von Pierre Lévy
In Spanien kam es bei den Parlamentswahlen am 28. April zu einer erstaunlichen Rekordbeteiligung: 75,8 Prozent der 37 Millionen Wähler haben sich an die Wahlurnen begeben, also 9,3 Prozentpunkte mehr als noch im Juni 2016. Und dies war die dritte derartige Wahl seit Dezember 2015.
Letztere hatte 2015 einen wichtigen Wendepunkt gekennzeichnet, denn die traditionelle Konfrontation zwischen der Volkspartei (PP der konservativen Rechten) und der Sozialistischen Partei (PSOE) wurde durch das Entstehen zweier neuer Gruppierungen umgestoßen: Podemos, als radikale Linke bezeichnet, aus der sozialen Bewegung der Indignés stammend (die 2011 während der wirtschaftlichen und sozialen Krise entstanden war); und Ciudadanos, eine ursprünglich aus Katalonien stammende Partei, allerdings radikal gegen eine Unabhängigkeit Kataloniens kämpfend, die sich dann in ganz Spanien mit dem Motto "Gegen Korruption und für Liberalismus" – und sogar für Ultraliberalismus verbreitet hat.
Diese Vierteilung der Parteienlandschaft hatte zu dieser Zeit die Bildung einer parlamentarischen Mehrheit verhindert und zu einer Neuwahl im Juni 2016 geführt. Mariano Rajoy (PP), seit Dezember 2011 Premierminister, konnte seine Position schließlich durch punktuelle Mehrheiten einnehmen und bewahren. Erst im Juni 2018 wurde er unerwartet durch einen parlamentarischen Misstrauensantrag auf Betreiben des Vorsitzenden der Sozialisten, Pedro Sánchez, gestürzt.
Letzterer nutzte einen riesigen Korruptionsskandal, an dem die PP beteiligt war, um eine Mehrheit der Abgeordneten einmalig zusammenzubringen und so Ministerpräsident zu werden. Er "verfügte" jedoch nur über permanente Unterstützung von 84 (der 350) Abgeordneten. Seine Minderheitsregierung hielt bis Februar 2019 durch, als schließlich sein Haushaltsvorschlag abgelehnt wurde. Vorgezogene Wahlen wurden damit unvermeidlich.
Pedro Sánchez wird als einer der Gewinner der Wahlen vom 28. April angesehen. Mit 28,7 Prozent der Stimmen gewinnt er 6,1 Prozentpunkte hinzu, liegt damit weit vorne und hat jetzt 123 Abgeordnete (und sogar 123 Senatoren, die die Mehrheit des Oberhauses darstellen).
Andererseits muss sich Unidas Podemos (zu dem Podemos und kleine Verbündete wie die Vereinigte Linke gehörten) nunmehr mit 14,3 Prozent der Stimmen zufriedengeben, was einem Rückgang um 6,8 Prozentpunkte entspricht. Im Jahr 2016 träumten ihre Führer noch davon, die PSOE zu überholen (mit 1,5 Prozentpunkten mehr wäre das der Fall gewesen) und schließlich die Regierung zu führen. Heute hat der Podemos-Chef, Pablo Iglesias, nicht einmal gewartet, bis die Stimmauszählung abgeschlossen war, um Herrn Sánchez anzutragen, dessen Junior-Regierungspartner zu werden.
Viele interne Streitigkeiten erklären zum Teil dieses Scheitern. Mehrere Spitzenreiter, darunter die Nummer zwei, Íñigo Errejón, sind gegangen. Er argumentierte, dass Podemos wieder zu einer populären transversalen Bewegung werden sollte, die die Rechts-Links-Unterscheidung überwinden solle. Die Podemos-Kampagne schloss viele Themen (bis zum Tierschutz) ein, die eher den Wünschen einer wohlhabenden städtischen Wählerschaft entsprachen als den Anliegen der Arbeiter. In geografisch "peripheren" Regionen (einschließlich Katalonien) sind die Verluste von Podemos noch etwas geringer, während sie in den zentralen Regionen (Kastilien, Extremadura...) einen Tiefpunkt markieren.
Die PSOE ihrerseits hob jene Maßnahmen hervor, die in den Monaten ihrer Minderheitsregierung zur Vorbereitung auf die Wahlen ergriffen wurden: Erhöhung des Mindestlohns auf 900 Euro (ein Plus von 22 Prozent), Indexierung der Renten, Erhöhung der Stipendien für Studenten und die Ankündigung der Schaffung neuer Beamtenstellen. Die Überführung der sterblichen Überreste des ehemaligen Diktators Francisco Franco rundete das Bild symbolisch ab. Die Sozialisten profitierten auch von einem "nützlichen Votum" angesichts der angekündigten Entstehung von Vox, einer rechtsextremen Kraft, die ihre Nostalgie für die Franco-Diktatur kaum verbirgt.
Vox hatte im Dezember 2018 einen eindrucksvollen Einzug in das andalusische Parlament geschafft, als sich die Bewegung von einer marginalen dissidenten Gruppe der PP im Jahr 2013 zu einer Partei mit 11 Prozent der Wähler entwickelt hatte. So erlaubte sie einer PP-Ciudadanos-Koalition, die regionale Mehrheit zu erobern und die PSOE in ihrer historischen Hochburg zu entthronen.
Insbesondere zwei Themen hatten dieser jungen Gruppierung, die in sozialen Netzwerken sehr aktiv ist, einen Überraschungssieg ermöglicht: die Verteufelung der Einwanderung, die in der letzten Zeit erheblich zugenommen hatte, und die Ablehnung des Separatismus, insbesondere in Katalonien. Die Betonung der spanischen Traditionen und der Einheit des Landes ist somit in der öffentlichen Debatte überdeutlich geworden. Sie durchdrang dann den Wahlkampf für die Cortes.
Mit 10,3 Prozent und 24 Vertretern gelang Vox ihre spektakuläre Landung, auch wenn ihre Führer und Anhänger auf einen noch höheren Wahlerfolg hofften, was die neue andalusische Konfiguration auf die nationale Ebene ausgeweitet hätte. Dies ist aufgrund der historischen Niederlage der PP nun nicht der Fall.
Letztere halbierte faktisch mit 16,7 Prozent ihr Ergebnis (ein Minus von 16,3 Prozentpunkten) und erzielt damit das bisher schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte. Die Folgen der Korruptionsskandale haben offensichtlich dazu beigetragen. Darüber hinaus war die Strategie ihres jungen Führers, Pablo Casado, seine Rede zu radikalisieren, um die Flucht ihrer Wähler nach Vox einzudämmen. Das hat nicht funktioniert und auch dazu geführt, dass sie mehr "zentristische" Stimmen zugunsten von Ciudadanos verlor.
Mit 15,8 Prozent schneidet diese Partei gut ab: sie verbessert ihr Ergebnis 2016 um 2,8 Punkte. Ihr Führer, Albert Rivera, wies darauf hin, dass sie jetzt nur 200.000 Stimmen von der PP trennen. Eine Mehrheitskoalition der drei rechten Parteien ist nun aber dennoch ausgeschlossen: Zusammen stellen sie nur 147 Abgeordnete. Der "linke Block" hat 165 Sitze, aber damit ebenfalls nicht genug, um eine absolute Mehrheit von mindestens 176 Sitzen zu erreichen. Eine Hürde, die auch durch die Unterstützung der sechs gewählten Mitglieder der Baskischen Nationalen Partei nicht übersprungen werden könnte.
Der Triumph der PSOE am Wahlabend (bestätigt durch gute Ergebnisse bei den Regionalwahlen in Valencia) muss daher relativiert werden. Im Jahr 2008, am Anfang der Krise, erhielt diese Partei noch 43,9 Prozent der Stimmen (aber Podemos existierte noch nicht). Darüber hinaus beträgt der aktuelle Abstand zwischen dem "linken Block" und dem "rechten Block" weniger als 100.000 Stimmen. Und zudem steht Herr Sánchez nach wie vor vor einer schwierigen Entscheidung.
Wenn er einem großen Teil seiner Basis zuhört, der für eine Koalition mit Podemos ist, müsste er die zusätzliche Unterstützung der katalanischen Separatisten suchen, zumindest derjenigen der Katalanischen Republikanischen Linken (ERC), die es zur Zeit für angemessen hält, sich mit Madrid abzugeben. Es ist zu festzuhalten, dass das Wahlbündnis "Zusammen für Katalonien" (JxC), dessen Führung in Brüssel im Exil ist, für Unnachgiebigkeit eintritt, während die ERC (von denen einige ihrer gewählten Abgeordneten nach dem für illegal erklärten Unabhängigkeitsreferendum im Oktober 2017 im Gefängnis sitzen) ihre Verbündeten und Rivalen von JxC weitgehend besiegt hat.
Herr Sánchez ist allerdings nicht sehr begeistert von diesem Bündnis mit katalanischen Separatisten: Es waren Letztere, die sich weigerten, seinem Haushaltsentwurf zuzustimmen. Darüber hinaus könnte eine solche Unterstützung seinen rechten Gegnern Waffen an die Hand geben, um ihn schnell zu beschuldigen, dass er die spanische Einheit zu zerstören hilft.
Und was ein PSOE-Ciudadanos-Bündnis betrifft, so wurde dies von Herrn Rivera während des Wahlkampfes ausgeschlossen. Eine Abkehr davon kann zwar nie völlig ausgeschlossen werden, scheint aber nicht im taktischen Interesse von Ciudadanos zu liegen, da sie die führende Oppositionspartei werden will und mit einem kurzfristigen Versagen von Herrn Sánchez rechnet.
Diese Koalition zwischen zwei Parteien, die keine schwerwiegenden ideologischen Unterschiede trennt, würde jedoch arithmetisch eine stabile parlamentarische Mehrheit sicherstellen – es wäre die erste seit 2015. Dieser Vorteil ist wahrscheinlich sympathisch für die Geschäftswelt, wie die jüngsten Kommentare in der Financial Times und The Economist zeigen.
Es sei denn, Herr Sánchez zieht es vor, eine homogene Minderheitsregierung zu bilden. In diesem Fall würde die Frage nach dem Verfallsdatum erneut stehen. Auf jeden Fall werden die Wähler am 26. Mai wieder in die Wahlbüros für EU-, Regional- und Kommunalwahlen eingeladen werden. Bis dahin dürfte wohl keine Allianz zustande kommen.
Sobald die Ergebnisse bekannt wurden, kündigte Pedro Sánchez an, dass er "eine proeuropäische Regierung bilden will, um Europa zu stärken und nicht zu schwächen". Eine implizite Anspielung darauf, dass diese spanischen Wahlen in der Tat die ersten seit langem in der EU sind, die in Brüssel keine kalten Schweißausbrüche verursacht haben. Denn alle Parteien, einschließlich Vox, sind Befürworter der europäischen Integration.
Nicht sicher ist jedoch, ob dies die einhellige Begeisterung der Bevölkerung widerspiegelt: Das Thema war im Wahlkampf vorsichtig vermieden worden.
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