Fachkräftemangel und Zuwanderung: Der deutsche Raubzug

Am Montag tagte im Kanzleramt der Fachkräftegipfel zur Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte, um den Fachkräftemangel zu beheben. Der Vorwurf, es ginge dabei auch um Lohndumping und Vorteilerschleichung, ist nicht von der Hand zu weisen.

von Gert Ewen Unger

In Deutschland herrscht Fachkräftemangel. In zahlreichen Bereichen gibt es Personalmangel, der nicht mehr über den heimischen Arbeitsmarkt gedeckt werden kann. Zu wenig Bewerber auf offene Stellen bereiten den Unternehmen und Versorgern große Probleme. Bemüht, darauf eine angemessene Antwort zu finden, lud die Bundesregierung am Montag zum "Fachkräftegipfel", ins Kanzleramt.

Es ging dabei um die Anwerbung von ausländischen Fachkräften im großen Stil. Schon jetzt steht fest: Die Bundesrepublik wird sich mit dieser Politik weder unter den Ländern, aus denen sie Arbeitskraft abzieht, noch unter den Zuwanderern Freunde machen. Sie spaltet schon jetzt mit der Abwerbung von Millionen von Arbeitskräften die Eurozone immer weiter und treibt sie auseinander. 

Bereits die Politik der Agenda 2010 zeigt deutlich: Der Spaltungsprozess, dem die EU unterliegt, kommt nicht von außen – es ist Deutschland, das mit seiner Wirtschaftspolitik den Keil beständig tiefer in die EU treibt, denn es schnorrt sich auf Kosten seiner Nachbarn durch.

Deutschlands "Agenda 2010" kommt die Eurozone teuer zu stehen

Bereits der unter dem Titel "Agenda 2010" unter der damaligen rot-grünen Bundesregierung durchgeführte neoliberale Umbau der Republik hatte für die Währungsunion weitreichende Konsequenzen. Der Druck auf den Faktor Arbeit und die damit verbundenen Lohnsenkungen bedeutete nichts anderes als eine innere Abwertung gegenüber den anderen an den Euro gebundenen Ländern. Das wirtschaftspolitische Programm der Agenda 2010 war mit den anderen europäischen Ländern nicht koordiniert und daher unsolidarisch.

Wenn heute vom Erfolg der Agenda 2010 berichtet wird, fällt der gesamteuropäische Blick daher regelmäßig aus, weil dann schnell deutlich würde, wie sehr Deutschland zur Instabilität der Eurozone und der EU beigetragen hat. Deutschland hat sich über den Druck auf Löhne und Gehälter einen Wettbewerbsvorteil gegenüber den anderen Ländern der Währungsunion verschafft. Um es zugespitzt zu sagen: Deutsche Autos sind nicht besser als die Autos von Herstellern in anderen Ländern – sie sind zu billig. 

Diesen Wettbewerbsvorteil gab es nicht durch Innovation und Fortschritt, sondern durch Lohnsenkungen. Den deutschen Vorteil haben nicht tolle Erfindungen und spektakuläre Innovationen verschafft, sie werden von den abhängig Beschäftigten bezahlt – Zeitarbeit, Werkverträge und Auslagerungen sind hierfür die Stichworte, welche die Abwertung des Werts von Arbeit in Deutschland verdeutlichen.

So gelang es Deutschland, mit schlechten Jobs die heimische Arbeitslosigkeit zu drücken. Der Binnenkonsum liegt am Boden, der Export ist die tragende Säule der deutschen Wirtschaft. In den europäischen Partnerländern stieg die Arbeitslosigkeit an. Deutschland hat mit seiner Politik nämlich nicht nur Autos, sondern auch Arbeitslosigkeit exportiert, denn es hat mit seinem anhaltenden Exportüberschuss Arbeitsplätze in anderen Ländern der EU und insbesondere des Euroraumes vernichtet.

Das Ausscheiden der dortigen Unternehmen aus dem Markt war kein gesundes, den Markt bereinigendes Ausscheiden, denn es fand nicht über Produktivitätsfortschritt und Innovation statt, sondern durch Einschnitte bei den Löhnen und durch Rückbau der sozialen Standards in Deutschland. Damit hat Deutschland eine Abwärtsspirale ausgelöst und wurde zur treibenden Kraft des Zerfalls der EU. Keine ausländischen Mächte sind es, keine Desinformationskampagnen – nein, ein ökonomisches Ungleichgewicht ist es, das die politisch Verantwortlichen auch nicht Willens sind zu korrigieren. 

Den anderen Ländern der Währungsunion bleibt nichts anderes übrig, als diesen Wettbewerb um die niedrigeren Löhne und die niedrigeren Sozialstandards mitzumachen, wenn sie ihre heimische Wirtschaft erhalten wollen. Was dann passiert, sieht man gerade in Frankreich. Im Gegensatz zu den deutschen Arbeitnehmern wehren sich die Franzosen mit aller Macht gegen den Rückbau von sozialen Errungenschaften, gegen Lohnsenkungen und Rentenkürzungen, sowie Einschnitte in die Arbeitnehmerrechte. 

In diesem Umfeld kommt Deutschland nun auf die Idee, man könnte vermehrt Fachkräfte aus der EU und Drittstaaten anwerben, um den in Deutschland herrschenden Fachkräftemangel aufzufangen. 

Nach Lohndumping nun Raub der Fachkräfte geplant

Damit treibt Deutschland einen weiteren Keil in die EU und die mit der EU assoziierten Partnerländer. Nicht nur, dass Deutschland mit seinem Lohndumping die anderen Länder der Währungsunion massiv unter Druck setzt, jetzt sollen diese Länder zusätzlich in die Ausbildung ihrer nachwachsenden Generation investieren, die dann aber vom deutschen Arbeitsmarkt abgegriffen wird, weshalb diese Abgeworbenen dann in ihren Heimatländern keinen Beitrag zu Wachstum und Wohlstand mehr leisten können. 

Dass bereits 2,5 Millionen Menschen aus dem EU-Ausland bei uns arbeiten, teilt die Bundeskanzlerin in ihrem Podcast mit. Sie teilt auch mit, dass die Zahl nicht ausreicht. Die Konsequenzen, die das für die Stabilität der EU hat, verschweigt sie dagegen. 

Ausbildungskapazitäten sind in einer Volkswirtschaft nicht einfach so da. Sie sind in der Regel geplant und richten sich am zukünftigen Bedarf aus. Das Bildungssystem ist zudem meist staatlich finanziert. Der jeweilige Staat verfolgt damit den Zweck, den eigenen Arbeitsmarkt zu bedienen, nicht den deutschen. Kein Land hat ein Interesse daran, in die Qualifikation junger Menschen zu investieren, damit diese dann die Defizite anderer Länder auffangen, die die makroökonomischen und bildungspolitischen Stellschrauben falsch gestellt haben. 

Ein Beispiel: Wenn hierzulande über den Fachkräftemangel gesprochen wird, geht es in diesem Zusammenhang in der Regel auch um die Pflege. Nun sind Pflegekräfte sicherlich Fachkräfte, aber eben auch extrem schlecht bezahlt. Der Pflegemindestlohn beträgt in den westlichen Bundesländern 11,05 Euro und im Osten 10,85 Euro. Zum Vergleich: Der allgemeine Mindestlohn beträgt derzeit 9,19 Euro. Weder mit dem allgemeinen, aber auch nicht mit dem Pflegemindestlohn hat man nach einem langen Arbeitsleben eine armutsfeste Rente. Man hat auch keinen Lebensstandard deutlich über Grundsicherungsniveau.

Schlechte Rahmenbedingungen werden den Zuzug bremsen

In diese Rahmenbedingungen lädt Deutschland Pflegekräfte aus dem Ausland ein. Wie die Tagesschau berichtet, aquirieren deutsche Kliniken bereits in Mexiko Pflegekräfte. Diese bringen eine fünfjährige Ausbildung an einer Hochschule und Berufserfahrung mit, werden mit einem Sprachkurs vorbereitet und sollen dann zunächst als Pflegehelfer und damit eindeutig im unteren Lohnsegment arbeiten. Die Hoffnung, von ihrem Einkommen dann Geld nach Hause schicken zu können, wird sich kaum erfüllen. Die Rechnung wird auch für das entsendende Land nicht aufgehen. Warum sollte Mexiko Kapazitäten an Universitäten für den deutschen Bedarf an Arbeitskräften im Niedriglohnsektor unterhalten? Darauf gibt es keine rationale Antwort. 

Zu hoffen steht, dass sich die schlechten Rahmenbedingungen in Deutschland schnell herumsprechen. Deutschland fährt mit seiner aktuellen Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte nach der Infrastruktur nun auch seinen Ruf auf Schleiß. Die Anwerbung von Pflegekräften im Ausland funktioniert nur, weil Deutschland noch in dem Ruf steht, man könne hier mit Arbeit Zugang zu einem relativen Wohlstand bekommen. Das ist seit der Agenda 2010 jedoch nicht mehr automatisch der Fall.

Allerdings könnte mit einer auskömmlichen Bezahlung, die genau diesen Zugang zu einem Lebensstandard deutlich oberhalb des Grundsicherungsniveaus ermöglicht, flankiert von Fördermaßnahmen, die sich an den Pool der Unterbeschäftigten richten, dieser Fachkräftemangel in der Pflege relativ zügig aus eigenen Ressourcen bewältigt werden. So steht es zumindest zu vermuten. Erfahren werden wir es nie, denn es wird noch nicht einmal der Versuch unternommen. Das gilt selbstverständlich analog auch für den Fachkräftemangel in der Gastronomie – es fehlt in Deutschland beispielsweise an Köchen.

Blue-Card führt zu Lohndumping auch im Hochlohnsektor

Dass der von den Gewerkschaften erhobene Vorwurf, es gehe bei der Anwerbung von Fachkräften wieder einmal mehr um Lohndumping denn um die Bekämpfung eines tatsächlichen Mangels, wird auch an der Blue-Card deutlich. Für sogenannte Mangelberufe wie Ärzte, Ingenieure, IT-Fachkräfte und andere wurde die Gehaltsgrenze abgesenkt, ab der ein Aufenthaltstitel für ausländische Fachkräfte von außerhalb der EU ausgestellt werden kann. Deutschland betreibt weiter Lohndumping und schöpft zudem die Fachkräfte anderer Länder ab. 

Das Beruhigende ist, dass dieser unsoziale Akt gegenüber den Partnerländern Deutschlands vermutlich nicht viel Erfolg haben wird. Denn während in den sechziger Jahren für die damaligen "Gastarbeiter" die Aussicht auf auskömmliche Arbeit bestand, besteht diese Aussicht heute eben nicht mehr. Das merken anscheinend auch die Zuwanderer aus EU-Ländern, für die Arbeitnehmerfreizügigkeit gilt. Im Jahr 2018 war die Zahl der Einwohner aus diesen Ländern überwiegend rückläufig. Nach Frankreich, Spanien und Portugal zogen mehr Menschen zurück als von dort zu uns. Selbst nach Großbritannien zogen mehr Menschen zurück, obwohl das allgemeine Brexit-Medien-Credo war, dass zahlreiche Briten angesichts der Unsicherheiten durch den Brexit ihre Zukunft in der EU sehen. 

Erschwerend hinzu kommt, dass auch Deutsche ihr Wohl zunehmend häufiger im Ausland suchen. Insbesondere Hochqualifizierte wandern ab, da im Ausland Einkommen und Lebensstandard oft höher sind. Auch das ein Effekt der so viel gelobten Agenda 2010.

So wird der Versuch, Zuwanderung zu erzeugen, vermutlich scheitern, weil es nicht eben lockend ist, in ein Land zu migrieren, in dem der Lebensstandard in der Breite sinkt, in dem Jobs nicht auskömmlich und die gebotenen Arbeitsmöglichkeiten auch für gut qualifizierte Ausländer häufig nur prekär sind. 

Ganz unabhängig davon wirft aber diese neue Form des "Beggar-thy-neighbour", also seinen Nachbarn zu ruinieren, ein extrem ungünstiges Licht auf Deutschland, das den Eindruck verstärkt, es wäre politisches Konzept der diversen Bundesregierungen der letzten Dekaden, dass Deutschland auf Kosten seiner Partnerländer lebt. Gegen dieses Argument lässt sich tatsächlich wenig an Argumenten ins Feld führen.

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