von Florian Warweg
Regierungssprecher Steffen Seibert hatte am 11. November auf der Bundespressekonferenz (BPK) mehrere Behauptungen zu den Vorgängen in Bolivien aufgestellt, die einer faktenbasierten Überprüfung nicht standhalten.
So erklärte er auf der BPK hochoffiziell im Namen der Bundesregierung:
Ich erinnere daran, dass die Wahlüberprüfungsmission der Organisation Amerikanischer Staaten, OAS, aufgrund der von ihr nachgewiesenen schweren Unregelmäßigkeiten die Ausrichtung von Neuwahlen ebenso empfohlen hat.
Wir haben zur Kenntnis zu nehmen, dass die Organisation Amerikanischer Staaten von weit verbreiteten, schwerwiegenden Unregelmäßigkeiten spricht, dass sie davon spricht, dass es in beinahe jedem untersuchten Wahlbezirk Unregelmäßigkeiten bei der Stimmauszählung gegeben habe und dass sie deswegen empfehle, zu Neuwahlen zu kommen.
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Beide Aussagen sind nicht haltbar. Die Wahlprüfungskommission der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) hat im Gegensatz zur Darlegung des deutschen Regierungssprechers mitnichten "schwere Unregemäßigkeiten nachgewiesen". Der Bericht, der, auch das vergaß Steffen Seibert zu erwähnen, von der OAS ganz bewusst nur als "vorläufig" bezeichnet wird, legt keinerlei konkrete Belege für eine behauptete Wahlbeeinflussung vor.
Das OAS-Team bestand aus 18 Experten aus 13 Nationen, die innerhalb von wenigen Tagen in fünf von neun Departements Boliviens (Cochabamba, Pando, Beni, Tarija und La Paz) im Einsatz waren, um die Wahlergebnisse zu verifizieren. Die US-dominierte Organisation räumt selbst ein, dass die Analyse in sehr kurzer Zeit erarbeitet wurde und daher keine vollständige Überprüfung möglich war. Von den untersuchten Wahlprotokollen wurden laut OAS bei 78 nicht näher benannte "Unregelmäßigkeiten" festgestellt. Bei einer Gesamtsumme von 34.555 Wahlprotokollen entspricht dies 0,22 Prozent. Auf diesen geringen Prozentsatz an Unregelmäßigkeiten verweist auch der Direkter der bekannten Denkfabrik "Strategisches Zentrum für lateinamerikanische Geopolitik" (CELAG), der spanische Politikberater und Wissenschaftler Alfredo Serrano Mancilla.
Wie Seibert auf dieser Basis zu der Aussage im Namen der Bundesregierung kommt, "dass es in beinahe jedem untersuchten Wahlbezirk Unregelmäßigkeiten bei der Stimmauszählung" gegeben hat, bleibt wohl das Geheimnis des Regierungssprechers beziehungsweise des Verfassers seines Sprechzettels für die BPK. Selbst wenn man nicht die Gesamtzahl der über 34.000 Wahlprotokolle als Grundlage nimmt, sondern nur die von der OAS genommene Stichproben von 333, ist die Aussage von Steffen Seibert von "in beinahe jedem Wahlbezirk" nicht zu rechtfertigen.
Ein weiterer fragwürdiger Aspekt in den Darlegungen des deutschen Regierungssprechers ist seine Aussage, dass die Bezeichnung Putsch für die Vorgänge in Bolivien "eine interessante Wertung von Russia Today" sei. Entgangen scheint ihm dabei zu sein, dass beispielsweise das EU-Partnerland Spanien zu einem ganz ähnlichen Urteil kommt. So warnte Spaniens Außenminister Josep Borrell, die "Intervention" von Militär und Polizei führe "zurück in vergangene Zeiten der Geschichte Lateinamerikas", eine direkte Referenz an die 1970er-Jahren mit ihren blutigen Putschen die unter anderem zu Militärdiktaturen in Chile und Argentinien führten. Selbst die rechtsliberalen Präsidenten Argentiniens und Chiles, der nach seiner Wahlniederlage nur noch für wenige Wochen amtierende Mauricio Macri und Sebastián Piñera, die immer ein sehr distanziertes Verhältnis zu Evo Morales hatten, äußerten sich kritisch zum Agieren des Militärs in Bolivien. Argentiniens neu gewählter Präsident Alberto Fernández sprach sogar ganz offen von einem "Staatstreich".
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Abschließend ist grundsätzlich festzuhalten, dass die OAS zu einem großen Teil von US-Geldern finanziert wird, bei Analysten allgemein als "Durchsetzungsinstrument von US-Interessen" in der Region gilt und daher auch in Lateinamerika nicht als neutral wahrgenommen wird. Das sich Darlegung und Meinungsbildung eines Regierungssprechers augenscheinlich ausschließlich auf diese eine tendenziöse Quelle stützen, trägt nicht unbedingt zur Glaubwürdigkeit von Steffen Seibert und dem Bundespresseamt bei.
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