von Gert Ewen Ungar
Wahlen sind ein demokratischer Akt, denn durch Wahlen drücken die Bürger ihren Willen aus. In repräsentativen Demokratien wählen die Bürger Vertreter, die für sie die Interessen in den demokratischen Institutionen vertreten. Man kann an dieser Stelle ganz viel einwenden, sich auch deutlich radikalere Umsetzungen der Idee der Demokratie vorstellen. Darum soll es hier jedoch nicht gehen, denn die repräsentative Demokratie der aktuelle Status Quo. Wenn wir von Demokratie sprechen, meinen wir in aller Regel diese Form.
Allerdings müssen die so gewählten Vertretungen dann auch die Möglichkeit haben, diesen durch Wahlen bekundeten Willen in politisches Handeln umzusetzen. Bei der EU ist das schlicht nicht der Fall. Und das aus einem ganz einfachen Grund: Das Parlament, das wir alle für den Mai aufgerufen sind zu wählen, ist keins. Es ist um zahlreiche Möglichkeiten beschnitten, die ein souveränes Parlament auch in der schon sehr reduzierten Form der parlamentarischen Demokratie auszeichnen.
Normalerweise ist die Aufgabe eines Parlaments, die Regierung zu wählen. Es hat zudem ein Initiativrecht für Gesetze, das heißt, es kann Gesetzgebungsprozesse anregen. Der deutsche Bundestag funktioniert auf diese Weise, die russische Duma macht das, das französische zwei-Kammern-Parlament macht das, obwohl der Präsident dort mit deutlich mehr Macht als in den meisten anderen Demokratien ausgestattet ist. Übrigens auch mit mehr Macht als der russische Präsident, der hierzulande an den tatsächlichen Fakten vorbei wahlweise mal als Zar, mal als Diktator betitelt wird. Diese Titel entsprechen nicht der begrenzten Macht, die ihm die russische Verfassung zukommen lässt.
Das EU-Parlament kann genau das alles nicht. Es wählt nicht die Regierung. Der Regierung entspricht auf europäischer Ebene die EU-Kommission. Die Kommissare werden aber nicht gewählt, sondern von den Nationalstaaten bestimmt. Das Verfahren dazu ist kompliziert, aber in keiner Weise demokratisch. Das EU-Parlament hört die Kommissare lediglich an. Konkret bedeutet das, dass der Wählerwille keine Abbildung in der Zusammensetzung der Regierung der EU findet.
Das Europaparlament kann auch keine Gesetze initiieren. Die Gesetze macht die Kommission. Das Parlament stimmt den Gesetzen lediglich zu und kann Änderungsvorschläge einbringen. Es hat kein Initiativrecht.
Aber die Mängelliste geht noch weiter. Demokratische Wahlen sind frei, geheim und gleich. Die Wahl zum Europaparlament ist zwar frei und geheim, aber nicht gleich. "Degressive Proportionalität" wird das genannt. Die Komplexität des Ausdrucks macht die damit beschriebene Tatsache nicht besser: Die Stimmen der Bürgerinnen und Bürger der europäischen Länder, die die EU bilden, haben unterschiedliches Gewicht. Eine Wählerstimme in einem kleineren Land der EU hat ein größeres Gewicht als eine Wählerstimme in einem großen Land. Das stärkt nun ausgerechnet den Einfluss beispielsweise der baltischen Staaten in den Debatten der Europäischen Union, die sich vor allem durch ihre aggressive Haltung gegenüber Russland, durch Missachtung der EU-Charta und der darin garantierten Menschen- und Minderheitenrechte hervortun. Gerade hier zeigt sich, dass die EU eben keine Wertegemeinschaft ist, auch wenn das immer wieder mantraartig beschworen wird.
Aber es geht noch weiter, denn je näher man an den Euro kommt, desto undemokratischer werden die Strukturen der Union. Innerhalb der EU gibt es die Gruppe der Euro-Länder. Das sind diejenigen Länder, die den Euro als Währung haben. Ursprüngliches Ziel war, dass alle Mitgliedsstaaten der Union den Euro als Zahlungsmittel einführen. Mit der Krise im Jahr 2008 brach diese Idee in sich zusammen. So sollte beispielsweise Polen im Jahr 2013 den Euro einführen. Über dieses Vorhaben ist inzwischen der Mantel des Schweigens ausgebreitet.
Das hat nicht nur etwas mit der durchweg merkwürdigen Konstruktion des Euro zu tun, der die Nationalstaaten gegeneinander in eine absurde Konkurrenz bringt. Konkurrenz mag bei Unternehmen ein sinnvolles Prinzip sein, um innovatives Potential auszuschöpfen. Bei Staaten ist dieses Prinzip jedoch völlig irrsinnig, denn sie produzieren nichts, was man durch Innovation verbessern könnte. Ihre "Innovationskraft" kann sich ausschließlich auf Steuerreduktion, Lohnsenkung und Rückbau des Sozialstaates erstrecken. Wenn Politiker und Journalisten meinen, die Staaten des Euroraums müssten dem Druck der Märkte ausgeliefert werden, weil sie nur dadurch notwendige Reformen durchführen würden, ist das an makroökonomischer Inkompetenz und mangelndem Wissen um strukturelle Zusammenhänge kaum noch zu überbieten. Dieser Unsinn hat sich dennoch fest ins Vokabular des Mainstreams eingegraben und wird insbesondere von der deutschen Qualitätspresse ohne jedes Nachdenken seit Jahren beständig wiederholt.
Der Mangel an Attraktivität der Eurozone beizutreten, hat neben der merkwürdigen Konstruktion des Euro-Systems zudem noch etwas damit zu tun, dass mit dem Euro die Länder Souveränitätsrechte in einer die Demokratie gefährdenden Weise aufgeben. Ganz deutlich machte das in seiner unnachahmlich charmanten Art Wolfgang Schäuble, der als Finanzminister auf dem Höhepunkt der Griechenlandkrise angesichts des in Griechenland abgehaltenen Referendums meinte, "Wahlen ändern nichts!"
Er war als deutscher Finanzminister Mitglied der sogenannten Euro-Gruppe, einer informellen Versammlung der Finanzminister der Euroländer, des IWF und der Europäischen Zentralbank. Die Euro-Gruppe unterliegt keinerlei Kontrolle, sie ist nicht demokratisch legitimiert, sie ist allerdings sehr machtvoll, denn hier wird die Wirtschaftspolitik der Euro-Länder koordiniert und vor allem kontrolliert. Wolfgang Schäuble hätte die Griechen zur Durchsetzung der Austeritätspolitik von jedem Zugang zu Geld abgeschnitten. Konkret bedeutet das, er hätte sie einfach hungern lassen. Wertegemeinschaft eben.
Mit der Gründung der Euro-Gruppe haben sich die Finanzminister einfach selbst ermächtigt. Es kommt einem Putsch von oben gleich, was dort passiert, denn die Euro-Gruppe greift tief in die nationale Souveränität ein. Ein unglaublicher Vorgang, der medial überhaupt nicht angemessen beleuchtet wird.
Angemessen beleuchtet wurde auch das Verhalten der demokratisch nicht legitimierten EU-Kommission gegenüber der demokratisch legitimierten Regierung Italiens nicht. Die im vergangenen Jahr neu gewählte italienische Regierung legte einen völlig regelkonformen Haushalt vor. Die Kommission intervenierte, da der Haushalt eine höhere Verschuldung vorsah als ihn die alte Regierung der Kommission versprochen hatte. Doch für genau diese Sparpolitik wurde die Regierung abgewählt. Man kann sich das Wählen auch sparen, wenn Wahlen nichts ändern dürfen. Aber dann auch bitte nicht von Wertegemeinschaft und Demokratie reden.
Das Problem der EU ist, dass rechte, populistisch genannte Parteien mit ihrer Kritik an der EU und am Euro in weiten Teilen durchaus recht haben. Die vorgeschlagenen Lösungen mögen in die falsche Richtung gehen, die Kritik ist jedoch nicht von der Hand zu weisen. Problem verstärkend wirkt, dass die EU diese Kritik nicht aufnimmt, um ihr massives Defizit an Demokratie zu überwinden. Im Gegenteil werden mit jeder Krise undemokratische Strukturen gestärkt. Da hilft auch die Entschuldigung nicht weiter, die EU sei kein föderaler Staatenbund sondern eben die EU.
Und noch ein Nachsatz zum viel gescholtenen Russland. Derartige systemische Demokratiedefizite gibt es dort nicht. Der Präsident wird direkt gewählt, über die Zusammensetzung der Staatsduma wird ebenfalls in freien, geheimen und gleichen Wahlen entschieden. Die Bürger Russlands wählen im Gegensatz zu den Bürgern der Bundesrepublik zwei Verfassungsorgane: Staatsduma und Präsident. Die Bundesbürger nur eins: den Bundestag. Die Russische Föderation ist auch nicht Mitglied in einem supranationalen Gebilde wie der EU, dass die Souveränitätsrechte aushöhlt. Die Russische Föderation ist zwar treibender Motor der Eurasischen Wirtschaftsunion, wirbt dabei aber auch für eine Zollunion mit den westeuropäischen Ländern. Im Gegensatz zur EU würde eine Mitgliedschaft zwar einen unglaublich großen Wirtschaftsraum von Lissabon bis Wladiwostok bilden, allerdings müssten die Nationalstaaten keinerlei Souveränität abgeben. Hätten wir die vielfach unterbreiteten Angebote hierzu angenommen, wäre das Desaster mit der Ukraine darüber hinaus ausgeblieben. Sie hätte sich dann niemals zwischen Ost oder West entscheiden müssen, ihr ökonomischer und politischer Niedergang wäre vermieden worden.
Ob dessen ungeachtet die EU reformfähig ist und sich zu einem tatsächlich demokratischen Gebilde wandeln kann - es ist schwer zu sagen. Im Moment jedoch sieht es nicht danach aus. Für die Bürger der EU ist es aber wichtig, diese Zusammenhänge vor Augen zu haben. Man muss darum wissen, zumal sich Politiker und Medien gerne dazu aufschwingen, hier eine der Demokratie verpflichtete Wertegemeinschaft zu postulieren, die anderen Regionen der Welt moralisch überlegen ist. Dies ist bei genauerem Hinsehen schlicht nicht der Fall. Die Defizite sind enorm. Die EU als Geflecht von Institutionen hat sich von den Bürgern ihrer Mitgliedsstaaten gut abgeschottet.
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