von Wladilsaw Sankin
Um die Perspektiven zur Lösung der Ukraine-Krise analysieren zu können, muss man zunächst vor allem zwischen außenpolitischen und innenpolitischen Dynamiken unterscheiden. Jene Kräfte im Westen, die den Maidan-Putsch ermöglichten, befinden sich immer noch in wichtigen Positionen.
Sie üben über den Militärindustriekomplex, Partei-Bürokratien, NGOs, Thinktanks und Medien nach wie vor großen Einfluss auf Regierungsentscheidungen aus – so bleibt die Politik auch bei einem häufigen Kabinettwechsel immer konstant. In manchen Hauptstädten wie Berlin sind die Maidan-Förderer sogar noch an der Macht.
Diese Kräfte wollen die Ukraine als ein EU- und USA-höriges monoethnisches Land mit einer nationalistischen westukrainisch geprägten Ideologie sehen. In diesem Szenario soll das Land im Idealfall bis auf den letzten Winkel über Biegen und Brechen entrussifiziert werden. Die Ursprünge dieser Ideologie reichen bis ins 19. Jahrhundert zurück. Setzt man Religion anstelle von Nation (Gründung der Griechisch-Katholischen Kirche), reicht sie sogar bis in die frühe Neuzeit.
Der diplomatische und mediale Druck auf Präsident Selenskij, die "Errungenschaften" des Maidan nicht aufzugeben ("kein Frühstück für Putin") sind der Ausdruck dafür. Eine andere Schaltstelle des Einflusses ist die Kreditvergabe durch den IFW und Finanzinstitute der EU an die Ukraine. In einer Sonderposition befinden sich hohe US-Beamte. Sie beteiligen sich unmittelbar an der Postenvergabe in Schlüsselpositionen wie Staatsanwälten oder Innenminister. Ihre Vorlieben hängen jedoch von der innerpolitischen Situation im eigenen Land ab.
Die westlichen Pro-Maidan-Kräfte bleiben, jedoch agiert der Westen in der Ukraine-Politik nicht mehr einheitlich. Die gemäßigten Kräfte gewinnen immer mehr an Einfluss. Für sie ist der Maidan keine Politikone, und die Ukraine muss nicht unbedingt aus der russischen Einflusszone weggebrochen werden. Diese Mäßigkeit macht sich inzwischen auch in Berlin bemerkbar, zumindest, wenn man die Häufigkeit der Appelle zur Normalisierung der Beziehungen zu Russland aus verschiedenen politischen Lagern zur Kenntnis nimmt.
Auch in der Neuauflage der Großmachtpolitik, zumindest aus der Sicht von Trump und Macron, ist der Platz der Ukraine jetzt ein anderer, als er noch vor fünf Jahren gewesen ist. Grund: Russland hat sich als ernstzunehmender internationaler Akteur bewährt und muss allein schon aus pragmatischen Gründen besser eingebunden werden. Zudem gebe es außer der Eindämmung Russlands noch andere "Baustellen" – wie die Lage im Nahen oder Mittleren Osten oder der chinesische Aufstieg zur Supermacht.
Das bestärkt Russland beim Prozess der Minsker Regulierung im Konfliktgebiet der Ostukraine. Obwohl die Minsker Abkommen in keinem ihrer Punkte umgesetzt wurden, bleiben sie nach wie vor der wichtigste Orientierungspunkt bei der Konfliktlösung. Russland sieht den Donbass mit seinen weitreichenden Autonomierechten ganz klar als einen Teil der Ukraine. Diese Rechte gelten vor allem für die Sprache, die Kultur und die Geschichtspflege. Und das ist es, was die Minsker Abkommen ermöglichen.
Dieses Modell, sollte es erfolgreich werden, könnte auch andere Teile des ukrainischen Südostens beeinflussen und damit die flächendeckende Ukrainisierung verhindern. Dies würde das Szenario, wonach die Ukraine zu einer Art Anti-Russland werden soll, unmöglich machen, zumal große Teile der ukrainischen Bevölkerung keinen Bruch mit Russland anstreben.
Damit sind wir bei der innenpolitischen Dynamik in der Ukraine. Präsident Wladimir Selenskij hat einen großen Vertrauensbonus und die Mehrheit im Parlament. Unter seinen Wählern gibt es sehr viele Menschen, die die Politik der Ex-Regierung nicht wollen. Dazu gehört auch der radikal kriegerische Kurs gegen den Donbass und Russland. Außerdem ist die russlandfreundliche Opposionsplattform "Fürs Leben" mit nunmehr 43 Abgeordneten im neuen Parlament mittlerweile besser als in den letzten fünf Jahren vertreten.
Zu den wichtigsten Botschaften von Selenskij vor der Wahl gehörte die Beendigung des Krieges im Donbass. Er versprach die Rückführung der in Russland wegen Grenzverletzung festgesetzten Seeleute und anderer Personen. Das ist geschehen, und das kann er als politischen Erfolg sehen. Er führte bereits zwei Telefongespräche mit Wladimir Putin. Mit Poroschenko hat er hingegen im letzten Jahr nicht gesprochen.
Am Tag des Häftlingaustausches sagte Selenskij, dass nach der Rückgabe der Menschen nun die "Rückgabe der Territorien" anstehe. Damit meinte er wohl die nicht anerkannten Donbass-Republiken. Doch das sehen die Minsker Abkommen vor. Wichtig ist, dass Selenskij sich in diesem Fall auch als Gewinner sieht
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Im Moment will Kiew von Autonomie nichts hören. Es drängt aber, "so schnell wie möglich", auf ein Treffen im Normandie-Format. So ein Treffen möchte auch der französische Präsident Emmanuel Macron. Die Wünsche Selenskijs, dieses Format um die USA und Großbritannien zu erweitern, sind realitätsfern. Das letzte Gipfeltreffen des Formats Russland-Ukraine-Frankreich-Deutschland, das zum ersten Mal am 4. Juni bei den Feierlichkeiten zum 70. Jahrestag der Normandie-Landung im Jahre 2014 tagte, fand im Jahr 2016 statt.
Nach so einer langen Pause macht ein Treffen ohne politische Ergebnisse mit juristischen Verbindlichkeiten keinen Sinn. Die Ukraine ist kriegsmüde, den Donbass-Republiken ist enormer Schaden zugefügt worden. Die menschlichen Opfer liegen im fünfstelligen Bereich, etwa zwei Millionen Menschen verließen die Region.
Es wird zwar nicht mehr intensiv gekämpft. Scharmützel, Sabotageakte, Beschuss und Minenopfer gibt es aber nach wie vor. In der rechtlich nicht geregelten Zone und vor allem wegen der Eskalationsgefahr stagniert vor allem in den abtrünnigen Gebieten die Wirtschaft weiter. Das Fehlen der Umweltkontrolle in der einstigen Industrieregion birgt ein weiteres unkalkulierbares Risiko. Allen ist klar – so kann es nicht weitergehen.
Die Wiederherstellung der rechtlichen Ordnung mit den Rechten einer Autonomie ist die Lösung. Die Aufhebung der von Kiew verhängten Blockade würde vor allem das wirtschaftliche Leben weit über die Region hinaus wiederbeleben.
Russland strebt die Abtrennung des Donbass von der Ukraine nicht an, will aber eine enge Verbindung mit der Region beibehalten. Der nächste Schritt in dieser Richtung wäre die schon oft erwähnte "Steinmeier-Formel", und darüber spricht man mittlerweile nicht nur in Moskau.
Sie sieht Wahlen in der Region nach ukrainischem Recht und unter Aufsicht der OSZE vor, mit einer gleichzeitig verabschiedeten gesetzlichen Garantie für einen Sonderstatus. Erst danach soll die Kontrolle über die russisch-ukrainische Grenze an die Ukraine übergeben werden.
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Kiew hat oft wiederholt, dass die Minsker Vereinbarungen "nicht im Interesse der Ukraine" seien. Aber nun wollen die Europäer schneller eine Lösung, und der Druck wächst. Auf dem von Kiew seit nunmehr 16 Jahren veranstalteten Jalta-Forum warb am Samstag der OSZE-Vorsitzende Jaroslaw Lajčák für die Minsker Abkommen:
Für mich ist die Wiederherstellung des Vertrauens die vollständige Umsetzung der Minsker Abkommen, wenn sie transparent und ohne politische Spiele verlaufen. Wir haben einen guten Grundsatz, wie man die Minsker Abkommen richtig liest – das ist der Plan von Steinmeier. Ich denke, es ist eine gute Basis", sagte er.
Der US-Sonderbeauftragte Kurt Volker war auf dem Forum ebenso anwesend. Überraschend sprach er sich auch für die Umsetzung der Minsker Abkommen, inklusive bislang für Kiew inakzeptable Positionen wie Amnestie und einen "Sonderstatus", aus.
Dieser diplomatische Druck ließ den ukrainischen Vertreter in der Minsker Kontaktgruppe Leonid Kutschma klagen, vor einem baldigem Gipfeltreffen der Ukraine "eins gegen drei" anzutreten.
Früher konnte sich Präsident Poroschenko mit innenpolitischen Problemen (Druck der Nationalisten) und einer angeblich fehlenden Rada-Mehrheit für Gesetzesabstimmungen aus der Affäre ziehen. Jetzt hat Wladimir Selenksi alle Hebel in der Hand, inklusive eines "eigenen" Parlaments, um mit der Umsetzung der Minsker Abkommen zu beginnen. Die vermeintlich unkontrollierbaren Ultra-Nationalisten werden vom Innenministerium kontrolliert – ihre Nichteinmischung kann man mit politischem Willen ebenso durchsetzen.
Viele Beobachter des ukrainischen politischen Lebens merken an, dass der Pegel der antirussischen Rhetorik bei Vertretern der neuen Regierung abgeschwächt sei, auch beim neuen Außenminister Wadim Pristakjo, wenn man ihn mit dem Ex-Außenminister Pawel Klimkin vergleicht.
Der Regulierungsprozess wird noch Jahre dauern. Zu tief sind die Wunden, vor allem bei der Bevölkerung in der "separatistischen" Region, zu stark war und bleibt die Propaganda gegen sie in Kiew. Aber die Chancen, dass nach vielen Jahren des Stillstands der Minsker Prozess bei einem neuen Treffen im Normandie-Format Aufwind bekommt, stehen heute besser denn je.
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