von Wladislaw Sankin
Filmschaffende aus aller Welt konnten am Samstag aufatmen: Der ukrainische Regisseur Oleg Senzow kehrte aus russischer Haft zurück. Er gilt als der wohl bekannteste Häftling, der beim sogenannten russisch-ukrainischen "Gefangenenaustausch" an jenem Tag freigelassen wurde.
Während Demonstrationen und Festivals in den Jahren 2015 bis 2018 hörte man auf Filmfestspielen, Mitgliederversammlungen, Pressekonferenzen und anderen Events immer wieder den Aufruf: "Free Oleg Senzow". Auch Johnny Depp ließ sich im November 2016 im Rahmen der Kampagne "Imprisoned for Art" als Zeichen der Solidarität mit Senzow mit einem Häftlingsschild ablichten. Auf diesem war mit Anspielung auf den Ort seines Verbleibs in der ostsibirischen Haft zu lesen: "11.05.2014. Yakutsk Russia".
Nun dürfen Meryl Streep, Robert De Niro, George Clooney, Stephen King, Jean-Luc Godard – kurz gesagt: ganz Hollywood und mit ihm mindestens die halbe Kinowelt aufjubeln:
Was für eine Erleichterung: Der ukrainische Filmemacher Oleg Senzow ist frei. Im Jahr 2014 wurde er im Zuge der russischen Krim-Annexion verhaftet und 5 Jahre in einem Arbeitslager festgehalten. Nun wurde er im Zuge eines Gefangenenaustausches zwischen der Russischen Föderation und der Ukraine freigelassen, schrieb stellvertretend für die gesamte solidarische Filmwelt die Deutsche Filmakademie.
"Wir sind froh, dass er wieder drehen kann", äußerte sich ein Kollektiv aus hundert Kunstschaffenden aus Frankreich, darunter Altmeister wie Jean-Luc Godard sowie die Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne, in einem offenen Brief im französischen Le Figaro. Der Prozess gegen ihn sei eine "Parodie" eines Prozesses, er sei eine Geisel im "russisch-ukrainischen Krieg" gewesen, seine Haft sei ein "kolossaler Preis", den die Ukraine für Recht und Demokratie gezahlt habe.
Dank dieser Anstrengungen rund um die Welt kommt Senzow nun als Berühmtheit aus der russischen Haft zurück: Inzwischen ist er zum Ehrenbürger von Paris erhoben worden, außerdem wurde er mit dem Sacharow- und dem Magnitski-Preis geehrt. Mittlerweile hat er in den Reihen der Kunstschaffenden den Status eines Märtyrers erlangt, der für die Freiheit der Kunst leiden musste. So zumindest beschreibt die Deutsche Filmakademie sein Schicksal:
Sein Schicksal steht symbolhaft für die Gefahren, denen Kunst und Kulturschaffende bei der Machtergreifung autokratischer Regime gegenüberstehen.
Was würde sich ein interessierter Bürger nach permanenter Anpreisung eines Regisseurs in den Medien für gewöhnlich wünschen? Und zwar, dass man vom seinem Œuvre, von dem, was der Regisseur vor seiner Verschleppung und Verhaftung noch geschafft hat, in die Welt zu setzen, etwas abbekommen kann. Eine Retrospektive beispielsweise wäre denkbar, zumal die Rechte für seinen bislang einzigen Film nicht allzu kostspielig sein dürften. Denn das Original auf russischer Sprache ist frei auf Youtube verfügbar.
Auf diese Idee kommt in den deutschen Medien allerdings niemand. Auch auf unsere Anfrage, nach welchen Kriterien man Oleg Senzow in die Reihe der "Filmemacher" aufgenommen hat, kam vonseiten der Deutschen Filmakademie bislang keine Antwort. Formell gesehen könnte diese Bezeichnung auf der Teilnahme seines Films "Gamer" an den Filmfestspielen in Rotterdam und Wiesbaden beruhen. Der Film erhielt keinen Preis, wurde jedoch allein durch die Teilnahme an den Arthouse-Festspielen geehrt.
Oleg Senzow hat seinen Film im Jahr 2011 als damals 35-Jähriger samt Amateur-Team mit zusammengespartem Geld gedreht – inklusive einer digitalen Spiegelreflexkamera. Zuvor betrieb er jahrelang einen Laden für Computerspiele und gewann in der Ukraine Preise als Gamer. In seinem Film lässt er seinen Protagonisten, einen Teenager namens Dmitri, eine Gaming-Meisterschaft in Los Angeles gewinnen.
Dmitri ist ein emphatieloser Bursche, der mit seiner Mutter in Simferopol auf der Krim lebt. Schlafwandlerisch bewegt er sich durch den Film, redet kaum und träumt nachts. Auch der Erfolg als Gamer kann sein Leben nicht erfüllen. Seine Figur ist offenbar, was das Äußere und den Charakter betrifft, an den 17-jährigen Iwan aus dem Kultfilm "Kurier" aus den 1980er-Jahren vom Regisseur Karen Schachnasarow angelehnt. Doch das war es auch schon mit den Ähnlichkeiten.
Dem Film "Gamer" fehlt es an allem, was einen Film ausmacht: Plot, Spannung, Dialoge, Spiel, gute Kameraführung. Sogar der Ton lässt zu wünschen übrig. Oft müssen sich die Schauspieler nochmals erkundigen, was gesagt wurde. Nachgedreht wird dann allerdings nicht. Mit der Zeit des Zuschauers geht der Autor vergeuderisch um, wenn er mit seiner Kamera jedes Mal minutenlang bei bedeutungslosen Details verharrt.
In einer Filmhochschule würde es der Film "Gamer" maximal als Abschlussprojekt in ein Seminar schaffen. Wenn man jedoch bedenkt, welch strengen Aufnahmekriterien deutsche Filmhochschulen unterliegen, dann ist auch das anzuzweifeln. Auch deswegen ist anzuzweifeln, dass Wim Wenders, Johnny Depp, Meryl Streep und all seine Kollegen, die über ein Millionen-Dollar-Vermögen verfügen, sich je Zeit genommen hätten, das einzige Senzow-Werk selbst zu begutachten, bevor sie ihn in ihr politisches "Programm" aufnehmen.
Oleg Senzow hat in seinen Interviews vor der Ukraine-Krise behauptet, Ende der 2000er-Jahre die große Lust am Filmemachen bei sich entdeckt zu haben. Dieser Leidenschaft will er auch nach seiner Freilassung nachgehen. Die ukrainische Regierung hat derweil eine solide Finanzierung seiner Filme zugesichert. Ob der Regisseur schließlich mit seinen Folgefilmen den Propagandabonus verspielt oder sich in der Filmszene behaupten kann, ist ungewiss.
Auch eine politische Karriere ist für Senzow nicht auszuschließen. Allerdings ist dafür vier Jahre bis zu den nächsten Wahlen noch Zeit. Eine Parallele zur gescheiterten einstigen "Ikone" des ukrainischen Widerstands, der in Russland wegen Beihilfe zum Mord verurteilten Nadija Sawtschenko, ist nicht von der Hand zu weisen. Sie wurde begnadigt und ebenso im Zuge einer Tauschaktion im Mai 2016 mit dem Präsidenten-Jet in die Ukraine gebracht. Zwei Jahre danach saß sie bereits in ukrainischer Haft und verlor ihre zuvor zahlreichen deutschen Freunde.
Vor kurzem hat Senzow zusammen mit Iwan Koltschenko, der wegen Brandstiftung des Büros der Partei Einiges Russland in Simferopol ebenso in Russland verurteilt wurde, eine zweistündige Pressekonferenz abgehalten. Dort hat er zugegeben, an den Gesprächen über "Sprengungen und Brandstiftungen" im Zuge von Protestaktionen auf der Halbinsel Krim im April 2014 beteiligt gewesen zu sein.
An einer anderen Stelle hat Senzow behauptet, friedliche Proteste seien damals "unmöglich" gewesen. Er sagte auch, seine Rückkehr auf die Krim sei "nur auf Panzern" möglich. Koltschenko räumte seinerseits ein, den Brand im Partei-Büro eines Wohnviertels gelegt zu haben.
Wie tief er in die "Gespräche über Sprengungen" verwickelt war, ließ Senzow offen. Seine Schuld, an der Bildung einer terroristischen Zelle maßgeblich mitgewirkt zu haben, erkennt er nicht an. Seine eigenen zweideutigen Aussagen jedoch – wohlbemerkt nicht durch "Folter in einem FSB-Kerker" getätigt – lassen jedoch etwas mehr Raum für eine weniger zweideutige Interpretation einer Justizbehörde, als sich deutsche Bewunderer seiner "Kunst" wünschen würden.