von Wladislaw Sankin
In seiner 14-minütigen Rede vor der UN-Generalversammlung und damit dem ersten großen internationalen Auftritt griff Wladimir Selenskij gleich zu Beginn der dritten Minute in seine Sakkotasche. Daraus holte er eine Kugel und hielt sie in der Hand, solange er die traurige Geschichte des international bekannten ukrainischen Opernsängers Wassyl Slipak erzählte. Dieser soll im Kampf gegen die "russischen Aggressoren" gefallen sein.
Wegen dieses Gegenstandes werdet ihr ihn nicht mehr hören. Diese 12,7 Millimeter haben seiner Karriere und seinem Leben ein Ende gesetzt. Die Kugel kostet zehn Dollar. So viel kostet heutzutage ein menschliches Leben. (…) Der Solist der Pariser Nationaloper kam im Donbass ums Leben, als er die Ukraine gegen die russische Aggression verteidigte.
"Wir brauchen breite internationale Unterstützung (...) Es gibt keine Sicherheit, solange Russland im Zentrum von Europa einen Krieg gegen die Ukraine führt", fügte der ukrainische Präsident hinzu.
Niemand regte sich in dem nur zu einem Fünftel gefüllten Saal. Die anwesenden Staats- und Regierungschefs und deren engsten Mitarbeiter blieben unbeeindruckt. Der bekannte russische Filmregisseur Karen Schachnasarow kommentierte später, als Nicht-Schauspieler hätte Ex-Präsident Petro Poroschenko schon mal auf ähnliche Art eine bessere Wirkung erzeugt.
So zeigte Poroschenko in Davos im Januar 2015 ein durchlöchertes Blechteil eines Busses und auf einer UNO-Sitzung im September 2017 angeblich russische Pässe. "Dies seien auch aus der Ferne sichtbare Gegenstände gewesen, und sie zu zeigen, machte wenigstens Sinn", so Schachnasarow. Der Ex-Schauspieler Selenskij hingegen präsentierte eine kleine Kugel, die im Saal kaum zu erkennen war.
Allerdings war auch diese Kugel schon zu groß. Denn die Kugel, die Slipak tatsächlich getroffen hat, war nicht 12,7 Millimeter groß, sondern hatte einen Durchmesser von 7,62 Millimetern. Sie wurde aus einem Scharfschützengewehr des Typs Dragunow abgefeuert, wie sich später herausstellte. Das war aber nicht die einzige Lüge in dieser Rede.
Wassyl Slipak wurde nur 41 Jahre alt. Geboren und aufgewachsen ist er im westukrainischen Lwow. Bevor Slipak am 29. Juni 2016 von einer Sniperkugel tödlich getroffen wurde, sang er fast die Hälfte seines Lebens – 19 Jahre lang– in verschiedenen Theatern in Frankreich, zuletzt in der Pariser Nationaloper. Seine Stimme war einzigartig und reichte vom Kontratenor bis zum tiefsten Bariton. Auf der Bühne beeindruckte der zwei Meter große Sänger mit seiner Präsenz und Charisma. Legendär waren seine Auftritte als Mephistopheles in der Oper "Faust" von Charles Gounod.
Daher stammt auch sein Kämpfername, die Abkürzung "Myth". Im Donbass-Krieg werden alle Kämpfer, und zwar auf beiden Seiten, mit erfundenen Rufnamen – "позывные" – genannt. Die Facebook-Seite des Sängers gibt weitere Aufschlüsse über seine Persönlichkeit. Er liebte es, in Nationaltrachten aufzutreten und seinen Patriotismus zur Schau zu stellen, zum Beispiel mit Waffen. Gern posierte er mit Gewehren und nahm an Flashmobs wie "Freie Menschen tragen Waffen" teil.
Im Jahr 2015 war Slipak schon einmal im Krieg. Er ging zurück nach Frankreich, um im Juni 2016 wieder an die Front zu gehen, diesmal für eine längere Zeit. In Frankreich, das als Garant in der Regulierung der Ukraine-Krise teilnimmt, wurde sein freiwilliger Dienst bei den Ultra-Nationalisten weder in der Oper noch in der Öffentlichkeit hinterfragt.
In der Ukraine im Sommer 2016 wieder angekommen, ließ sich der Sänger Kopf und Bart nach Art der Saporoscher Kosaken rasieren. Mit dem traditionellen Kosakenscheitel bleibt er auch in Erinnerung. An der Front war Slipak von Anfang an Mitglied des freiwilligen Korps der berüchtigten rechtsextremen Organisation Rechter Sektor. Sie war die Stoßtruppe des gewaltsamen Umsturzes in Kiew Anfang 2014 und der Strafaktion in Odessa im Mai 2014. In Russland gilt der Rechte Sektor als extremistisch und ist verboten.
Zu Beginn seines zweiten Einsatzes wurde über Slipak viel in den ukrainischen Medien berichtet. Man drehte Fernsehreportagen und machte Interviews mit dem singenden Kämpfer. Geplant war auch eine Doku. Sie wurde unter dem Titel "Myth" posthum gedreht. Er habe keine Militärerfahrung, wolle aber für seine Heimat kämpfen, erklärte Slipak. Zu seiner Motivation als "Mann der hohen Kunst" im Kriegseinsatz sagte er in einem Interview:
Kunstschaffende und jeder, der freiwillig zu den Waffen greift, sind Menschen, die die Probleme viel besser fühlen als andere. Ich sehe keinen Gegensatz darin, dass Menschen mit hoher kultureller Kompetenz in einer so schwierigen Zeit für das Land zu den Waffen greifen. Wenn Aggressor oder Besatzer dein Volk zu Zehntausenden tötet, wie kannst du zu Hause bleiben und denen, die das Land verteidigen, nicht helfen?
Dieses Interview erschien erst nach seinem Tod. Am 29. Juni meldeten die ukrainischen Medien den Tod des Sängers. Er wurde von einem großkalibrigen Scharfschützengewehr bei einer Attacke der Terroristen getötet, hieß es anfänglich. Doch von der "Gegenseite" kamen bald Informationen, die ein ganz anderes Bild zeichneten. Am 1. Juli veröffentlichte das Portal life.ru einzweiminütiges Video eines Scharfschützen mit dem Rufnamen "Morjatschok" ("kleiner Matrose"), der Slipak getroffen haben soll.
Komplett getarnt, erzählte der anscheinend junge Mann mit der für die Ukraine landestypischen Aussprache auf Russisch, wie es zu seinem Einsatz kam. Er habe seine Einheit aus dem Versteck heraus gedeckt. Von der Gegenseite wurde mit einem Maschinengewehr gefeuert. Der Schütze war Slipak, wie er erst später erfahren hat.
Aus einer Entfernung von 500 Metern habe er nur den Abschusspunkt gesehen. Diesen galt es "auszuschalten". Denn "unsere eigenen Leute konnten unter dem Feuer ihre Köpfe erheben." Nach Tracer-Linien habe er den Kämpfer identifizieren können und geschossen. Beim Gespräch hielt der Kämpfer das Gewehr des Typs Dragunow mit dem Durchmesser von 7,62 Millimetern in der Hand. Auf die Frage, ob er die Tötung des Sängers bereut, sagte der Kämpfer nüchtern:
Er kam hierher und dachte, hier ist ein Spaziergang. Er nahm das Maschinengewehr in die Hand, wechselte seinen Bühnenanzug mit der Camouflage. Damit hat er sich zum Teilnehmer der Kampfhandlungen gemacht, zu einem Kombattanten. Er hätte wissen müssen, dass auf ihn geschossen wird. Er schoss auf uns, wir schossen zurück. Es ist Krieg.
Kurz darauf meldeten die ukrainischen Medien, dass man den Volkswehrangehörigen, der Slipak tötete, identifizieren konnte. Er habe bei der ukrainischen Marine auf der Krim gedient und lebe in Donezk. Einige Tage später überreichten Vertreter der Donezker Volksrepublik bei der Minsker Kontaktgruppe an die Ukraine den Pass und die Schutzweste von Wassyl Slipak. Das verwarf endgültig die Kiewer Version über den angeblichen Kampfverlauf. Vermutlich handelte es sich um eine missglückte Attacke des Rechten Sektors, die später in den Nachrichten gar nicht gemeldet wurde, schrieb das ukrainische Portal depo.ua. Das könnte stimmen. Denn die freiwilligen Bataillone der Nationalisten waren im Kriegsgebiet dafür bekannt, sich an keine Absprachen zu halten und die Scharmützeln zu provozieren.
Beim Moment der Passübergabe wurde Wassyl Slipak bereits in Lwow in einer groß angelegten feierlichen Zeremonie bestattet. Der Mythos um den Sänger, "der in den Krieg zog, um die Unabhängigkeit seines Landes zu verteidigen", war geboren. In den Folgejahren erhielt Slipak posthum die Medaille "Für Mut" und später vom Präsidenten Petro Poroschenko persönlich die Auszeichnung des "Helden der Ukraine".
Wladimir Selenskij suchte noch als Comedian im Jahr 2014 die Nähe zu Tarnuniformierten an der Front. "Unsere Krieger" nannte er sie und spendete für die Armee, die in einem verfassungswidrigen Einsatz im Inneren des Landes gegen die Aufständischen kämpfte – das, worauf der jetzt in der Ukraine geächtete Ex-Präsident Wiktor Janukowytsch seinerzeit verzichtete, als die Maidan-Kräfte die Verwaltungsgebäude in Kiew und in der Westukraine stürmten und Waffendepots plünderten. "Abschaum" nannten die Donbass-Rebellen Selenskij. "Terroristen", "Söldner", "russische Okkupanten" – so werden sie sonst in der Propaganda-Sprache bezeichnet.
Dabei unterscheidet der ukrainische Präsident nicht zwischen den regulären Streitkräften und den Freiwilligen in den nationalistischen Formationen wie dem Rechten Sektor oder der später aufgestiegenen Azow-Miliz und dem Nationalen Korps. Sie seien "unsere Helden und Verteidiger".
Doch für die andere Seite des Konflikts sind diese Kämpfer die bewaffnete Stütze eines nach außen "liberal-prowestlichen" und nach innen repressiv-nationalistischen Regimes. Den Bürgerkonflikt im eigenen Land will Kiew nicht anerkennen. Auch nach dem nun demokratischen Machtwechsel bezichtigen die Führer des Landes weiterhin Russland als Hauptschuldigen des Krieges und leugnen die Tatsache, dass es ukrainische Bürger waren, die gegen den Putsch im Jahr 2014 rebellierten.
Die UN-Rede des neuen Präsidenten zeigt, wie diese Propaganda auf diplomatischen Parkett fortbesteht. In der Kulturbranche es die Geschichte eines anderen Sängers, der nicht wie Slipak in den Krieg zog, sondern Friedensappelle sendet.
So nahm der ukrainische Schlagerstar Oleg Winnik vor wenigen Tagen an dem Flashmob "Frieden für alle" teil. Da sich an diesem Projekt auch russische Sänger und Musiker beteiligten, wurde Winnik medial als Kollaborant angeprangert, und sein Name erschien auf der Webseite für die Auflistung der "antiukrainischen Kräfte" "Mirotworetz".
Dabei ist eine Regulierung des Konflikts möglich. Aber solange er auf derart grob propagandistische Art verklärt wird, wie dies auf der UNO-Tribüne letzte Woche wieder der Fall war, wird sich keine reale Lösung für die Beendigung des Krieges finden. Weiterhin wird es unnötige Opfer wie die des Opernsängers Wassyl Slipak geben. Ja, Slipak ist Opfer, Opfer des Hasses, der seit dem schicksalhaften Umsturz im Jahr 2014 von den "Siegern" der Revolution gegen die vermeintlichen Feinde geschürt wird.
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