von Willy Wimmer
Fünfundsiebzig Jahre ist es her, dass im Westen des europäischen Kriegsschauplatzes die aus sowjetischer Sicht längst überfällige "zweite Front" der Alliierten durch die Landung in der Normandie eröffnet werden konnte. Kein Wunder, dass sich Staats-und Regierungschefs aus der ganzen Welt dort versammeln werden.
Es darf allerdings bezweifelt werden, dass neben den dem Anlass angemessenen Reden auch echte Konsequenzen aus dem damaligen mörderischen Geschehen gezogen werden. Seit langem besteht der öffentliche und weltweite Eindruck darin, sich jeden Tag den Ausbruch eines vergleichsweise globalen Krieges vergegenwärtigen zu müssen, weil der friedliche Ausgleich von Interessen nicht gewollt ist.
Die Dramatik der Feierlichkeiten in der Normandie zum morgigen Jahrestag besteht allerdings darin, dass die zivilisatorische Konsequenz der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges mit dem völkerrechtswidrigen Krieg der NATO gegen die Bundesrepublik Jugoslawien im März 1999 über Bord geschmissen wurde. Mit diesem Krieg kehrte die NATO zu dem Völkerrechtszustand in Europa zurück, wie er sich mit dem deutschen Angriff auf Polen am 1. September 1939 manifestierte. Gerade wegen den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges sollte Krieg grundsätzlich geächtet werden. Dafür wurde die Charta der Vereinten Nationen ins Leben gerufen. Der Griff zu den Waffen wurde streng begrenzt und letztlich an die Zustimmung durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen gekoppelt.
Nach dem Ende des ersten Kalten Krieges wurde dieses feierliche Versprechen im November 1990 in der Charta von Paris erneut bekräftigt. Dennoch musste die Welt erleben, wie die USA als alleinige Supermacht dieses Versprechen und die Verpflichtung aus der UN-Charta brachen, weil es in ihrem Interesse stand.Das war und ist eine verhängnisvolle Art und Weise, einen Schlussstrich zu ziehen und zivilisatorische Konsequenzen zu verleugnen.
Das war und ist für das geschundene Europa nichts, was neu genannt werden kann. Bereits beim Wiener Kongress 1815 dämmerte dem österreichischen Kanzler Metternich und dem russischen Zaren Alexander die Erkenntnis, unter allen Umständen Verheerungen in Europa zu verhindern, wie sie durch die napoleonischen Kriege hervorgerufen worden waren.
Deshalb die gemeinsame Vorstellung einer "Heiligen Allianz", um die Interessen der europäischen Mächte so abzugleichen, dass die Zerstörung Europas verhindert werden könne. Zu kurz gesprungen, denn England wollte auf dem europäischen Kontinent seine Kriege führen. Ein Grundsatz, an den die USA nach 1990 mit der Abfolge von völkerrechtswidrigen Kriegen in Europa und umliegenden Regionen anknüpften.
Dennoch war der Wiener Kongress nicht vergebens, weil das besiegte Frankreich gleichberechtigt an den Konferenztisch geladen wurde, um eine Friedenslösung herbeiführen zu können. Das entsprach europäischer Tradition seit dem Frieden 1648 von Münster und Osnabrück, um 1919 vollends im alliierten Interesse über Bord geschmissen zu werden. Laut Christopher Clark sind die europäischen Mächte in den Ersten Weltkrieg getaumelt.
Die deutsche Verantwortung war die Verantwortung der anderen
Christopher Clark hat die stringente Planung britischer und französischer Kreise zur Vernichtung des prosperierenden Deutschlands ausgeblendet. Warum wohl?
Kein Grund also, Österreich-Ungarn und Deutschland in Versailles 1919 die Alleinschuld für diesen Krieg aufzuerlegen. Deutschland sollte vernichtet und gegebenenfalls völlig aus der Bahn geworfen werden. Ohne Versailles kein Hitler und ohne Hitler kein Zweiter Weltkrieg: das ist die Konsequenz aus dem gezielten Vorgehen gegen Deutschland, um dessen Willfährigkeit für alliierte Interessen auf Dauer sicherzustellen.
Es waren Österreich-Ungarn und Deutschland, die 1918 auf die "vierzehn-Punkte" des US-amerikanischen Präsidenten für einen fairen Frieden vertraut haben, um sich dann in Versailles ohne jede Mitsprache wiederzufinden. Wie am Ende des Kalten Krieges die Sowjetunion, die auf die Charta von Paris und die der UN vertraute, um heute als Russische Föderation deutsche und allliierte Panzer gegen jede Vereinbarung an seiner Westgrenze in Stellung gebracht zu sehen.
Die Teilnehmer der Feierlichkeiten in der Normandie am 6. Juni 2019 sollten gleich zum Gedenken an die hundertste Wiederkehr von "Versailles" Ende Juni 1919 dorthin weiterziehen.
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