von Andreas Richter
Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel hat beim Festakt zum "Tag der Deutschen Einheit" in Kiel eine interessante Rede gehalten, in der sie die Bürger aufforderte, nicht zu viel vom Staat zu erwarten und sich auf ihre individuelle Freiheit und Verantwortung zu konzentrieren.
Zu Beginn ihrer Rede zitierte Merkel ausgerechnet Thomas Mann, der den Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg Unfreiheit, Unmündigkeit und dumpfe Untertänigkeit bescheinigt. Leider, so Merkel, habe Mann nicht die "gelungene deutsche Revolution" von 1989 erlebt.
Weiter in der Kanzlerinnenrede: Nach einigen erwartbaren Bemerkungen zur deutschen Einheit blickt Merkel zurück auf die DDR – und trifft einige grundlegende Bemerkungen zur Rolle des Staates:
Die friedliche Revolution in der DDR (…) fand statt, weil die Bürgerinnen und Bürger sich in ihrem Staat, wenn wir es ganz schlicht sagen, nicht zu Hause fühlten und dies 1989 nun endlich auch zum Ausdruck bringen konnten. Dieser Staat der Unfreiheit hatte seinen Bürgerinnen und Bürgern vier Jahrzehnte lang die Möglichkeit genommen, über wichtige Fragen ihres Lebens selbst entscheiden zu können und (…) zu müssen.
Der Zuhörer und Leser erfährt dann, dass die DDR der Kanzlerin verwehrte, an ihre Grenzen zu gehen (im Gegensatz zur gesamtdeutschen Gegenwart, möchte man ergänzen, wo sie diese Grenzen – so lässt sich ihr Zittern deuten – erreicht und überschritten hat):
Damit hatte er seinen Bürgerinnen und Bürgern, auch mir, auch die Möglichkeit genommen, an die eigenen persönlichen Grenzen gehen zu können, also erfahren zu können, was die oder der Einzelne tatsächlich konnte, wie weit die eigenen Fähigkeiten reichten, wo es wirklich der Staat war, der unseren individuellen Stärken die Grenzen setzte, und wo es in Wahrheit eigenes Unvermögen war.
Danach folgt die Wendung zur Gegenwart, und indirekt eine Mahnung an ihre Kritiker:
In gewisser Weise war es deshalb sogar manchmal bequem gewesen, auf den Staat verweisen zu können, wenn etwas misslungen war, statt über eigene Fehler nachzudenken. Der Staat als fast perfekte Entschuldigung für eigene Unzulänglichkeiten. So zu denken, war schon zu DDR-Zeiten eine Falle, in die man tappen konnte – auch ich habe mich dabei erwischt. Umso wichtiger ist es, präzise darüber nachzudenken, wie das Verhältnis von Bürger und Staat heute (…) aussieht. Denn ich beobachte, dass auch heute manche – und zwar in ganz Deutschland – die Ursache für Schwierigkeiten und Widrigkeiten vor allem und zuerst beim Staat und den sogenannten Eliten suchen.
An dieser Stelle wird es nun richtig interessant. Was Merkel wohl mit der Formulierung "sogenannte Eliten" meint? Gibt es diese Kreise in Politik, Wirtschaft und Medien gar nicht, die bestimmen, worüber geschrieben und was gemacht wird? Oder wird ihre Bedeutung überschätzt? Oder findet die Kanzlerin den Begriff Eliten deplatziert, weil hier eben nicht die qualifiziertesten Kräfte am Werk sind? Merkel verrät es nicht, aber diese letzte Möglichkeit lässt sich wohl ausschließen. Es geht noch weiter:
In ihrer Betrachtung steht der Staat dabei mehr oder weniger synonym für eine abgehobene Obrigkeit, verbunden mit sogenannten Eliten in der Politik, den Medien, der Wirtschaft, der Wissenschaft, denen man sowieso nichts glauben könne und die dem Einzelnen irgendwie nur im Wege seien. Setzte sich ein solches Denken durch, führte das ins Elend.
Noch interessanter ist, was Angela Merkel über das Verhältnis von Staat und Bürger sagt. Dass jeder Einzelne Verantwortung für sein Leben übernimmt und seine Entscheidungen reflektiert, bitte, wer wollte etwas dagegen haben? Nur ändert dies nichts daran, dass Merkel in allen von ihr geführten Regierungen eine Politik betrieben hat und betreibt, die den Interessen der Mehrheit der Deutschen eindeutig widerspricht. Die Ungleichheit und die Lebensunsicherheit haben für den Großteil der Bevölkerung zugenommen. Und was genau will sie sagen? Dass der Staat nicht für Sicherheit sorgen kann? Für Wohlstand?
Geradezu bizarr ist, dass die Kanzlerin ihren Kritikern obrigkeitsstaatliches Denken vorwirft und dabei zentrale Entscheidungen ihrer Amtszeit wie den Atomausstieg 2011 und die Flüchtlingspolitik ab 2015 selbst praktisch im Alleingang und ohne jede vorherige Debatte traf. Gleichzeitig ist der Meinungskorridor bei zentralen Themen wie Migration, Sicherheit und "Klimaschutz" heute sehr schmal – und das in einer Gesellschaft, die die Kanzlerin als eine freiheitliche feiert. Natürlich fehlte auch in Merkels Rede weder die Warnung vor Intoleranz und Ausgrenzung noch die Forderung nach "Weltoffenheit".
Im Grunde ist ihre Aussage, nicht auf den Staat und die "sogenannten Eliten" zu blicken, sondern auf das eigene Handeln, eine schön dekorierte Absage an ihre Kritiker, man könnte auch sagen, an die Unterschicht allgemein, die die Folgen der Regierungspolitik auszubaden hat. Sie an ihre Eigenverantwortung zu erinnern, ist angesichts der gesellschaftlichen Realitäten vollkommen deplatziert und zynisch.
Angebrachter wäre es, Regierung und Eliten an ihre Verantwortung für die Gesamtheit zu erinnern – und die Kanzlerin an ihren Amtseid, in dem sie schwor, das Wohl des deutschen Volkes zu mehren, nicht das des internationalen Finanzkapitals.
Im Übrigen lässt sich Merkels Vorwurf gegen ihre Kritiker gegen sie selbst umkehren. Es erfordert durchaus Mut, sich öffentlich gegen den Mainstream zu äußern oder dafür auf die Straße zu gehen, es kann auch erhebliche Konsequenzen haben – insofern werden die Kritiker ihrer individuellen Verantwortung gerecht.
Das gilt nicht für Merkels Unterstützer, die unbedingten Befürworter von Migration, "Klimaschutz" und Westbindung, die, die sie und den von ihr repräsentierten Mainstream (die "sogenannten Eliten") immer noch für das Gute und Wahre in dieser Welt halten. Mit dem Mainstream zu schwimmen, kostet gar nichts. Das gute Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen, gibt es gratis dazu.
Dabei zeigen diese Leute, im Wesentlichen handelt es sich bei ihnen um das ökonomisch weitgehend sorgenfreie urbane Bürgertum, dass Thomas Manns Feststellung von der Unmündigkeit und Untertänigkeit der Deutschen bis heute Bestand hat. Sonst wäre die Kanzlerin angesichts der sich überall abzeichnenden Folgen ihrer Politik wohl kaum noch im Amt. Was Thomas Mann wohl zum Deutschland des Jahres 2019 sagen würde?
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