EU-Wahlen: Demokratische Fassade statt echter Mitbestimmung?

Die etablierte Politik zeichnet gerne das Bild einer EU als Gegenmodell zum Nationalismus. Doch sind Nationalstaaten wirklich obsolet – oder sichern sie nicht vielmehr die demokratische Mitbestimmung der Bürger, die vom EU-Parlament nicht verwirklicht wird?

von Felicitas Rabe

Vor den Ende Mai stattfindenden EU-Wahlen betonen die etablierten Parteien, wie wichtig es sei, sich an der Wahl des EU-Parlaments zu beteiligen. Dabei wird in den lautstarken Wahlkampagnen herausgestrichen, dass die Europäische Union eine ideologisch "bessere" politische Institution als die nationalen Regierungen der einzelnen Mitgliedsstaaten darstelle. Der Wunsch nach dem Erhalt der politischen Souveränität der Nationalstaaten wird mittlerweile gleichgesetzt mit Nationalismus und rechter Gesinnung.  

Und als guter Demokrat und gute Demokratin sei man schließlich verpflichtet, sich gegen diesen Nationalismus zu wenden. Von den EU-Befürwortern wird aber unterschlagen, dass man doch als Bürger umso mehr partizipieren und damit seine demokratischen Rechte ausüben kann, je kleiner die Gebiete sind, auf deren Politik man durch seine Wahl Einfluss nimmt. Nach dem sogenannten Subsidiaritätsprinzip sollten möglichst viele politische Entscheidungen so nahe wie möglich an die Bürger herangerückt werden, damit diese entsprechend Einfluss nehmen können.  

Wenn ich als deutscher Bürger in Deutschland Steuern bezahle, möchte ich durch meine Wahl möglichst wirkungsvoll beeinflussen, wofür diese Steuergelder entsprechend dem von mir wahrnehmbaren Bedarf ausgegeben werden. Ich möchte möglichst überschauen können, ob diese beispielsweise für mehr Umweltschutz, für mehr Bundeswehr, für mehr Kindergärten oder für mehr Autobahnen verwendet werden sollten.  

Bei aller Kritik, die man an Nationalstaaten und deren Entstehung haben kann, sind es vor allem die Wahlen im nationalstaatlichen Rahmen, die es dem Bürger erlauben, Einfluss auf die Gesetzgebung zu nehmen, die in den einzelnen europäischen Ländern sehr unterschiedlich ausfallen kann, auch bedingt durch eine unterschiedliche Kultur.

So gibt es zum Beispiel in Deutschland eine öffentliche Wasserversorgung mit ca. 6000 öffentlichen Wasserwerken. In anderen europäischen Ländern ist es nicht gelungen, die öffentliche Wasserversorgung vor dem Zugriff privater Konzerne zu bewahren, denen es weniger auf die Wasserqualität als auf den Profit ankommt. Nur die nationale Gesetzgebung in Bezug auf Trinkwasserversorgung und -qualität konnte in Deutschland diesen Ausverkauf bis jetzt verhindern.

In Polen wurde im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern im Jahr 2013 der Anbau von gentechnisch verändertem Saatgut verboten, weil die polnische Regierung beziehungsweise die polnischen Bauern die Umweltrisiken der Gentechnik vermeiden wollen. Genauso gibt es bis jetzt noch viele unterschiedliche nationale Regelungen in den einzelnen europäischen Nationalstaaten, in Bezug auf Arbeitsrecht, Umweltschutz, soziale Rechte, und viele andere Bereiche, die der totalen Kontrolle und Einschränkung durch private Konzerne noch im Wege stehen.  

Deshalb stellt sich die Frage, ob es sich auf das Leben der EU-Bürger wirklich vorteilhaft auswirken würde, wenn die nationalen Regelungen mehr und mehr durch EU-Regeln ersetzt würden. Nun könnte man meinen, durch die Wahl des EU-Parlaments übten die Bürger ja weiterhin Einfluss aus, weil sie Abgeordnete wählen können, die sich für ihre Belange einsetzen. Aber ist das tatsächlich so?

EU-Parlament – nur eine demokratische Fassade?

Dazu kann man auf der Webseite des Europäischen Parlaments zum Thema Legislativbefugnis Folgendes erfahren:

Der Abgeordnete verfasst im Rahmen eines parlamentarischen Ausschusses einen Bericht über einen von der Europäischen Kommission, die über das ausschließliche Gesetzgebungsinitiativrecht verfügt, unterbreiteten 'Legislativtext'. Der Ausschuss stimmt über diesen Bericht ab und nimmt gegebenenfalls Änderungen daran vor. Wird der Text überarbeitet und im Plenum angenommen, so hat das Parlament damit seinen Standpunkt festgelegt. Dieses Verfahren wird je nach Art des Verfahrens und in Abhängigkeit davon, ob mit dem Rat eine Einigung erzielt werden konnte oder nicht, einmal oder mehrmals wiederholt.

Das bedeutet, dass das Europäische Parlament keinerlei Gesetzesinitiativrecht hat, sondern nur in parlamentarischen Ausschüssen Änderungen an Gesetzesinitiativen der EU-Kommission vornehmen darf. Sollte die EU-Kommission mit den Änderungen nicht einverstanden sein, darf sie den von ihr verfassten Legislativtext zurückziehen. "Die Europäische Kommission kann nach Art. 293 Abs. 2 AEUV (Vertrag über die Arbeitsweise der EU) ihren Vorschlag jederzeit im Verlauf der Verfahren zur Annahme eines Rechtsakts der Union ändern oder zurücknehmen, solange kein Beschluss des Rates ergangen ist." (1)

Das Europaparlament darf demnach nichts beschließen und entscheiden, sondern hat lediglich eine beratende Funktion, die aber von der EU-Kommission bei Nicht-Gefallen ignoriert werden darf. Die eigentlichen Entscheider sind also nicht die gewählten EU-Parlamentarier, sondern die EU-Kommission. Die EU-Kommission setzt sich aus den EU-Kommissaren der einzelnen Länder zusammen, die vom EU-Präsidenten ernannt werden. "Artikel 213 EG bestimmt, dass jedes Kommissionsmitglied unabhängig von seinem Mitgliedsstaat handelt, das unterstreicht die Unabhängigkeit der Kommission." Explizit sollen laut Artikel 13 die aus den Mitgliedsstaaten stammenden EU-Kommissare unabhängig und nicht im Interesse ihrer jeweiligen Länder handeln.

Dies konnte man zum Beispiel im Falle der Entscheidung über die Verlängerung des Unkrautvernichtungsmittels Glyphosat im November 2017 erleben. Nachdem sich die Mitgliedsländer bezüglich einer Verlängerung des umstrittenen Herbizids nicht einig wurden, hat die EU-Kommission die Verlängerung der Zulassung genau damit begründet: Wenn sich die Länder nicht einigen können, entscheidet die EU-Kommission für alle.

Der alles entscheidenden EU-Kommission steht der EU-Präsident vor, der durch einen Ratsbeschluss des Europäischen Rates vorgeschlagen wird. Der Europäische Rat setzt sich aus den Staats- und Regierungschefs der EU zusammen und wurde im Jahr 2009 als offizielles EU-Organ gegründet. Er entscheidet über "die allgemeine Ausrichtung der EU-Politik der EU-Politik und ihre Prioritäten – ohne für die Erlassung von Rechtsvorschriften befugt zu sein". Für die Gesetzesinitiativen ist also ausschließlich die EU-Kommission zuständig.

Nach dem Vorschlag des Europäischen Rates muss der EU-Präsident noch durch das EU-Parlament mit einer Mehrheit bestätigt werden. Der somit ernannte EU-Präsident hat anschließend insofern eine besondere Macht, als er eigenständigdie Vizepräsidenten der Kommission benennen darf und nach Artikel 17, Absatz 6 des EU-Vertrags ebenso eigenständig einzelne Kommissare entlassen darf.

Zusammenfassend lässt sich also zunächst feststellen, dass die Politik in der Europäischen Union nicht vom EU-Parlament entschieden wird, sondern von den Kommissaren in der EU-Kommission, die der EU-Präsident ernennen oder entlassen darf.

Die EU und die Lobby der Industriellen

Ein weniger bekanntes Gremium hat allerdings den größten Einfluss auf die Entscheidungen und Gesetzgebungen der EU-Kommission. Und das ist nicht die europäische Wählerschaft, sondern der sogenannte "European Round Table of Industrialists" (ERT – Europäischer Runder Tisch Industrieller).

Hier zwei Zitate über die Geschichte und Zielsetzung des ERT aus Wikipedia:

1983 gründeten 17 Wirtschaftsführer und zwei Mitglieder der Europäischen Kommission den European Round Table of Industrialists (ERT) auf Betreiben von Pehr Gyllenhammar (Volvo) und Etienne Davignon (Kommissar für Unternehmen und Industrie) mit dem Ziel, die Europäische Integration voranzutreiben. Geplant war dabei, Europa im Sinne der großen Firmen zu gestalten und die EG zu stärken. Nationale Vetos der Mitgliedsstaaten, die eine Entscheidung der EG verzögern oder behindern konnten, sollten abgeschafft werden. Der ERT sollte sich nicht mit Details beschäftigen, sondern die zentrale Richtung Europas mitbestimmen und dabei mit der Europäischen Kommission und dem Europäischen Parlament in engem Kontakt stehen.

Weitere Gründungsmitglieder waren Umberto Agnelli (Fiat), Helmut Maucher (Nestlé), Olivier Lecerf (Lafarge Coppée) und Wolfgang Seelig (Siemens). Der ERT ist 'eine Kombination aus Club und öffentlichkeitswirksamem Thinktank'. Mitglieder sind nicht Unternehmen, sondern derzeit (2016) 50 CEOs großer europäischer Konzerne, die dazu eingeladen (kooptiert) wurden. Vorsitzender ist seit 2014 der Franzose Benoît Potier (Vorstandsvorsitzender von Air Liquide).

Weiter heißt es dort, der ERT sei "eine Lobbyorganisation von rund 50 Wirtschaftsführern großer europäischer multinationaler Unternehmen mit Sitz in Brüssel. Ziele des Forums sind das Entwickeln langfristiger wirtschaftsfreundlicher Strategien und die Organisation von Treffen mit Mitgliedern der Europäischen Kommission, einzelnen Kommissaren oder dem Kommissionspräsidenten, um die Richtung des Integrationsprozesses innerhalb der EU zu gestalten."

Wie in diesem Zitat beschrieben, geht es also in der Zielsetzung des ERT darum, nationale Gesetzgebungen in der EU abzuschaffen, um für die Eigentümer der Unternehmen und Konzerne noch mehr Profite zu ermöglichen, die ansonsten durch nationale Bestimmungen wie Arbeitsrecht oder Umwelt- und Verbraucherschutz eingeschränkt wären. So, wie es ganz offen von den neoliberalen Wirtschaftsideologen beschrieben wird, geht es um eine "Liberalisierung" des Marktes, also um eine "Befreiung" von staatlichen Regelungen und Bestimmungen, die das Profitstreben behindern.

Die wahren Regenten der EU sind also die internationalen Eigentümer der Banken und Konzerne, die sich hinter solchen gigantischen Finanzorganisationen wie BlackRock, Vanguard, Fidelity etc. verbergen und die überall auf der Welt leben. Sie identifizieren sich nicht mit Europa und schon gar nicht mit den hier lebenden Menschen.

Sie benutzen solche Institutionen wie den ERT beziehungsweise die Manager ihrer Konzerne, um in Europa (und anderswo) ihre Profitinteressen durchzusetzen. Diesen zumeist anonymen Eigentümern gehören Banken, Wohnungsbaugesellschaften, Krankenhausketten, Energiekonzerne, Wasserkonzerne, und sie sind zum Beispiel auch die größten Anteilseigner aller "deutschen" Dax-Konzerne.

Es geht und ging also in der EU von Anfang an weniger um das Wohl der Menschen, die mit offenen Grenzen (für Billigarbeiter aus Osteuropa) betört wurden, sondern zum Beispiel um die Abschaffung der von der Arbeiterbewegung erkämpften Rechte auf Sozialversicherung, Arbeits- und Kündigungsschutz, die von den Lobbyisten abgebaut werden.

Auf der Webseite des European Round Table of Industrialists kann man die Konzernchefs finden, die aktuell die Politik der EU wesentlich mitgestalten, ohne dass sie von deren Bürgern gewählt wurden beziehungsweise ohne dass sie in öffentlichen Debatten über die EU-Wahl überhaupt auftauchen. Unter vielen anderen gehören dazu: Ben Van Beuren (Shell), Martin Brudermüller (BASF), Paul Bulcke (Nestlé), Timotheus Höttges (Telekom), Joe Kaeser (Siemens), Guido Kerkhoff (Thyssen Krupp), Harald Krüger (BMW), Bill McDermott (SAP), Stefan Oschmann (Merck), Kasper Rorsted (adidas), Johannes Teyssen (E.ON), Hans Van Beylen (Henkel).

Anstatt darüber zu diskutieren, ob diese Konzernvertreter wirklich das Wohl der EU-Bürger im Sinn haben, werden Letztere mit dem Drohgespenst an die Wahlurnen gerufen, dass sich bei mangelnder Beteiligung die Rechten im EU-Parlament vermehren könnten. Mit dieser Rhetorik wird davon abgelenkt, dass die EU ein zutiefst undemokratisches Konstrukt ist, dass hauptsächlich den Interessen der reichen Aktionäre und Eigentümer der Konzerne dient, die die Ressourcen und Arbeitskräfte in der EU noch effektiver ausbeuten wollen. Aus diesem Grund sollten die Menschen in der EU solidarisch für die Restsouveränität ihrer Nationalstaaten kämpfen, die ihnen noch ein Minimum an Demokratie ermöglichen.

RT Deutsch bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.

Fußnoten

(1) Als Organ ist die Kommission in Art. 17 EU-Vertrag sowie Art. 244 ff. AEU-Vertrag verankert. Sie übernimmt im Wesentlichen Funktionen der Exekutive und ist insofern mit der Regierung eines Nationalstaats vergleichbar. So sorgt sie mithilfe ihres Beamtenapparats für die korrekte Ausführung der europäischen Rechtsakte (also Richtlinien, Verordnungen, Beschlüsse), setzt den EU-Haushalt um und führt die beschlossenen Förderprogramme durch.

Allerdings nimmt die Kommission auch noch weitere Aufgaben wahr: Insbesondere besitzt sie im Bereich der Legislative der EU das alleinige Initiativrecht, das heißt, nur sie kann den formalen Vorschlag zu einem EU-Rechtsakt machen und diesen dem Rat der Europäischen Union und dem Europäischen Parlament unterbreiten. Rat und Parlament können die Vorschläge der Kommission zwar abändern und erweitern, sie können aber nicht von sich aus ein Rechtsetzungsverfahren einleiten.

Auch wenn das Verfahren bereits läuft, hat die Kommission noch einen gewissen Einfluss auf seine Entwicklung: So kann sie zu den von Rat und Parlament beschlossenen Änderungen positiv oder negativ Stellung nehmen, wodurch sich jeweils die zur Verabschiedung erforderlichen Mehrheiten in diesen beiden Institutionen verändern. Die Europäische Kommission kann nach Art. 293 Abs. 2 AEUV ihren Vorschlag jederzeit im Verlauf der Verfahren zur Annahme eines Rechtsakts der Union ändern oder zurücknehmen, solange kein Beschluss des Rates ergangen ist. Die Kommission kann ihren Rechtsetzungsvorschlag etwa zurücknehmen, wenn eine von Parlament und Rat beabsichtigte Änderung den Vorschlag in einer Weise verfälscht, die der Verwirklichung der mit ihm verfolgten Ziele entgegensteht. Quelle: https://de.m.wikipedia.org/wiki/Europ%C3%A4ische_Kommission