
Um die Ursache dieser eher beunruhigenden Dissonanz zu begreifen, ist es wichtig zu verstehen, wer hinter dem Bericht steht. Der EAD, der die East Stratcom Task Force gründete, die wiederum die zweifelhafte Webseite EUvsDisinfo hervorbrachte, verließ sich eindeutig auf die Arbeit dieser Abteilungen. Die Daily Mail drückte es so aus:
Die von der Daily Mail analysierten Informationen wurden von EUvsDisinfo, einem Projekt des Europäischen Auswärtigen Dienstes (EAD), das von der Europäischen Union finanziert wird, zusammengetragen.
In ihren eigenen Worten:
EUvsDisinfo ist das Vorzeigeprojekt der East StratCom Task Force des Europäischen Auswärtigen Dienstes.
EUvsDisinfo startete mit dem erklärten Ziel, Desinformationen zu verfolgen, zu bekämpfen und zu korrigieren. Und als solche gelten per Definition alle Tatsachen oder Meinungen, die die EU in einem schlechten Licht erscheinen lassen – insbesondere wenn diese aus Russland kommen.
Der Ruf von EUvsDisinfo erlitt vor einigen Jahren einen schweren Schlag, als das EU-Projekt drei verschiedene Berichte über die Ukraine durch unabhängige niederländische Medien als "Fake News" bezeichnete. Die Berichte waren sachlich und objektiv und befassten sich mit Fragen der Korruption, den Rechten der LGBTQ und dem Rechtsextremismus in der Ukraine. Nach Ansicht von EUvsDisinfo kommt jedes Eingeständnis solcher Probleme in einem EU-Bewerberland einer Desinformation des Kreml gleich, weshalb diese Berichte leichtsinnig mit dem Etikett "Fake News" versehen wurden.
Die niederländischen Medien haben mit Unterstützung ihrer Regierung dagegen geklagt – und gewonnen. Seitdem hat sich EUvsDisinfo neu kalibriert, um nur noch "russische Desinformation" zu verfolgen, indem man wie besessen meist inländische russische Talkshows verfolgt und akribisch vermeldet, wenn jemand der EU nicht den gewünschten Respekt zollt.
EUvsDisinfo ist eine politische Gedankenpolizei, die sich als unparteiischer Beobachter tarnt, tatsächlich aber dem Anspruch auf Ausgewogenheit in keiner Weise gerecht wird. Ihrer Ansicht nach sind alle Probleme der EU das Ergebnis von Kreml-Desinformationen oder existieren nur in der russischen Propaganda. Die Gründlichkeit ihrer Analyse ist in etwa so, als würde man behaupten, dass der Coronavirus nur asiatische Männer an der Westküste der USA betreffe und eine Sterblichkeitsrate von 50 Prozent aufweise, nachdem man zwei mit dem Virus infizierte Männer in Chinatown von Los Angeles entdeckt hat, von denen einer stirbt.
Letzter Fakt: RT-Beiträge, wie zweifelhaft sie auch sein mögen, machen nur lächerliche zwei Prozent der Gesamtzahl in der umfangreichen Datenbank von EUvsDisInfo aus. Dennoch versäumen es die Sprecher und Pressemitteilungen der Projektgruppe nie, RT als ihre eigene Daseinsberechtigung und als die Hauptgefahr für die Zivilisation darzustellen, wenn sie sich für die nächste Finanzierungsrunde ihres Projekts einsetzen. Sie wissen, wie gute PR geht.
Wie auch immer die Prognosen aussehen mögen: die Coronavirus-Pandemie ist bereits eine zu reale Herausforderung für die Welt, als dass diese Zeit hätte, einem Phantom nachzujagen. Und zum ersten Mal seit langem, von Südkorea über Russland und Italien bis hin zu den USA, lachen wir gemeinsam über Toilettenpapier-Memes, weinen über kranke Angehörige und machen uns Sorgen über die kurzfristige soziale Isolation und die langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen. Dies ist die Zeit, in der wir uns zu wirklich globaler Verständigung, Zusammenarbeit und Unterstützung bekennen. Die zwischenzeitlichen Bemühungen des EAD, Zwietracht zwischen Völkern und Nationen zu säen, sind nicht nur beschämend, sondern auch gefährlich.
RT bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.
Anna Belkina ist stellvertretende Chefredakteurin von RT und Leiterin der Bereiche Kommunikation, Marketing und strategische Entwicklung.
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