von Wladislaw Sankin
"Pünktlich" zu den beiden nahe beieinanderliegenden Daten – dem 80. Jahrestag des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts und dem deutschen Angriff auf Polen am 1. September 1939 – stellte die Historikerin Claudia Weber in deutschen Medien ihr neues Buch vor. Geradezu hysterisch mutet sein Titel an: "Der Pakt. Stalin, Hitler und die Geschichte einer mörderischen Allianz 1939–1941". Als "lesenswert und gradlinig" lobte die dpa das Buch. Auch andere Medien berichteten ausführlich über das Buch und interviewten die Autorin.
Das dpa-Lob für die Sichtweise der Professorin haben Dutzende große und kleine Medien übernommen. Der Nichtangriffspakt sei der Inbegriff kalten Machtkalküls, Skrupellosigkeit und Expansionswillens. Er hat laut Weber eigentlich den Zweiten Weltkrieg entfesselt:
Seine einzigartige historische Bedeutung und Wirkungsmacht bestand darin, dass die beiden großen und in unversöhnlicher Feindschaft verbundenen Diktaturen mit diesem Vertrag den Zweiten Weltkrieg in Europa entfesselten.
Diese "Erkenntnis" sollte nun dem lang gehegten Wunsch der EU-Eliten neues Leben einhauchen, die Schuld am Krieg auch auf die UdSSR abzuwälzen. Am 3. Juli 2009 hat die Parlamentarische Versammlung der OSZE eine Resolution verabschiedet, in der die Rolle Nazi-Deutschlands und die der Sowjetunion beim Ausbruch des Zweiten Weltkriegs auf eine Stufe gestellt wurden.
Außerdem führte das Dokument den 23. August als Tag des Gedenkens an die Opfer von Stalinismus und Nazismus ein. Nach zehn Jahren wird das Bild, wonach die Sowjetunion und Nazi-Deutschland gleichermaßen Schuld am Krieg sein sollen, den Menschen in diesen Tagen medial wieder stark eingeimpft.
Auch Der Spiegel meldete sich mit einer Reihe von Beiträgen, die natürlich ins gleiche Horn bliesen. Einen der Artikel schrieb der langjährige Moskau-Korrespondent Christian Neef. Auch für ihn steht fest:
Stalin hat Hitler den Weg geebnet, weil sich seine Interessen mit denen Hitlers trafen.
Laut ihm ist das Argument, dass die UdSSR sich durch den Vertrag Zeit für Kriegsvorbereitung getroffen hat, "unsinnig", weil die Rote Armee von dem Angriff in Juni 1941 völlig überrascht worden sei.
Die wechselhafte diplomatische und geheimdienstliche Vorgeschichte des Pakts fasst der Spiegel-Autor in einem Satz zusammen: Die Lage auf dem Kontinent war zum Zerreißen gespannt. Kein Wort über die Positionen Englands, Frankreichs, Polens. Zu Polen sagt er nur: Stalin besetzt 52 Prozent des polnischen Territoriums mit 14 Millionen Menschen.
Aber das eigentliche Thema des Artikels ist gar nicht der Pakt selbst, sondern der russische Trend zur Abkehr von der Verurteilung des Pakts samt dem Geheimprotokoll durch den Obersten Sowjet der UdSSR im Dezember 1989. Der damalige Ratsbeschluss war ein juristischer Akt, der die rasche Loslösung der baltischen Teilrepubliken von der UdSSR nach sich zog, ein Vorgang, der die Auflösung des ganzen Staates einleitete.
Mit kritischem Auge verfolgt Der Spiegel die "Revanchisten" unter den Historikern und natürlich den russischen Präsidenten, der den Pakt "nicht mehr schlecht findet". Sein finsteres Bild "schmückt" den Artikel, ebenso wie die Sticheleien, Russland nutze die russische Minderheit in baltischen Staaten "als fünfte Kolonne". Diese Minderheit ist vor allem in Estland und Lettland starkem Assimilierungsdruck ausgesetzt. Dort wurde unlängst der Schulunterricht auf Russisch komplett gestrichen.
Neef war im Schlüsseljahr 1989 laut Wikipedia bereits mehrere Jahre "für den Rundfunk" in Moskau tätig. Im Jahr 1991 wechselte er zum Spiegel. Es ist daher unwahrscheinlich, dass Neef den Dreiteiler einer Spiegel-Legende, des ruhmreichen "Sprachartisten" (Spiegel-Nachruf 2002) Wilhelm Bittorf, nicht kannte. Umso erstaunlicher, denn in die Reihe der "Geschichtsrevisionisten" sollte Bittorf nach heutiger Lesart als Erster aufgenommen werden.
Allerdings war im Moment der Veröffentlichung des dritten Teils des Geschichtsessays "Es zittern die morschen Knochen" vier Tage vor dem 50. Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen noch nichts zu "revidieren". Denn der Oberste Sowjet tagte erst vier Monaten später zu seiner nun in Russland umstrittenen Abstimmung.
Detailliert rekonstruiert Bittorf in seinem Essay die Ereignisse des Jahres 1939 in Europa, von der Auflösung der Tschechoslowakei im März bis zum 23. August – dem Tag der Vertragsunterzeichnung in Moskau durch die Außenminister Ribbentrop und Molotow.
Der berühmt-berüchtigte Nichtangriffspakt war nach Spiegel-Darstellung das unausweichliche Resultat der Fehleinschätzungen und Sabotage durch die Westmächte. Immer wieder wird im Artikel betont: "Es waren Stalins Mannen, die den Anstoß zur Bündnisdiskussion (mit den Westmächten) gegeben hatten." Dazu auch Churchills Einschätzung:
Die russischen Interessen konzentrieren sich zutiefst darauf, Herrn Hitlers Pläne für Osteuropa zu vereiteln.
Dabei entwickelten sich die Gespräche nach dem gleichen Muster: Die Russen drängten auf Resultate, die Engländer zauderten und verzögerten, und das ging von April bis zum 21. August so, als die Verhandlungen in Moskau wegen ihrer Perspektivlosigkeit beendet wurden.
Das Verständnis für Moskaus Sicht ging beim Spiegel im Jahr 1989 sogar bis zur Einschätzung, Stalin habe außenpolitisch "vorsichtig" gehandelt. Seine Regierung habe auf das Völkerrecht gepocht und von allen europäischen Großmächten am konsequentesten auf einer gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur bestanden.
Dieser wurde durch das Münchner Abkommen im September 1938 der entscheidende Schlag versetzt, und nicht erst im August 1939 mit dem deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt. Auch die Aufteilung Polens war für den Spiegel nicht Skrupellosigkeit und Expansionswillen geschuldet, sondern berechtigten sowjetischen Sicherheitsbedenken nach dem Ausbooten der UdSSR in München.
So habe Vizeaußenminister Wladimir Potjomkin dem französischen Botschafter Robert Coulondre nach der Münchner Konferenz "ominös angedeutet, die Sowjets könnten, wenn der Westen sie weiter ignoriere, gezwungen sein, sich mit Hitler auf 'eine vierte Teilung Polens' zu einigen".
Überhaupt, für die damalige polnische Regierung hatte Bittdorf nichts als die Bezeichnung "Warschauer Junta" übrig, gnadenlos kritisiert er sie für den Boykott von Verhandlungen mit der Sowjetunion, denn im Endeffekt habe dadurch keine geschlossene, abschreckende Abwehrfront im Osten entstehen können.
Die Gebiete, die Polen dabei tatsächlich in der zweiten Septemberhälfte 1939 durch den Einmarsch der Roten Armee verlor, wurden auf der Spiegel-Karte als "von Polen 1919/1920 erobert" markiert.
"Es waren die Kilometer, an denen Hitler scheitern sollte; denn sie machten den Weg nach Moskau zu lang für seine Armee", schrieb der Spiegel-Autor über die infolge des Nichtangriffspakts von Polen abgeschnittenen oder nach sowjetischer Lesart zurückgeholten polnischen Ostgebiete. Mit dieser Schlussfolgerung beendete er seinen Text.
In der Spiegel-Story von 1989 wurden die englischen und französischen Politiker als "Traumtänzer" bezeichnet, deren Russland-Ressentiment sie daran hinderte, eine wirkungsvolle Allianz gegen das kriegslüsterne Hitlerdeutschland zu bilden. Ihnen gegenüber steht der "Dickschädel" Churchill, der dem Artikel zufolge aus Opposition zu Neville Chamberlain immer wieder das "Richtige" gesagt hat.
Die Absichten der Regierung seiner Tories werden jedoch als zu kurz gegriffen dargestellt. Der britische Premier Chamberlain wollte laut Spiegel auch nach dem 17. März – dem Einmarsch in Prag – noch mit Hitler "ins Reine kommen". Doch es war etwas mehr als das. Während die Sowjets deutschen Gesprächsangeboten immer wieder mit Schweigen begegneten, bis die Hitler-Regierung, als der Termin am 1. September immer näher rückte, "den deutschen Laden mit vielen Waren" (die Worte des Staatssekretärs Ernst von Weizsäcker an den sowjetischen Diplomaten Georgi Astachow im Juni 1939) wenige Tage vor Ribbentrops Landung in Moskau ganz weit öffneten, wandten sich die Engländer proaktiv an die Deutschen.
Diese Verhandlungen im Juni/Juli 1939 sind als "Londoner Gespräche" bekannt. Der deutsche Unterhändler, der hochrangige deutsche Beamter und Göring-Berater Helmuth Wohlthat, traf sich mehrmals auf englisches Gesuch mit dem Staatssekretär für Überseehandel Robert Hudson und dem Chamberlain-Berater Horace Wilson.
Laut den Aufzeichnungen des deutschen Botschafters Herbert von Dirksen ging es bei den Gesprächen um weitreichende Programme der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und politischer Regulierung sowie um die Unterzeichnung eines Nichtangriffspaktes. Es sollte dabei speziell um den Verzicht Englands auf die Garantien für Polen und die Aufteilung der "Interessensphären" in den Fragen "Kolonien in Afrika und Nahen Osten, Rohstoffe, China und Russland" gehen.
Er (Hudson) vertrat die Ansicht, dass es auf der Welt drei große Gebiete gibt, die die Möglichkeit einer breiten Kooperation zwischen England und Deutschland böten: das Britische Weltreich, China und Russland", schrieb Dirksen.
Diese Pläne seien "in einflussreichen Kreisen sehr verbreitet", schrieb er in einer anderen Mitteilung.
Diese Gespräche scheiterten, auch weil es in der britischen Opposition, in der Presse und beim gemeinen Volk zu viele Gegner der Annäherung an Deutschland gab. Aber die Absicht war nicht weniger "skrupellos" als die der "Diktaturen", sogar weitreichender. Geographisch umfasste sie die halbe Welt, darunter die Sowjetunion als potenzielle Verhandlungsmasse.
Der Gegenstand der Unterredungen war durch damals allgegenwärtige Agenturnetze auch dem Kreml bekannt und wurde womöglich als Entscheidungshilfe gewertet, ob die Sowjetunion weiter fruchtlos mit Briten, Franzosen und Polen verhandeln oder mit dem potenziellen Aggressoren eine Atempause aushandeln sollte.
Am Vergleich der beiden ausführlichen Spiegel-Beiträge von Bittorf und Neef kann man gut ablesen, wie gewaltig sich das Geschichtsbild in Deutschland in der Frage des Kriegsbeginns von einem faktenorientieren Geschichtsverständnis in Propaganda verwandelt hat. Heute steht die Geschichtswissenschaft klar im Dienste derjenigen EU-Kreise, die im Geiste des heutigen polnischen und baltischen Geschichtsrevisionismus weiter an der Stalin- und Kommunismusschraube drehen, um Russland als Nachfolger der UdSSR die Legitimität auf den Stolz für den Sieg über den Nazimus abzusprechen.
Auch in den 1980er-Jahren, nur kurz nach dem berühmten Historikerstreit, war Geschichte der Politik nicht fremd. Geht die fast positive Darstellung von "Stalins Mannen" im Spiegel-Artikel von 1989 etwa nicht auf das westliche Gorbi-Fieber zurück? In der UdSSR hat zu diesem Zeitpunkt die Aufarbeitung der Stalin-Zeit bereits zu ihrer Dämonisierung geführt. Diese hat im Endeffekt zum Beschluss des Obersten Sowjets geführt, dessen Infragestellung den Spiegel heute so aufregt.
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