von Zlatko Percinic
Alles begann mit dem wöchentlichen Freitagsprotest der Palästinenser im Gazastreifen, die gegen ihre Einkerkerung im "größten Freiluftgefängnis der Welt", wie es Noam Chomsky und viele andere nennen, und die totale Blockade durch Israel protestieren. Bereits am Donnerstag gab es Warnungen, dass der Islamische Dschihad – eine militante palästinensische Widerstandsgruppe, die von westlichen Ländern als Terrororganisation geführt wird –, die Ansammlung von Demonstranten und israelischen Soldaten dazu nutzen könnte, einen Angriff auf israelische Militärs zu planen.
Es fand schließlich tatsächlich ein Angriff eines Scharfschützen auf eine Einheit der israelischen Armee statt, die die Proteste vom "Grenzzaun" aus beobachtete. Das Ziel war offensichtlich der Kommandeur der südlichen Gaza-Division, Colonel Liron Batito. Zwei Soldaten wurden bei diesem Angriff verletzt und ins nahegelegene Soroka-Krankenhaus nach Be'er Scheva gebracht.
Laut UN-Resolution 37/43 vom 3. Dezember 1982 ist bewaffneter Widerstand gegen "Fremdherrschaft und ausländische Besatzung" ausdrücklich erlaubt, solange dieser Kampf im Rahmen der "Selbstbestimmung, Souveränität, Unabhängigkeit" stattfindet und sich nicht gegen die Zivilbevölkerung richtet. Dieser Angriff fand also noch im Einklang mit geltendem Völkerrecht statt.
Als Reaktion darauf griff die israelische Armee ein Gebäude der Al-Qassam-Brigade im Gazastreifen an und tötete dabei zwei Mitglieder des Bataillon-13-Kommandos, einer Eliteeinheit der regierenden Hamas. 52 weitere Palästinenser wurden während der Proteste verletzt (zwei davon erlagen später ihren Verletzungen), als Israel mit Tränengas und Schüssen die Menschen vom "Grenzzaun" vertreiben wollte.
In Israel erwartete man bereits für Freitagabend die angekündigte "Rache" der Hamas. Doch diese sollte erst kurz nach 9.30 Uhr (Ortszeit) am Samstagmorgen beginnen, als die ersten Raketen und Mörsergranaten aus dem Gazastreifen in Richtung Israel abgefeuert wurden. Über den Tag verteilt wurden etwa 430 Raketen abgefeuert, bei denen drei israelische Zivilisten verwundet wurden, davon eine 80-jährige Frau schwer.
Dieser Raketenbeschuss führte im Gegenzug zu massiven Vergeltungsschlägen Israels, bei denen nebst Hamas-Angehörigen ebenfalls unschuldige Zivilisten verletzt und getötet wurden. Mit dem Völkerrecht hat das auf beiden Seiten nichts mehr zu tun gehabt, wenn man bereitwillig den Tod von unschuldigen Menschen in Kauf nimmt.
Doch die Eskalation just zu diesem Zeitpunkt und der Ablauf am Sonntag folgen einer klaren politischen, wenngleich auch menschenverachtenden Logik.
Wie die israelische Zeitung Haaretz berichtete, warnten Vertreter der Armee die politische Führung seit Wochen vor dieser Eskalation, wenn Israel nicht endlich die Abmachungen umsetzt, die man mit der Hamas vereinbart hatte. Es ging hauptsächlich um die Lockerung der Blockade, die Überweisung der Gelder aus Katar und die Ausdehnung des Fanggebietes für palästinensische Fischer auf 15 Seemeilen, wie sie in den Oslo-Abkommen von 1993 vorgesehen war.
Dabei hatte Israel am 1. April das Fanggebiet auf die 15 Seemeilen erhöht, um im Gegenzug problemlose Parlamentswahlen am 9. April durchzuführen. Für die Fischer bedeutete der erweiterte Radius bessere Fänge und damit auch mehr Geld, um ihre Familien besser zu unterstützen. Doch bereits am 30. April reduzierte das israelische Verteidigungsministerium das Fanggebiet wieder auf sechs Seemeilen, nachdem der Islamische Dschihad am Tag davor eine Rakete in Richtung Israel abgefeuert hatte.
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Der Eurovision Song Contest, der vom 14. bis zum 18. Mai in Tel Aviv stattfindet, bot nun den zeitlichen Rahmen für die Eskalation. Die Hamas wusste ganz genau, dass sich Israel keinen Krieg leisten kann, während man beim diesjährigen Eurovision "Inklusion, Vielfalt, Einigkeit" zu feiern vorgibt. Eine nicht näher genannte "politische Quelle" der Hamas sagte gegenüber Haaretz:
Der Eurovision Song Contest kann nicht in Tel Aviv stattfinden, wenn man in Gaza keine Entlastung spürt. Es kann nicht sein, dass sie singen und sich amüsieren, während wir leiden.
Den Zeitpunkt der Eskalation bestimmte also die Hamas. Durch den massiven Raketenbeschuss am Sonntag und die Überwältigung des israelischen Luftabwehrsystems Iron Dome kamen auf israelischer Seite vier Menschen ums Leben. Zum ersten Mal kamen auch bewaffnete Drohnen auf palästinensischer Seite zum Einsatz, als ein israelischer Militärkonvoi aus der Luft angegriffen wurde. Ein Armeefahrzeug wurde durch eine sowjetische Kornet-Panzerabwehrlenkrakete zerstört, in beiden Fällen wollte sich die militärische Führung nicht zu möglichen Opfern äußern.
Der anhaltende Beschuss israelischer Ortschaften – trotz massiven Gegenangriffen auf den Gazastreifen – war es dann unter anderem, der am Ende auch für den Zeitpunkt der Beendigung der Gewalt ausschlaggebend war. Noch am Sonntag einigte sich das Sicherheitskabinett von Ministerpräsident Netanjahu darauf, dass die "massiven Angriffe" auf den Gazastreifen fortgesetzt werden. Doch die von Ägypten vermittelte und von israelischen Politikern scharf kritisierte Waffenruhe hat genau das erreicht, was die Hamas von Anfang an wollte: eine Lockerung der Blockade und die Überweisung der Gelder aus Katar.
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Die Frage, die man sich stellen muss, lautet, weshalb die Regierung von Benjamin Netanjahu sich diese Waffenruhe so teuer erkaufen musste, nur um das umzusetzen, was sowieso schon vor den Parlamentswahlen vereinbart wurde. Eine Antwort ist sicherlich der Druck aus dem rechten Lager, das auf eine Vernichtung der Hamas drängt und immer wieder eine Bodenoffensive im Gazastreifen verlangt. Die Kommentare in den sozialen Netzwerken geben ein Zeugnis davon ab, wie verroht die Haltung gegenüber den Palästinensern ist, die man allesamt als "Terroristen" wahrnimmt.
Eigentlich müsste Netanjahu gerade am besten wissen, dass diese Strategie der kollektiven Bestrafung einer ganzen Bevölkerung nichts bringt und sie stattdessen noch enger hinter dem vermeintlichen Feind steht.
Während seiner ersten Amtszeit (1996–1999) konnte er im Libanon beobachten, wie die israelische Armee von der schiitischen Widerstandsorganisation Hisbollah zum Rückzug aus dem besetzten Süden des Landes gezwungen wurde. Während die Einheiten der "Partei Gottes" mit gezielten Angriffen auf israelische Soldaten immer wieder für herbe Verluste sorgten, antwortete Israel mit massiven Bombardements ziviler Ziele im Libanon. Daraufhin reagierte die Hisbollah ebenfalls mit dem Abfeuern von Raketen auf nördliche Gebiete des israelischen Staatsgebietes und zwang die Menschen dort, in Luftschutzkellern Schutz zu suchen.
Jahrelang versuchte die israelische Regierung – egal wer Ministerpräsident war – so, die Unterstützung der libanesischen Bevölkerung für die Hisbollah so teuer wie nur möglich zu machen, indem man sie bombardierte und mit allen Mitteln schikanierte. Auch die Hamas verwendet dieselbe Strategie im Kampf gegen die israelische Unterdrückung, obwohl es sehr viele Unterschiede zwischen den beiden Organisationen gibt. Der größte Unterschied ist aber der, dass der Libanon ein souveräner Staat war und ist, den Israel nach seinem Rückzug im Jahr 2000 seinem eigenen Schicksal überlassen konnte. Palästina hingegen wäre gerne souverän, was ihm Israel aber niemals gewähren kann, wenn es den zionistischen Traum nicht aufgeben bzw. gefährden möchte. Gaza ist daher für jede israelische Regierung eine Art Faustpfand, das bei ernsthaften Verhandlungen über den Status der besetzten Gebiete im Westjordanland je nach Bedarf taktisch verwendet werden kann. Den Preis zahlen aber stets die Menschen, und zwar auf beiden Seiten.
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