von Zlatko Percinic
Ob Osama bin Laden tatsächlich im Paradies und dort von 72 Jungfrauen umgeben ist, wie es die islamistische Propaganda gerne hätte, ist ungewiss. Wo immer er auch sei, ziemlich sicher würde er aber grinsen über die Entwicklung, die seiner Organisation Al-Qaida seit seinem eigenen Tod 2011 widerfahren ist. Seit den Anschlägen am 11. September 2001 in New York und Washington galt Bin Laden als der Teufel in menschlicher Gestalt, den es wieder in das Reich der Unterwelt zu befördern galt.
Mit dem Tod des einst gefürchteten Al-Qaida-Chefs am 2. Mai 2011 im pakistanischen Abbottabad endete aber keineswegs die Geschichte "seiner" Terrororganisation. Sie fand in Syrien nicht nur ein neues Betätigungsfeld, sondern noch etwas viel Wertvolleres: Einen Weg zur Absolution durch den Westen.
Umbenannt in Dschabhat an-Nusra, späteres Rebranding in Dschabhat Fath asch-Scham und heute zu Hai'at Tahrir asch-Scham (HTS) machte sie zur Speerspitze des vom Westen und einigen Golfstaaten verfolgten Regime-Change-Projekts in Damaskus. Anfänglich erfolgte die Zusammenarbeit ehemaliger Gegner über "moderate" Gruppierungen, an die große Mengen von Waffen geliefert wurden. Und mittendrin der US-Geheimdienst CIA. Aus kroatischen Restbeständen und dem zerbombten Libyen wurden hunderte Tonnen an Waffen und Munition nach Syrien gebracht, die am Ende in den Händen von Terroristen landeten. Das führte dazu, dass das US-Außenministerium von Hillary Clinton feststellte:
AQ (Al-Kaida) ist auf unserer Seite in Syrien. Ansonsten haben sich die Dinge wie erwartet entwickelt.
Von Anfang an war aber die Türkei das wichtigste Bindeglied zu Dschihadisten und Terroristen jeglicher Couleur, die in den Grenzgebieten ihr Unwesen trieben. In deutschen Medien erfuhr man aber davon so gut wie gar nichts. Zu tief war auch die Bundesregierung in das Projekt zum Sturz von Präsident Baschar al-Assad verwickelt, als dass ein Interesse bestanden hätte, die "Partner" bei diesem Vorhaben genauer zu beleuchten. Am Anfang waren es ehrenwerte "Aufständische" und "Rebellen" und als immer schrecklichere Bilder von Kopfabschneidern und Kannibalen aus Syrien auftauchten, nannte man sie immer noch "moderate Rebellen".
Diese Fassade konnte so lange aufrechterhalten werden, bis Russland Ende September 2015 auf Einladung der syrischen Regierung in den Krieg eingriff. Plötzlich geriet der florierende Ölhandel zwischen den Dschihadisten des sogenannten Islamischen Staats und der Türkei unter Druck, als die russische Luftwaffe Bilder von den kilometerlangen LKW-Kolonnen mit Ölladungen machte und schließlich auch dort angriff.
Schließlich sorgte die Verabschiedung der UN-Resolution 2249 dafür, dass der Terrorismus als Bedrohung für den Weltfrieden eingestuft wurde. Und erst diese Resolution legte auch den Grundstein für die sogenannte Anti-IS-Koalition, aber auch dafür, was derzeit in Idlib passiert. Die UN-Mitgliedsstaaten wurden aufgefordert, "alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen", um "den sicheren Zufluchtsort" von ISIS, sowie "der Al-Nusra-Front und allen anderen mit Al-Qaida verbundenen Personen, Gruppen, Unternehmen und Einrichtungen und anderen terroristischen Gruppen zu beseitigen, den sie in erheblichen Teilen Iraks und Syriens geschaffen haben". Mit anderen Worten erteilte der UN-Sicherheitsrat den Staaten einen Freibrief, die Terrororganisationen im Irak und Syrien auszuschalten.
Genau das haben die syrischen Truppen mit Hilfe von Russland, dem Iran und schiitischen Milizen aus Afghanistan, Irak und Libanon getan und tun es immer noch. Doch die westliche Staatengemeinschaft war nicht bereit, diese UN-Resolution auch vollumfänglich umzusetzen, da sie im zu krassen Gegensatz zu den selbst verfolgten Regime-Change-Plänen stand. Wer sollte dann die Kämpfe gegen die syrischen Truppen führen, wenn Al-Qaida & Co. vernichtet sind? Deshalb konzentrierte sich die westliche Anti-IS-Koalition allein auf den IS und ließ die anderen Terroristen weiter gewähren.
Die grünen Dschihadisten-Busse
Im Verlauf des Jahres 2016 wandelte sich langsam der Charakter des Krieges in Syrien. Es gelang den Regierungstruppen und ihren Alliierten, in die Offensive zu gehen, und sie begannen, verlorengegangenen Boden wiedergutzumachen. Dabei wurden jene grünen Busse weltberühmt, die Syrien 2009 aus China erhalten hatte und die seinerzeit eigentlich ein Symbol für den Aufschwung des Landes markieren sollten. Stattdessen wurden die Busse nun zu einem Symbol für die Niederlage von Dschihadisten und Terroristen. Tausende Kämpfer und ihre Familien konnten so eingekesselte Ortschaften verlassen, und wurden zunächst einfach in Gebiete umgesiedelt, die immer noch unter der Kontrolle von "Rebellen" standen.
Am Ende blieb dafür nur noch die Provinz Idlib übrig, die jahrelang von der Al-Qaida aka Al-Nusra-Front und dem heutigen HTS kontrolliert wurde. Hier blühte auch das Geschäft der sogenannten Weißhelme, jener angeblich uneigennützigen, freiwilligen Helfer, die von westlichen Regierungen mit Millionenbeträgen unterstützt und medial vermarktet wurden. Dass sich in deren Rängen Sympathisanten und Kämpfer von verschiedenen Gruppierungen der Dschihadisten und Terroristen befanden, interessierte dort zumindest niemanden.
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Erst als sich die syrische Offensive in den vergangenen Wochen zuletzt auch gegen Idlib selbst richtete, fanden Politiker und Regierungen in Deutschland, Großbritannien und den USA plötzlich wieder ein höchst bemerkenswertes Interesse an Menschenrechten. Der CDU-Politiker und Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses Norbert Röttgen fand besonders drastische Worte:
Auffällig ist, dass bei der Befreiung von ar-Raqqa in Syrien oder Mosul im Irak aus den Fängen des IS solche Bedenken über die Folgen einer Offensive ausgeblieben waren. Beide Städte wurden durch die von den USA angeführte Koalition in Schutt und Asche gebombt. Allein in ar-Raqqa kamen bei dem Bombenhagel mindestens 1.600 Zivilisten ums Leben. Ein US-Kommandeur brüstete sich damit, dass die US-Armee zwischen Juni und Oktober 2017 rund 30.000 Artilleriegeschosse abgefeuert hatte.
Selbst als die Türkei in der vergangenen Woche in Idlib mit schwerem Kriegsmaterial wie Kampfpanzern (darunter auch deutsche Leopard-2), Mehrfachraketenwerfern und Panzerhaubitzen einmarschierte, gab es keinerlei Kritik von Röttgen & Co. Nicht einmal dann, als Bilder und Videos auftauchten, wie Dschihadisten der HTS mit von der Türkei gelieferten Luftabwehrraketen einen syrischen Hubschrauber abgeschossen haben und anschließend die Leichen der getöteten Piloten hinter Motorrädern wie Viehkadaver durch die Straßen zogen.
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Die vollkommene Verwandlung von Terroristen in Freiheitskämpfer für den Westen wurde erfolgreich vollendet, als US-Außenminister Mike Pompeo erklärte, dass die USA an der Seite "unseres NATO-Alliierten Türkei" stehen.
Indem kein Wort über Al-Qaida mehr verloren wurde, indem ebenso die Tatsache verschwiegen wird, dass ein NATO-Land an der Seite von Dschihadisten in Syrien Krieg führt, wäscht der Westen die Verbrechen dieser Organisation rein. Auch NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg ist sich nicht zu schade zu behaupten, dass das transatlantische Militärbündnis "den Kampf gegen internationalen Terrorismus intensiviert" habe, sich gleichzeitig aber an die Seite der Türkei schlägt und obendrein die syrische Offensive gegen Al-Qaida in Idlib verurteilt.
Und wenn die Kämpfer der aus Al-Qaida hervorgegangenen Organisationen für den Westen jetzt plötzlich keine Terroristen mehr sind, können sie – der weiteren Logik folgend – auch keine Bedrohung für den Weltfrieden mehr sein, deren "sichere Zufluchtsorte" in Idlib "beseitigt" werden sollten, wie es einst mit der UN-Resolution 2249 angestrebt wurde.
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