von Gert Ewen Ungar
Am Freitag, dem 30. August, fand in der Residenz des Bundespräsidenten das diesjährige Bürgerfest statt. Geladen waren vor allem Bürger, die sich engagieren – ehrenamtlich, unentgeltlich. Das Fest trug das Motto "Lust auf Zukunft". In seiner Eröffnungsrede warb Steinmeier für eine offene Diskussionskultur, die eine Demokratie dringend benötige.
Das klingt erst mal gut. Demokratie braucht den Streit, die Auseinandersetzung und die Zuversicht, dass sich über einen fair ausgetragenen Diskurs auch die Dinge ändern und steuern lassen. Doch vermutlich wird der Bundespräsident genau diesen letzten Teil des konsequent zu Ende geführten Gedankens zurückweisen. Diskutieren ja, aber Einfluss auf die politische Entwicklung nehmen, das dann doch lieber nicht. Das verbleibt beim in Lobbygruppen und Thinktanks gut vernetzten Berufspolitiker.
Genau das aber ist der große Blinde Fleck der Rede, das ist die große Auslassung, um die Steinmeiers Rede kreist, um ja nicht zum essentiellen Punkt vorzudringen. Der wichtigste Aspekt bleibt in Steinmeiers Rede ausgeklammert. Denn wie keine zweite Biographie eines aktiven Politikers steht die von Steinmeier für ein aktives Vorantreiben der Erosion gesellschaftlichen Zusammenhalts auf allen Ebenen. Es hätte eines Schuldeingeständnisses bedurft, um der Rede des Präsidenten die Prädikate Mut und Ehrlichkeit zu verleihen. Es hätte eines "mea culpa" – "Ich trage Schuld" – bedurft. Dies blieb aber aus.
Zum einen steht er als maßgeblicher Architekt der Agenda 2010 für diejenigen Maßnahmen, durch die die Bundesrepublik immer weiter gespalten wurde und wird.
Was hat er getan? Er hat ein System befördert, das Druck auf die Arbeitnehmer ausübt, das einen riesigen Niedriglohnsektor in Deutschland geschaffen hat. Er ist mitverantwortlich für die Schwächung der Gewerkschaften und damit dafür, dass in Deutschland die Löhne weit hinter dem Möglichen zurückgeblieben sind. Er hat aktiv die Angst der Mittelschicht vor der realen Möglichkeit eines Abstiegs befördert.
Das hatte aber auch Rückwirkungen auf die Länder der Währungsunion. Er hat es mit zu verantworten, dass sich Deutschland als Mitglied in dieser Währungsunion durch Lohndumping, durch systematischen, gesetzlich beförderten Betrug an den Arbeitnehmern in Deutschland, Wettbewerbsvorteile gegenüber den anderen Nationen des Euroraumes erschlichen hat. Auf Kosten der anderen Euroländer wurde Deutschland zum Exportweltmeister, der nicht nur Autos und Technologie, sondern auch seine Arbeitslosigkeit an seine Handelspartner exportiert.
Um einen gesunden Währungsraum zu haben, müssen Handelsbilanzen ausgeglichen sein, in die eine wie die andere Richtung. Deutschlands Handelsbilanz ist extrem ungesund. Steinmeier ist mit der Ausgestaltung der Agenda 2010, dem Umbau und dem Rückbau der sozialen Sicherungssysteme, maßgeblich für das ökonomische Ungleichgewicht mitverantwortlich, an dem die EU zu scheitern droht. Er hat darüber hinaus die Angst vor einem individuellen Abstieg geschaffen, die so etwas wie die AfD hervorgebracht hat. Die Politik, die er zu verantworten hat, hat den Aufstieg rechter Parteien und Parteien, die man gemeinhin populistisch nennt, erst möglich gemacht. Es war eine rot-grüne Regierung, die sozialdemokratische und linke Politik von der Idee der Verteilungsgerechtigkeit völlig entkernt und damit nach rechts verschoben hat. Seitdem ist der Platz links von rechten, marktradikalen Wirtschaftspolitiken frei.
Die Linke, die sich gegründet hat, um diesem Rechtsrutsch, der maßgeblich von Steinmeier mitgestaltet wurde, entgegenzuwirken, hat nie eine zur Korrektur ausreichende politische Relevanz erreicht und ist inzwischen selbst dabei, das Projekt "Verteilungsgerechtigkeit" zugunsten von Identitätspolitik und Lifestyle-Themen aufzugeben. Sie rückt selbst nach rechts. Der linke Platz bleibt in der deutschen Parteienlandschaft leer. Das aufgeklärte Projekt linker Sozial- und Wirtschaftspolitik ist in Deutschland tot. Politiker wie Steinmeier haben es der Irrationalität und dem Recht des ökonomisch Mächtigeren preisgegeben. Der Staat gleicht die Interessen nicht mehr aus, sondern verkauft die Ungerechtigkeit als alternativlos. So moniert Steinmeier in seiner Rede ein Auseinanderfallen der Gesellschaft, für das er politisch mit die Verantwortung trägt.
Auch außenpolitisch hat Steinmeier nicht zur Einigung Europas, sondern als Spaziergänger auf dem Maidan zu einer neuen Spaltung Europas beigetragen. Dabei sind ihm alle diplomatischen Gepflogenheiten abhanden gekommen. Es gilt nach wie vor das völkerrechtliche Prinzip der Nichteinmischung. Ein Außenminister, der auf Demonstrationen im Ausland mit seiner Präsenz einer Gruppe Unterstützung für ihr Anliegen zusichert, verstößt gegen dieses Prinzip.
Das war allerdings nicht das erste Mal. Mit der rot-grünen Regierung und dem Überfall auf die Bundesrepublik Jugoslawien wurde der Völkerrechtsbruch zum regulären Mittel der deutschen Außenpolitik erhoben. Gewalt ersetzt Recht. Die Beispiele dafür sind inzwischen zahlreich. Egal, ob militärische Unterstützung im Irak, in Syrien, Anerkennung von selbsternannten Präsidenten, Staatspiraterie mit deutscher Unterstützung usw. usf., die Außenpolitik Deutschlands ist inzwischen von groben Missachtungen internationalen Rechts durchzogen.
Wer aber selbst wie kein anderer aktiver Politiker für die Zunahme von Gewalt in der Außenpolitik steht, muss sich über eine allgemeine Verrohung der Diskussionskultur nicht wundern, schließlich hat er maßgeblich dazu beigetragen zu zeigen, dass es die Gewalt des Stärkeren ist, die zählt, und nicht das Recht.
Steinmeier steht für Verrohung. Auch damit, dass er einen deutschen Staatsbürger trotz der Bereitschaft der USA ihn auszuliefern, in einem US-amerikanischen Folterlager, in Guantánamo, zurückgelassen hat. Und das, obwohl die Unschuld von Murat Kurnaz längst bewiesen war. Steinmeier hat die Sprache der Diplomatie, der Menschlichkeit und der Vernunft durch die Sprache der wirtschaftlichen und militärischen Gewalt ersetzt.
Diese Sprache der Gewalt wurde auch im Innern angewandt. Während Steinmeier eine Diskussionskultur ohne Hass und Gewalt anmahnt, ist es seit Jahren die Politik der unterschiedlichen Bundesregierungen in welcher Konstellation auch immer, die sich jeder tatsächlichen politischen Diskussion verweigert.
Das Thema ist dabei unwichtig. Egal, ob Migration, Militarisierung oder Aggression gegen Russland, Politik ignoriert in einem unglaublichen Ausmaß die Befindlichkeiten, die Sorgen und Befürchtungen ihrer Bürger.
Die Seitenhiebe Steinmeiers gegenüber Russland und China wirken daher deplatziert. Während sich über zivilen Protest in Russland tatsächliche Änderungen der Politik bewirken lassen, geht das in der von Steinmeier mitgestalteten Bundesrepublik eben nicht. Stuttgart 21 wird gegen jeden Bürgerwiderstand völlig unverändert gebaut, die Steigerung der Rüstungsausgaben ist ausgemachte Sache, die Aggression gegen Russland wird weiter eskaliert, Zuwanderung als Allheilmittel für alles Mögliche verkauft.
Die Forderung nach einer Gesellschaft, die sich nicht spalten lässt, wirkt daher aus dem Munde Steinmeiers reichlich zynisch. Denn man muss natürlich auch eine Politik betreiben, die eine Spaltung verhindert. Das bedeutet aber, Positionen der Wähler und Bürger zur Kenntnis zu nehmen und danach zu handeln. Von diesem grundlegenden Prinzip demokratischer, politischer Kultur hat sich die Bundesrepublik mit Politikern wie Steinmeier ganz weit entfernt. Im Gegenteil steht Steinmeier mit seiner politischen Biographie wie kein anderer für die Durchsetzung von Politik gegen die Interessen der überwiegenden Mehrheit der Bürger. Er steht als Politiker für genau die Radikalisierung und Konfrontation, die er in seiner Rede anprangert. Seinen Beitrag an dieser Verrohung der politischen Kultur der Republik lässt Steinmeier ungenannt.
Ungenannt lässt Steinmeier auch den Anteil, den die Sowjetunion an der Wiedervereinigung Deutschlands hatte. Bei ihm gerinnt die Wiedervereinigung zu einer romantischen Revolutionserzählung. Das ist in dieser verkürzenden Schlichtheit sicherlich falsch. Mit dieser groben Verzerrung der Geschichte demonstriert Steinmeier seinen Unwillen, einen Beitrag zu einer tatsächlichen, an den Fakten ausgerichteten Diskussionskultur in der Bundesrepublik zu leisten. Er verweigert als Präsident den notwendigen Beitrag zur Verwirklichung des Inhalts seiner Rede. Es geht ihm nicht um die Schlichtung des Risses, der auch dank ihm durch Europa und der ebenfalls dank seinem Wirken durch die deutsche Gesellschaft geht. Seine Rede leistet mit dieser zugrunde liegenden Haltung eben keinen Beitrag zur Überwindung der Spaltung der deutschen und der europäischen Gesellschaft, sondern ist ein Beitrag zu ihrer weiteren Vertiefung.
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