von Wladislaw Sankin
Die "Potsdamer Begegnungen" sind neben dem "Petersburger Dialog" ein Gremium zur Erörterung aktueller Fragen in Bezug auf bilaterale Beziehungen und globale Politik. Am 15. Mai tagten Politiker, Experten, Wirtschaftsvertreter und Militärfachleute in Berlin. Von deutscher Seite traten u. a. Dirk Wiese, Koordinator der Bundesregierung für die zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit mit Russland, Zentralasien und den Ländern der Östlichen Partnerschaft, und der CDU-Politiker und Ex-Militär Roderich Kiesewetter, Obmann im Auswärtigen Ausschuss des Deutschen Bundestages, mit Impulsvorträgen auf.
Die Atmosphäre der ganztägigen Konferenz war den Bemerkungen vieler Teilnehmer zufolge wärmer als in den Vorjahren der "Eiszeit", die nach Beginn der Ukraine-Krise Anfang 2014 die deutsch-russischen Beziehungen erfasste. Man sah sich diesmal bemüht, nicht nur den dünnen "Gesprächsfaden aufrecht zu erhalten", sondern neue Konzepte für eine gemeinsame Politik zu entwickeln. Auch das Interesse der Medien war wieder entfacht – statt drei Journalisten wie beim letzten Treffen erschienen diesmal zum anfänglichen Pressegespräch viermal so viele, wie ein russischer Teilnehmer hervorhob.
Nach dem anfänglichen Lob zum Forum als "renommierte Gesprächsplattform" vonseiten der Außenminister Sergei Lawrow und Heiko Maas in ihren Begrüßungsappellen – verlesen durch ihre Vertreter – rutschte die Diskussion jedoch zunehmend in die alte Kontroverse, wer bei der Beilegung der Krisen nun mal in "Bringschuld" sei – Russland oder der Westen.
Vor allem die deutschen Vertreter Dirk Wiese und Roderich Kiesewetter konnten es sich nicht verkneifen, erneut eine Art "Tribut" von Russland für die Verbesserung der Beziehungen einzufordern: von Cyberattacken und Fake-News-Kampagnen abzusehen, auf Assad bezüglich der politischen Lösung im Syrien-Krieg einzuwirken, die Furcht der baltischen Staaten vor Russland zu verstehen, westliche Sanktionen als "friedliche Mittel der Politik" zu akzeptieren, sich mit der "westlichen Bindung der Ukraine" abzufinden und die Einarbeitung des neuen ukrainischen Präsidenten Wladimir Selenskij in sein Amt nicht zu erschweren.
Auch Warnungen wurden ausgesprochen. Es dürfe keine "exklusiven" Beziehungen zwischen Russland und Deutschland geben, ohne die Positionen der Polen und Osteuropäer zu berücksichtigen, betonte Dirk Wiese abermals. Der Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, warnte die Russen auch davor, die aktuellen Unstimmigkeiten in transatlantischen Beziehungen für sich zu nutzen. Die transatlantische Schiene der Deutschen sei unerschütterlich.
Kein Einsatz für INF-Vertrag
Die Russland-Kritik war bei diesem Treffen zwar mit einer Prise diplomatischer Rhetorik versehen, die Botschaft allerdings war klar: Europa und der Westen, an dieser Stelle stellvertretend durch Deutschland, seien bereit, Russland die Türen erneut zu öffnen, jedoch nur, wenn Russland zahlreiche Hausaufgaben erfülle und das Recht des Westens über seine Einflusszone im gesamten Osteuropa einschließlich der Ukraine nicht anfechte. "Wir sollten aber aufhören, in Einflusszonen zu denken", widersprach sich dabei einmal mehr CDU-Mann Kiesewetter.
Die Reden der beiden deutschen Politiker wirkten diesmal deplatziert und stießen nicht nur bei den russischen Gästen auf Gegenkritik. So sagte Grünen-Politikerin Antje Vollmer, ehemalige Bundestagsvizepräsidentin, in Bezug auf die Rede von Wiese, dass "Aufforderungen, etwas zu tun oder zu lassen", nichts brächten. Das funktioniere weder mit Russland noch mit Venezuela noch mit dem Iran. General a. D. und ehemaliger Inspekteur der Bundeswehr, Harald Kujat, sagte, dass man "aufhören muss mit den Vorwürfen".
Seine Kritik galt jedoch nicht nur dem Gesprächston mit Russland generell, sondern auch der Untätigkeit der Bundesregierung bei der Rettung des INF-Vertrages. "Ich kann nicht feststellen, dass die deutsche Regierung etwas dagegen unternimmt", sagte Kujat und betonte, dass die Rettung bzw. Neuausrichtung des INF-Vertrages derzeit die oberste Priorität sei. "Wir müssen den Tunnelblick seit der Ukraine-Krise hinter uns lassen. Bei allen Gegensätzen, denn es geht schließlich um unsere gemeinsame Sicherheit – Europas und Russlands", so Kujat.
"Man schuldet niemandem etwas"
Auch Russlands Botschafter in Deutschland, Sergej Netschajew, meldete sich spontan zu einer Erwiderung auf die Rede von Wiese. Der Diplomat sagte, "man sollte Abstand nehmen von dem Wort 'müssen' – wir 'müssen' mit Assad reden –, als wären wir für die Syrien-Krise verantwortlich; wir 'müssen' Waffen aus Kaliningrad abziehen – als hätten wir die NATO bis an die russische Grenze geführt". Deshalb hoffe der Botschafter, dass die Potsdamer Begegnungen nicht auf einem "müssen", sondern auf einem gemeinsamen Dialog basieren werden.
Der Vorsitzende der Russisch-Deutschen Parlamentariergruppe und des Energieausschusses der Staatsduma, Pawel Sawalny, fragte sich, warum es in Deutschland Doppelstandards gebe, warum man mit Russland derart streng umgehe, mit der Ukraine aber so nachsichtig, obwohl es dort nicht übersehbare rechtsextreme Tendenzen gebe und die Ukraine die Minsker Vereinbarungen nicht erfülle. Er erinnerte die Anwesenden auch an das Massaker von Odessa mit über 50 Toten – ein unaufgeklärtes Verbrechen, das in Deutschland nicht beachtet werde.
Ein weiterer russischer Konferenzteilnehmer, Alexander Sawenkow, Leiter des Instituts für Recht und Staatswesen der Russischen Akademie der Wissenschaften, sah sich gegen Ende der Konferenz im Hinblick auf den Impulsvortrag Roderich Kiesewetters zu Widerspruch genötigt: "Wir hören es wieder in dieser komfortablen Atmosphäre, man müsse dies und jenes. Richtig heißt es aber: Niemand schuldet jemandem etwas. Wichtig sei nur der Frieden." Er wies dabei auf das Aufwallen der militärischen NATO-Infrastruktur vor russischer Grenze hin – unter dem "aberwitzigen" Vorwand, Russland wolle sein Territorium auf Kosten von EU- oder NATO-Staaten vergrößern.
Experte: Rhetorik von vorgestern
Der bei der Konferenz anwesende russische Top-Journalist und Politologe, der Vorsitzende des Rates für Außen- und Verteidigungspolitik Russlands sowie Chefredakteur der Zeitschrift Russia in Global Affairs, Fjodor Lukjanow, erklärte gegenüber RT, dass die Fortsetzung der bisherigen Anschuldigungen auch nach fünf Jahren der Ukraine-Krise nicht verwunderlich sei. Obwohl die Auswirkungen der Krise, die maßgeblich durch den Westen provoziert wurde, für alle offensichtlich "katastrophal" seien, bediene man sich weiterhin an einer Art "Inertionsrhetorik", denn man habe in Europa bislang keine neue Russland-Politik geschaffen. Die alte wurzele aber im westlichen Triumphalismus nach der Auflösung des Ostblocks, die sich NATO und Weststaaten als Sieg verbucht hätten.
Solange es keine neue Politik gibt, wird man die gleichen Mantras hören, sagte Lukjanow.
Solange aber Europa sich mit sich selbst beschäftige, aufgrund der Krisenerscheinungen "in sich hineinschaut", könne auch keine neue Politik zustande kommen. Trotz dieses "fatalistischen Blicks" empfand der russische Top-Experte die Atmosphäre des Treffens im Vergleich zu den Vorjahren durchaus positiv. "Das Projekt hat überlebt und kommt zurück ins Zentrum der Aufmerksamkeit", sagte er.