von Wladislaw Sankin
Nur wenige Staatschefs weltweit haben heutzutage ihre Residenz in so mittelalterlichen Wehranlagen wie in Russland. Das UNESCO-Welterbe Moskauer Kreml, im 15. Jahrhundert erbaut, bleibt immer noch – wie bereits zu Zeiten der Zaren vor Peter I. – das Zentrum der Macht in Russland. Mittlerweile sind im Sprachgebrauch beide Begriffe gleichbedeutend, Kreml bedeutet Macht, die Macht wohnt im Kreml – auch im Russischen.
Noch mehr gilt das aus Sicht der deutschen Presse. Aus den großen Veränderungen im russischen Machtgefüge wurden letzte Woche ein "Kreml-Beben" oder gar ein "Knall" herbeifantasiert. Reichte der Bild im Jahr 2018 schon die Schlagzeile "Enthüllt eine Prostituierte Putins Verbindung zu Trump?", um einen "Kreml-Beben" zu "enthüllen", war es am letzten Mittwoch nichts weniger als die lapidare Rücktrittsankündigung der Regierung, die durch das "Kreml-Beben" einen regelrechten "Knall" auslöste.
Diese Eruption war die direkte Folge einer vom russischen Präsidenten in seiner Jahresbotschaft vorgeschlagenen Verfassungsreform, die künftig die Befugnisse verschiedener Machtorgane neu ordnen solle. In seiner Rede vor der Föderalen Versammlung sprach Putin primär über innere Angelegenheiten Russlands und keineswegs von den neuesten Waffen oder unverrückbaren Prinzipien der russischen Außenpolitik – das waren große Themen der letzten Jahre.
Dennoch, die Nachricht über eine geplante Verfassungsänderung – gefolgt vom prompten Rücktritt des Regierungskabinetts – schlug an diesem Tag wie ein Meteorit in die überrumpelte Medienlandschaft ein. Es schlug auch sogleich wieder die Stunde der "Putinologen" – der Nachfahren seliger Kreml-Astrologen.
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Sie brachten dabei ihre ehrliche Überzeugung zum Ausdruck, was die Medien erwartungsgemäß stets am meisten befürchten – Putin versuche selbstverständlich mit der schlauen Abgabe von mehr Kompetenzen an das Parlament im Grunde nur seine eigene Macht durch andere Gremien noch mehr zu festigen – ähnlich wie schon 2008. Kein Wunder – wie schon oft wurde wieder seine Machtsicherung für die Zeit "danach" beschworen. Dementsprechend wurde sofort nach russischen Stimmen gesucht, die ihre Meinung und Sicht aus den einzig "verlässlichen", nämlich kremlkritischen Kreisen bezogen.
Der Oppositionspolitiker und frühere Ministerpräsident Michail Kassjanow sagte, der Präsident habe die Frage nach seiner Zukunft klar beantwortet: Er werde "für immer" Präsident bleiben, schrieb die Süddeutsche.
Er will absichern, dass er der Sonnenkönig bleibt", sagt Sarah Pagung, Russland-"Expertin" der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), gegenüber FOCUS Online. Vom "ewigen Putin" redete Andrej Gurkow, russischer Journalist der Deutschen Welle bei der Talkrunde des Senders Phönix "Welchen Plan hat Putin?".
Dem Argument, mehr Macht für das russische Parlament bedeute eigentlich mehr Demokratie, hielt er entgegen, mit einer "seriöseren" Staatsduma würde dieses Parlament eigentlich seine Narrenfreiheit verlieren und lediglich zum zweiten Arm des Präsidenten degradiert werden. Da wurde also im Eifer des Gefechts der bisher als "Taschenparlament" geltenden Staatsduma plötzlich eine bisherige "Narrenfreiheit" zuerkannt. Aber egal, was in Russland passiert, wird diesen "Experten" ohnehin niemals recht sein. Denn was Putin auch immer tut, er macht es stets nur aus Machtkalkül und ausschließlich zum eigenen Nutzen.
So bleibt man also wieder im eigenen Feindbild gefangen: Putin ist ein Autokrat, ein Tyrann, ein Despot und er hat das Land unterjocht. Im Endeffekt identifiziert man dabei noch besonders gerne Putin mit Russland. Russland verfüge deshalb als autoritär geführtes Land über keine "Soft Power", so ist der Grundtenor vieler derartigen Analysen. Dadurch soll das schöne Bild eines heilen, werteorientierten und demokratischen Westens noch strahlender und kontrastreicher erscheinen.
Das hat auch einen viel tieferen, nämlich sicherheitspolitischen Sinn. Getreu dem Motto, "Demokratien stehen miteinander nie im Krieg", kann man nur dann ein Schreckensbild von Russland aufrechterhalten, wenn man niemals zugegeben wird, dass auch in Russland eine Art von Demokratie herrscht. Wie sollte man sonst NATO-Manöver im Osten und höhere Rüstungsausgaben gegen solch einen "demokratischen Staat" begründen können? Gegen eine "gefährliche" Autokratie dagegen schon. Putin und sein russisches Machtsystem sind seit 20 Jahren quasi zum "liebsten Feind" und damit unersetzlich geworden.
Und besonders gerne wird die Tatsache ausgeblendet, dass es Boris Jelzin war, der erste demokratisch gewählte Präsident Russlands, der während der Regierungskrise in Oktober 1993 das "abtrünnige" und noch zu Sowjetzeiten gewählte Parlament mit Panzern beschießen ließ und nach seinem Sieg dessen Rechte erheblich beschnitten hatte. Er brauchte tatsächlich damals "freie Hand" für die Durchsetzung von in der Bevölkerung höchst unpopulären "liberalen" und prowestlich ausgerichteten Reformen.
Seit Beginn der Zeit Putins hat Russland zwar erheblich an Stabilität und Souveränität gewonnen. Das politische System hat sich zwar stabilisiert, aber das bleibt bisher in der Tat stark an die Figur Putin gebunden. Nicht nur im Westen wird das als Schwäche empfunden.
Putins Nachfolger muss nicht eine konkrete Persönlichkeit sein, sondern das System der Institutionen. Putin betonte – nicht nur einmal – selbst, dass das Schicksal des Landes nicht in Händen von einer oder mehrerer Personen liegen darf. Die Reformen in diese Richtung sind längst überfällig, denn das heutige politische System entspricht nicht mehr den aktuellen Herausforderungen", sagt Michail Remisow, der Direktor des Instituts für nationale Strategie im Gespräch mit RT.
Russland schafft sein eigenes System der im Westen hochgelobten "Checks und Balances", das die Macht in Händen nur einer Person oder nur eines politischen Clans erheblich einschränkt. Die Vertikale der Macht, die in Russland in den letzten Jahrzehnten gebaut wurde, sei eigentlich nicht stabil, denn einen Stock kann man leicht zum Umstürzen bringen, dagegen sehe eine Pyramide viel beständiger aus, so Remisow. Die chinesische Global Times bewertet diese Reform ähnlich:
Putin wäre besorgt über das mögliche Gerangel und befürchtet, dass die Stabilität der russischen Politik gefährdet ist, wenn sein Nachfolger zu mächtig wird.
Mit der Kritik an einer solchen Reform, die auf die Einschränkung der Macht einer Person gerichtet ist, entlarven sich die westlichen Medien letztlich selbst als unehrlich, wenn sie angeblich Russland von Herzen eine Demokratisierung wünschen, in Wahrheit aber sich selbst als Partei entlarven, deren Interesse eher darin besteht, dass das politische System Russlands so bleibe, wie es derzeit ist – auf eine Person fixiert.
Denn dann könnten womöglich die eigenen Ziele einer Einflussnahme auf die russische Politik durch gezielte Putin-Kritik und Förderung bestimmter gefälliger Persönlichkeiten aus der Opposition besser erreichbar sein.
Dies alles heißt nicht, dass diese politische Reform in Russland, die von manchen wegen ihres längst überfälligen und fundamentalen Charakters "Revolution von oben" genannt wird, nicht auch kritikwürdig sein kann. Aber zu verkennen, dass Russland seinen eigenen Weg zur politischen Reife gehen will und gehen wird – vielleicht auch mit Fehlern und Rückschlägen – wäre wohl doch zu kurzsichtig.
Wenn es der russischen Führung also gelingt, das politische System des Landes so zu modernisieren, dass es besser auf die Herausforderungen der Zeit – vor allem im sozial-ökonomischen Bereich – ausgerichtet ist, wäre das nur zu begrüßen. Und wenn diese Modernisierung zum politischen Erbe von Wladimir Putin gehören wird, dann sollte das bedeuten, dass dieser Politiker in seinem Leben etwas wirklich Staatsmännisches geleistet hat.
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