von Andreas Richter
Die politische Debatte in Deutschland treibt derzeit noch wildere Blüten als das politische Geschehen. Man gewöhnt sich daran, dass vermeintliche Demokraten im politisch-medialen Mainstream auch dann noch als Demokraten durchgehen, wenn sie bei der Verteidigung der Demokratie autoritäre Mittel anwenden. Thüringen lässt grüßen.
Und der derzeitige Gottseibeiuns der deutschen Politik, die AfD, wird ebendort schon aus Gewohnheit als faschistisch und Wiedergänger der NSDAP dargestellt, was erstens eine groteske Überzeichnung der Realität ausdrückt, zweitens eine Relativierung der Verbrechen der echten Nazis und eine Beleidigung der Opfer ist und drittens die zahlreichen Parallelen zur sogenannten politischen Mitte und deren problematischen Seiten und Kontinuitäten zur Vergangenheit ausblendet.
Doch es bleibt nicht bei der wilden und meist sinnfreien Verwendung der Begriffe Demokratie, Faschismus und auch Sozialismus. Nun werden auch noch die ohnehin zunehmend überstrapaziert wirkenden Begriffe links und rechts auf absurde Weise fehlinterpretiert und unbrauchbar gemacht.
So lieferten sich am Dienstag auf Twitter der Journalist und Blogger Tilo Jung und der Politiker Marcus Pretzell einen absurden Schlagabtausch. Jung stellte zunächst in einer Antwort auf eine Nutzerin fest, dass es so etwas wie "linke Faschisten" nicht gebe. Darauf antwortete der frühere AfD-Mann Pretzell mit der Frage:
Was waren denn Stalin, Mao und Che Guevara?
Jung, der RT Deutsch trotz oder wegen jahrelanger gemeinsamer Besuche der Bundespressekonferenz verbunden ist und auf Twitter geblockt hat, antwortete in einem mittlerweile gelöschten Tweet in doppeltem Sinne losgelöst von den Fakten:
Autoritäre Herrscher, Diktatoren ... rechter geht's gar nicht.
Pretzell fragte nach:
Nur damit ich es verstehe: Die DDR war auch rechts, ja?
Die Bestätigung von Jung kam prompt:
DDR war bis 89 ein autoritäres Regime. Ergo rechts.
Der frühere Focus-Korrespondent in Moskau, Boris Reitschuster, bereicherte die Debatte um eine weitere absurde Volte, indem er Jung beschuldigte, mit seiner Etikettierung der DDR als rechts den Sozialismus "weißzuwaschen". Im Gegenzug verortete Reitschuster die Nazis (die echten wohlgemerkt) unter Berufung auf die Historiker Arnulf Baring und Joachim Fest auf der linken Seite des politischen Spektrums.
Eine derartige Begriffsverwirrung ist wohl nur damit zu erklären, dass in Zeiten, in denen die Fassade alles und die Substanz nichts bedeutet, viele Beobachter schlicht nicht mehr in der Lage sind, Form von Inhalt zu unterscheiden. Anders ist kaum verständlich, wie Jung die autoritäre Herrschaftsform der DDR mit ihrem Inhalt verwechseln kann. Jung wie auch Reitschuster werten das Autoritäre als der Seite des politischen Spektrums zugehörig, der sie sich selbst nicht zurechnen.
Ergiebiger ist allerdings die Frage nach der politischen Essenz. Und hier lohnt es sich, auf die klassischen Definitionen von links und rechts zu erinnern. Die Linke geht traditionell von der Gleichheit der Menschen aus und zielt auf die Emanzipation der benachteiligten Teile der Gesellschaft durch kollektives Handeln. Die Rechte sieht die Teilung in verschiedene Stände, die politisch und ökonomisch in ganz unterschiedlichem Maße mächtig sind, als natürlich oder gottgegeben an.
Es braucht keine historischen Detailkenntnisse, um zu erkennen, dass die DDR, die die bis dahin herrschenden Klassen entmachtete und enteignete und die Benachteiligten förderte, in diesem Sinne selbstverständlich als links einzuordnen ist; das NS-Regime, das von den alten Eliten zu dem Zweck installiert wurde, die organisierte Arbeiterschaft im Sinne des Kapitals zu zerschlagen, als rechts.
Wie weit die begriffliche Verwirrung fortgeschritten ist, zeigt sich auch bei einem Blick auf die mediale Beschreibung der heutigen Parteienlandschaft. Wie selbstverständlich wird dort überall von einem "Linksruck" der Union gesprochen, SPD, Grüne und Linke werden wie selbstverständlich als links dargestellt. Dieses Linkssein ist mittlerweile fast rein kulturell und hat das Soziale mit seiner Konzentration auf Gender und Migration aus dem Blick verloren. Überspitzt gesagt geht es den vermeintlich Linken im besten Fall noch darum, das Los der Sklaven erträglich zu gestalten, nicht um die Abschaffung der Sklaverei.
Was ist nun mit der bundesdeutschen Demokratie? Bei all den großen Worten, die heute zum Thema verloren werden, sollte man nie vergessen, dass diese von den Trägern des NS-Regimes aufgebaut und schon in der Anfangszeit nicht besonders demokratisch mit vermeintlichen und tatsächlichen Oppositionellen umging.
Zu erinnern ist auch daran, dass wichtige Grundsatzentscheidungen regelmäßig gegen den Willen der Bevölkerungsmehrheit getroffen wurden und werden. Dennoch bot die parlamentarische Demokratie dem Großteil der Bürger lange soziale Sicherheit und Aufstiegschancen. Stabilität erlangte sie auch dadurch, dass sie in der Lage war, Probleme angemessen zu debattieren und Interessen auszugleichen.
All das kommt derzeit an ein Ende. Die ökonomisch gesicherte Mittelschicht löst sich als Folge einer seit Jahrzehnten gnadenlos durchgesetzten neoliberalen Politik zunehmend auf. Die Art und Weise, wie die Partikularinteressen einer zahlenmäßig kleinen Gruppe durchgesetzt werden, in der Ära Merkel als "alternativlos", lassen sich kaum noch als demokratisch beschreiben. Die Art und Weise, wie die Demokratie derzeit von ihren angeblichen Unterstützern gegen ihre angeblichen Gegner verteidigt wird, schon gar nicht. Dass diese schon gewohnheitsmäßig als "Nazis" verunglimpft werden, ist auch ein Beispiel für die vollständige Um- und Entwertung der Begrifflichkeiten.
Die Verwahrlosung der politischen Debatte ist natürlich, das zeigen die Auswüchse auf Twitter, auch eine Folge der grassierenden (marktkonformen) Unbildung und Geisteslosigkeit. Doch sie ist vor allem auch ein politisches Instrument. Wer die Hoheit über die Begriffe besitzt, und das ist immer noch das politisch-mediale Establishment, kann bestimmen, wer als gut, wer als böse gilt – und damit auch jeder inhaltlichen Debatte aus dem Weg gehen. Die falschen Etiketten dienen letztlich dazu, eine gegen die Interessen der Bevölkerungsmehrheit gerichtete Politik unter falscher Flagge noch eine Weile fortführen und ihre Kritiker diskreditieren zu können. Ganz nebenbei wird jedes Nachdenken über wirkliche Alternativen auf diese Weise unmöglich gemacht.
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