von Gert Ewen Ungar
Man kann Deutschland und den deutschen Eliten zwei Bereiche mit großen Wissensdefiziten zuordnen. Die Deutschen sind in ihrer Breite in Bezug auf sowohl Makroökonomie als auch Geopolitik weitgehend ahnungslos. Die große Wirtschaftsnation mag von Betriebswirtschaft viel verstehen, von Makroökonomie, von Nationalökonomie verstehen die im Bundestag vertretenen Parteien und die medialen Eliten praktisch nichts. Das macht Deutschland einfach manipulierbar und anfällig für insbesondere transatlantische Beeinflussung, denn das Verständnis beider Bereiche ist grundlegende Voraussetzung dafür, aktuelle politische Entwicklungen einordnen zu können.
Fehlt dieses Wissen, zerfällt die Welt in kleine Einzelphänomene, die scheinbar unverbunden sind. Dann haben die zunehmende Aggressivität des französischen Staates gegen die Gelbwesten, die zunehmende Aggression des Westens gegenüber Russland und China und die Unfähigkeit, auf den Klimawandel angemessen reagieren zu können, anscheinend nichts miteinander zu tun. In Wahrheit sind sie eng verbunden, denn es geht um die ökonomische Spielordnung.
Das Verbindende ist die grundlegende Frage aller Ökonomik und ebenso, welche Antwort darauf die jeweils herrschende Lehre gibt. Es ist die Antwort auf die Frage, wer wie und mit welchem Anteil am gemeinsam produzierten Wohlstand teilhaben darf.
Seit nunmehr über dreißig Jahren gibt die Europäische Union, geben ihre Vorgängerorganisationen und Deutschland auf diese zentrale Frage mit zunehmender Lautstärke eine einzige Antwort: Das regelt doch der Markt. Der Staat habe sich möglichst weit herauszuhalten aus den Mechanismen des Marktes, die sich – blieben sie nur unangetastet – selbst immer ins Gleichgewicht brächten. Angeblich zumindest.
Dieser Glaube hält sich stark, obwohl die Krisen der jüngsten Vergangenheit das Gegenteil nahelegen: Dauerhaft hohe Arbeitslosigkeit, zunehmende Armut in der EU und der Währungsunion, ein instabiles Finanzsystem, anfällig für Krisen und ein von der Realwirtschaft entkoppelter Finanzmarkt, der die Realwirtschaft nicht fördert, sondern zerstört. All das, verbunden mit mangelnder Innovationskraft, zeichnet das Wirtschaftsmodell der EU aktuell aus. Das hat Gründe.
In seinem Buch "Der Weg zur Prosperität" analysiert Stephan Schulmeister diese Gründe, zeigt die Fehlentwicklungen der vergangenen Dekaden auf und weist einen Weg hinaus aus dem ökonomischen und dem damit verbundenen politischen Niedergang.
Nationalökonomie, so hält er fest, ist im Gegensatz zu ihrem eigenen Selbstverständnis eben keine reine (gar "exakte" Natur-)Wissenschaft, sondern einen Sozialwissenschaft, die ihr zentrales Objekt durch die Art der Betrachtung verändert. Nationalökonomie hat gesellschaftliche Relevanz, weil die Diskurse, die dort geführt werden, das Objekt des Diskurses verändern. Es gibt keine reine, unabhängige Ökonomie, die es einfach nur zu beschreiben gelte, wie man ein physikalisches Phänomen beschreibt. In der Art der Beschreibung liegt schon die gesellschaftliche Relevanz. Ökonomie ist eine Sozialwissenschaft. Aktuell ist sie in ihrer Ausrichtung in Deutschland eine Sozialwissenschaft, die so tut, als sei sie eine reine Wissenschaft. Dadurch ist sie jedoch gar keine Wissenschaft mehr, sondern nur noch Wissenschafts-Esoterik mit allerdings weitreichendem gesellschaftlichen Einfluss.
Die in Deutschland gelehrte und vertretene Nationalökonomie ist in ihrer Breite dem Gleichgewichtsmodell verpflichtet. Märkte – so die Grundannahme – bringen sich über die Preisfindung immer selbst ins Gleichgewicht, wenn der Zugang zu Information frei und der Markt von äußeren Einflüssen unberührt bleibt. Beschreibt man Marktprozesse als ein Gleichgewichtssystem, das sich selbst immer wieder in eine Balance bringt, wenn sich der Staat aus der Findung dieser Balance heraus hält, dann hat dieses quasi religiöse Modell Auswirkungen auf die Akteure. Der Staat wird in einen permanenten Rechtfertigungszwang gebracht und folglich als Akteur zurückgedrängt.
Schulmeister stellt fest: Die neoliberale Gleichgewichtstheorie ist das einschneidendste antiaufklärerische, gegenemanzipatorische Paradigma der Moderne, denn das zentrale Problem der Gleichgewichtstheorie ist, dass sie nicht in der Lage ist, Realität zu beschreiben. Dass sich Märkte ins Gleichgewicht bringen, wird von der Gleichgewichtstheorie immer schon vorausgesetzt. Wenn das nicht der Fall ist, muss es äußere Störungen gegeben haben. Für diese äußeren Störungen ist in der Regel der Staat "verantwortlich", der in das "freie" Spiel der Märkte eingegriffen und sie dadurch "verzerrt" hat. Dementsprechend wird von Neoliberalen permanent ein Rückbau des Staates gefordert. Eine Überprüfung der eigenen Grundannahme oder gar eine empirische Überprüfung der Thesen findet nicht statt. Die Verteidiger der neoliberalen Gleichgewichtstheorie argumentieren im Zirkelschluss. Der Markt ist perfekt - ist er es nicht, wurde er von außen gestört. Die Theorie dreht sich im Kreis. Dieser idealistischen Theorie, die gleichsam verzweifelt Wirklichkeit an die Grundannahmen der Theorie anpassen möchte, stellt Schulmeister die realistische Theorie gegenüber, die ihre Axiomatik, ihre Grundannahmen beständig überprüft und mit der Realität abgleicht.
Schulmeister beruft sich zentral auf Keynes, einen der großen maßgebenden Ökonomen, der die wissenschaftlichen Voraussetzungen für den "New Deal” und damit für einen mehrere Dekaden anhaltenden Boom und für wirtschaftliche Stabilität in den westlichen Ländern nach dem zweiten Weltkrieg gesorgt hat.
Eine freie Marktwirtschaft, so führt Schulmeister mit Keynes aus, produziert immer Krisen und zwar zunächst auf den Finanzmärkten. In einem umfangreichen Kapitel weist Schulmeister nach, dass gerade die Finanzmärkte nicht rational sind, sondern zu permanenten Übertreibungen neigen, da sie sich gleichsam selbst zur Grundlage der Information nehmen, aus der auf die weitere Entwicklung von Kursen geschlossen wird. Sie selbst überlassen, schaukeln sie sich auf. Das Kreieren von Spekulationsblasen ist damit nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Bei ihrem unweigerlichen Platzen – irgendwann – wird Geld umverteilt und zwar dorthin, wo ohnehin schon viel zu viel davon zusammengerafft ist. Die Realwirtschaft wird dabei in Mitleidenschaft gezogen.
Es war Keynes großes Verdienst, dies in seiner Analyse der als "Große Depression" bekannt gewordenen Wirtschaftskrise erkannt zu haben, die mit dem Zusammenbruch der New Yorker Börse im Jahr 1929 ihren Anfang nahm.
Den Thesen seiner "Allgemeinen Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes" folgend wurden nach dem Zweiten Weltkrieg die Finanzmärkte ruhiggestellt: Es wurden feste Wechselkurse eingeführt und so auch Spekulationen gegen einzelne Währungen und damit Länder unterbunden, um hier nur zwei Maßnahmen zu nennen. In der Folge herrschte Vollbeschäftigung, die Löhne stiegen, es herrschte ein Investitionsklima, das Innovationen ermöglichte. Kurz – es gab Fortschritt. Alle Mittel flossen in die Realwirtschaft und schufen dort Wachstum und Werte – es begann die Zeit des "Wirtschaftswunders", das mehrere Jahrzehnte keine einschneidende ökonomische Krise kannte.
Mit der Entfesselung der Finanzmärkte kehrte sich dies um. Dies war ein Putsch von oben, der sich gegen die Interessen der großen Mehrheit richtete.
Schulmeister legt dar: Wir haben das Wissen, eine krisenfrei funktionierende Ökonomie aufzubauen. Wir tun – entgegen jeder Vernunft – das Gegenteil davon.
Nun kehren Finanzkrisen zyklisch wieder. Investitionen in die Realwirtschaft lohnen nicht, denn die Gewinnmargen für große Akteure sind an den Finanzmärkten im Vergleich zur Realwirtschaft höher. Die Innovationskraft der Volkswirtschaft erschlafft. Es kommt zum Niedergang, der in Deutschland und in der EU inzwischen deutlich sichtbar ist. Wir bauen Infrastruktur zurück, Mieten explodieren, die sozialen Sicherungssysteme werden zurückgefahren. Man muss aus mehreren Dekaden den Schluss ziehen: Märkte, sich selbst überlassen, regeln – gar nichts.
Es ist dieser Putsch von oben, der die große Mehrheit der Bürger vom gemeinsam erwirtschafteten Wohlstand, von Stabilität und Planbarkeit der eigenen Existenz zugunsten eines ins Obszöne wachsenden Reichtums einer kleinen Minderheit abschneidet.
Den Unterschied in der Entwicklung sieht man aktuell an den Entwicklungen in den aufstrebenden Ländern. In China und inzwischen auch in Russland fließt Geld in enormem Ausmaß in die Realwirtschaft. Die Finanzmärkte sind weitgehend stillgelegt. Öffnungen von Märkten werden grundlegend beobachtet, überdacht und werden korrigiert, wenn sie sich als toxisch für die Gesamtwirtschaft und das gesellschaftliche Gesamtwohl erweisen. So wurden die Privatisierungen der Neunziger in Russland rückgängig gemacht. Das neoliberale Projekt hat Russland in den Staatsbankrott geführt. Allerdings wurden daraus die richtigen Lehren gezogen. Die Schlüsselindustrien Russlands sind unter staatlicher Aufsicht. Der Lebensstandard nimmt in China und Russland deutlich sichtbar zu, die Ökonomien sind hoch innovativ und produktiv. Hierzulande dagegen nimmt der Lebensstandard ab.
Schulmeister weist darauf hin, dass sich der Kapitalismus nicht zähmen, wohl aber bändigen lässt. Es ist allerdings nur der Nationalstaat, der ihn einhegen kann. Dazu muss jedoch der politische Wille vorhanden sein. Aktuell ist das im Westen weithin nicht der Fall.
Das Argument, im Westen seien die "Märkte gesättigt", es gebe gleichsam nichts mehr zu tun für jenes Geld, das in die Realwirtschaft fließt, lässt Schulmeister nicht gelten. Mit der Energiewende ließen sich – wollte man es denn politisch – in der Realwirtschaft große Wachstumsimpulse setzen, indem man beispielsweise alle Gebäude energieeffizient macht. Eine Mammutaufgabe, die nur der Staat initiieren kann. Auch im Bereich der Digitalisierung und des Internets erkennt Schulmeister großes Potential für einen Aufbruch in die Prosperität. Die EU und Deutschland haben hier viel nachzuholen, da sie die Digitalisierung bislang ausschließlich privaten (US-)Anbietern überlassen haben, was enorme Risiken birgt.
Der Ausbau von Hochgeschwindigkeitsstrecken, verbunden mit einer immer höheren Besteuerung von Flugreisen auf kurzen Strecken, wäre ein nachhaltiges Projekt, das den Staat als Akteur braucht. All diese Impulse müssen allerdings mit einem Willen zur Regulierung und zur Finanzierung staatlich gesetzt werden. Es gäbe viel zu tun, wenn man es denn wollte.
Nach der Lektüre von "Der Weg zur Prosperität" versteht man, dass wir uns nach wie vor in einer Systemkonkurrenz befinden. Verkürzt lässt sich sagen: Bis 1990 war es die Konkurrenz vom Sozialismus gegenüber dem Kapitalismus. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion radikalisierte sich die westliche Spielart des Kapitalismus, während sich Russland und China immer stärker der keynesianischen Variante des Kapitalismus annähern, wenn auch sicher nicht völlig gradlinig und stringent, da auch dort gesellschaftliche Kräfte in unterschiedliche Richtungen ziehen. Doch der Weg ist klar. Dort wachsen die Mittelschichten und der Wohlstand der Massen. Mit der Zunahme von sozialer Sicherheit und der Planbarkeit der Lebensentwürfe nimmt dort die Freiheit zu.
Der Lebensstandard steigt, während er hier sinkt und Demokratie zurückgebaut werden muss, um den wachsenden Protest der Bürger gegen die Verweigerung nennenswerter Teilhabe am Wohlstand gegen die "Interessen des Marktes" zu verteidigen, die eben nicht die Interessen der Allgemeinheit sind. Es werden einige ganz einfache Regeln nicht beachtet. Eine davon lautet: Die Bürger eines Staates müssen an der wirtschaftlichen Entwicklung so partizipieren, dass sie über das Geld verfügen, um die Waren kaufen zu können, die von ihnen hergestellt werden. Alles andere führt zu Verwerfungen im Innern wie im Äußeren. Stephan Schulmeister führt dafür den Beweis.
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