von Wladislaw Sankin
"Deutschland gilt bei den diplomatischen Vermittlungen im Russland-Ukraine-Konflikt als führender Akteur." – "Deutschland ist in den Prozess zur Lösung des Konflikts involviert, vor allem durch seine enormen diplomatischen Bemühungen." – "Deutsche Politiker engagierten sich in Initiativen für Konfliktlösungen." – "Deutsche Kanzlerin Angela Merkel bemüht sich um die Lösung des Konflikts." Und so weiter.
Mit solchen Sätzen beschrieben die Leitmedien in den letzten Jahren die deutsche Rolle im sogenannten Ukraine-Konflikt, und das machen sie noch immer so. Dieser Erzählung liegt eine Chronologie zugrunde, der zufolge der Konflikt mit der sogenannten Krim-Annexion in März 2014 und der Unterstützung der "Separatisten" im Osten der Ukraine durch Russland beginnt. Mit diesem "Beginn der Zeitrechnung" ist die Frage nach dem Schuldigen bereits klar beantwortet.
Ein Blick in dieselben Medien zu Zeiten der Proteste auf dem Kiewer Maidan Nesaleschnosti – also dem Platz der Unabhängigkeit – lässt jedoch große Zweifel an diesem Narrativ aufkommen. Die Proteste fanden von Ende November 2013 bis Ende Februar 2014 statt und endeten mit der Flucht des Präsidenten Wiktor Janukowitsch aus dem Land und der Machtübernahme durch die Opposition. Die Proteste wurden zunehmend von Gewalt und Provokationen, enormer medialer Unterstützung und diplomatischem Druck aus dem Westen auf die Regierung der Ukraine begleitet.
Kurz vor Beginn der Proteste sollten die langjährigen Verhandlungen um das EU-Assoziierungsabkommen mit der Ukraine in die Endrunde gehen und mit der Unterschrift des ukrainischen Präsidenten zum feierlichen Abschluss gebracht werden. Am 28. November 2013 hatte dieser jedoch beim sogenannten Summit der Östlichen Partnerschaft der EU seine Unterschrift verweigert. Russland hatte auf Präsident Janukowitsch Druck ausgeübt und dem finanziell angeschlagenen Land Milliardenkredite angeboten, und so wollte er mit der EU weiterverhandeln. Die deutsche Politik ging in den Kampfmodus über, und weil der Ausgang dieses Spiels – dieses Gezerre zwischen Deutschland und EU einerseits und Russland und Eurasischer Wirtschaftsunion EAWU andererseits – noch nicht sicher war, redete man nun "Klartext".
Von wegen "Spiel" … Mit ebendiesem Wort beschrieb Der Spiegel in einer Dezember-Ausgabe vor sechs Jahren das damalige politische Geschehen in der Ukraine, lange vor einer angeblichen russischen "Aggression": "Es geht um Geopolitik, um das 'Grand Design', wie es die Experten gern nennen. Und es geht – ob die Kanzlerin nun will oder nicht – um Angela Merkel und Wladimir Putin ganz persönlich." Von den angeblichen "Lösungen", "Vermittlungen" und "Bemühungen" ist noch rein gar nichts zu lesen. Damals jedenfalls nicht.
Die stets handverlesenen Spiegel-Journalisten mit besten Kontakten in Regierungskreise in Berlin und Brüssel lieferten mit viel Insiderwissen damals einen dankenswert tiefen Einblick in den engen Zirkel, in dem strategische Ziele beraten und politische Entscheidungen getroffen wurden. Heute ist dieser Spiegel-Artikel ein wertvolles Zeitdokument:
Die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Und die Kanzlerin will vor der nächsten Runde eine neue Figur ins Spiel bringen: Vitali Klitschko. Der zwei Meter große Profiboxer soll zum proeuropäischen Gegner des russlandorientierten Janukowitsch aufgebaut werden – und am Ende das Abkommen mit den Europäern doch noch unterschreiben", schreibt der Spiegel.
So, so: Aufbau eines Politikers im Ausland zum oppositionellen Führer. Der Spiegel hatte wohl keine andere Wahl, als die Dinge "ein bisschen" beim Namen zu nennen? Denn schließlich sollte dieser "Politiker" doch bald Präsidentschaftskandidat werden:
'Regime Change' wäre als Begriff wohl zu hoch gegriffen, aber ein bisschen geht es doch darum: Merkels CDU und die europäische konservative Parteienfamilie EVP haben Klitschko auserkoren, das ukrainische Nein von innen aufzuweichen. Er soll die Opposition einen und anführen, auf der Straße, im Parlament und schließlich bei der Präsidentenwahl 2015. 'Klitschko ist unser Mann', heißt es in hohen EVP-Kreisen. 'Der hat eine klar europäische Agenda' – und Merkel noch eine Rechnung offen mit Putin.
"Ein bisschen" Regime-Change also. Wo es aber besser passt, sind – wie üblich – Euphemismen schnell zur Hand – wie etwa "Verantwortung übernehmen": "Die CDU-nahe Parteistiftung (Konrad-Adenauer-Stiftung – Anm. der Red.) bereitet seit einiger Zeit ukrainische Oppositionspolitiker im Rahmen eines 'Dialog-Programms' auf die Übernahme von Verantwortung vor." Was klingt wohl netter: "Machtübernahme" oder die "Übernahme von Verantwortung"?
Aus dem gleichen Grund lesen wir beim Spiegel, dass die ultranationalistische und blutbefleckte Nazi-Kollaborateure verehrende Partei "Swoboda" lediglich eine "rechtsnationale Freiheitspartei" sei. Sie ist schließlich Teil der Opposition, die Klitschko vereinen soll, und muss daher im deutschen Sprachgebrauch besser dargestellt werden. Aber es geht noch weiter. Detailliert beschreibt das Magazin das weitere geplante Vorgehen der (unter anderem) von Merkel in der Ukraine an die Macht gebrachten Politiker:
Die Klitschko-Unterstützer in EVP und Bundesregierung hoffen darauf, dass spätestens 2015 bei der Präsidentenwahl nur ein gemeinsamer Kandidat gegen Amtsinhaber Janukowitsch antritt – und gewinnt. Dann hätte Kanzlerin Merkel ihr Etappenziel erreicht: eine proeuropäische Führung der Ukraine. Das eigentliche Rückspiel könnte beginnen, das um eine Neuordnung der Beziehungen der Europäischen Union mit Osteuropa. Das gegen Wladimir Putin.
Eine Neuordnung, bei der der geopolitische Rivale aus der eigenen Region herausgedrängt wird. Interesse an seinem Einfluss in der heimatlichen Region begründet er zwar mit der wirtschaftlichen, technisch-wissenschaftlichen, kulturellen und humanitären Verflechtung, die über Jahrhunderte gewachsen ist. Man darf doch Interessen haben, oder nicht? Nun ja: Es kommt darauf an. Bei Wladimir Putin sind solcherlei Interessen nicht legitim, meinte damals schon der Spiegel. Denn diese seien aus Komplexen und Kränkungen gewachsen: Durch eine "Mischung aus Selbstzweifel, Sehnsucht nach gewesener Größe und verletztem Stolz".
Das ist wichtig. Denn hätte Russland gar "legitime" Interessen gehabt, müsste man die EU und Angela Merkel fragen, warum die Probleme mit dem EU-Assoziierungsabkommen nicht gleich von Anbeginn gemeinsam zu lösen waren. "Warum Russland bei weiteren Verhandlungen nicht mit an den Tisch holen?", fragt schließlich damals sogar der Spiegel selbst – noch.
Dreier-Gespräche lehnen wir ab", wird Merkel darauf aus kleinem Kreis zitiert.
Spätestens hier – trotz aller Euphemismen – sollte eigentlich klar sein: Bei der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel haben wir es mit einer knallharten Machtpolitikerin zu tun, die bei der Durchsetzung ihrer Ziele bereit ist, auch über Leichen zu gehen. Und sei es zunächst "nur" in der Ukraine. Denn es wird im späteren Verlauf des Konflikts, der sich in einen Bürgerkrieg verwandeln wird, sehr viele solcher Leichen geben, Tausende von unschuldigen Opfern. Und das war abzusehen, denn viele Experten haben davor gewarnt. Aber dazu müssen wir später noch kommen.
In hellsichtiger Vorahnung dessen, schrieb im Dezember 2013 doch tatsächlich der Spiegel, es sei für Angela Merkel eigentlich typisch, die "Entweder-oder"-Zwickmühle für die Ukraine aufzulösen. Nur Putin ist da noch, der "den Zerfall der Sowjetunion (…) am liebsten rückgängig machen" würde. In einem Artikel im Februar 2014 wird dann schon Außenminister Frank-Walter Steinmeier zitiert, als er auf die Kritik Moskaus an der Einmischung der EU antwortet, man solle doch (in Moskau?) von der Vorstellung Abstand nehmen, "dass die Ukraine Teil eines geopolitischen Schachspiels ist".
Erst wenige Wochen zuvor schrieb der Spiegel jedoch selbst noch – mit viel Vorfreude auf den weiteren Verlauf –, der Kampf um die Ukraine sei ein Spiel. Oder etwa nicht? Abgesehen von wenigen Ausnahmen, hinterfragte niemand den damaligen deutschen Außenminister. Kurz vor dem endgültigen Sieg der "Pro-Europäer" in Kiew, als ihre Machtübernahme schon zum Greifen nah war, wurden die Propaganda-Weichen umgestellt – von nun an gilt: Russland provoziert, Deutschland vermittelt, die Ukraine ist das Opfer.
Es ist allerdings doch nicht ganz so gekommen, wie Angela Merkel, EVP und CDU es wollten. Vitali Klitschko wurde zunächst "nur" Bürgermeister von Kiew, bei den Wahlen in Mai 2014 gewann der mit dem größeren Geldsack: Petro Poroschenko. Doch auch mit ihm schloss Merkel bald Freundschaft – trotz Krieg, Korruption, politischer Morde und Unterdrückung, denn er hat schließlich all das getan, was Angela Merkel von der Ukraine eben wollte – er hat das Land in eine bedingungslose und indiskutable Anbindung an und – klarer gesagt – Abhängigkeit von Deutschland, der EU und den USA geführt. Als es in der Ostukraine zu gären begann, konnte Deutschland aus einer sehr bequemen Position heraus zu "vermitteln" beginnen.
Die Wahrheit der Geschichte liegt folglich ganz woanders. Deutschland ist kein "Vermittler", sondern ein Akteur, der seine unselige Rolle in der Genese des Konflikts verschleiern muss. Kein Geringerer als ein seriöser Berliner Rechtswissenschaftler, Herwig Roggemann, kritisiert mit Bezugnahme auf eine Reihe weiterer Experten in seiner Analyse in seinem Buch "Ukraine und Russland-Politik" sowohl Deutschland als auch die EU scharf:
Eine, wenn nicht die eigentliche Konfliktursache ist die seit zwei Jahrzehnten betriebene Osterweiterungpolitik der EU und NATO ohne angemessene Einbindung Russlands und ohne Berücksichtigung seiner Sicherheits- und wirtschaftlichen Interessen.
Diese Politik sei aggressiv, und die Länder der sogenannten Östlichen Partnerschaft seien dadurch unnötig einer Zerreißprobe ausgesetzt. Das Problem der ukrainischen "historischen Ambivalenz" zwischen Ost- und Westbindung habe nun wegen einer kompromisslosen und übereilten Westorientierung – vorangetrieben durch die Maidan-Akteure, die EU und die USA – eine staats- und verfassungsrechtliche Dimension erhalten. Damit deutet Roggemann auch auf die Abspaltung der Krim und den Krieg in der Ostukraine hin. Die Fortsetzung dieser Politik sei eine weiterhin "friedensgefährdende Fehlentwicklung".
Das Buch hat der Experte bereits im Jahr 2015 veröffentlicht. Eine grundsätzliche Änderung der Politik hat seitdem nicht stattgefunden, im Gegenteil: Bis an die russische Grenze rückte die NATO mit zusätzlichem Militärgerät vor, die militärischen Spannungen haben zugenommen, der Informationskrieg lässt keineswegs nach, der Minsker Prozess stockt. Der Normandie-Gipfel in Paris fand zwar vor Kurzem wieder statt, legte aber nun offensichtliche Widersprüche der Minsker Vereinbarung und der politischen Regulierung offen.
Antirussische Sanktionen, begründet mit der politisch einseitigen Auslegung der Konfliktursache anstelle des Völkerrechts – denn es gibt eben keinen entsprechenden UN-Beschluss –, werden weiterhin routinemäßig verlängert. Ihre mehrheitliche Ablehnung in der Bevölkerung und durch die Wirtschaft beeindruckt die Merkel-Regierung keineswegs. Denn sie kann sich im Zweifelsfall immer auf eine willfährige statt kritisch-investigative Presse verlassen.
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