von Andreas Richter
Timothy Snyder ist das, was man einen Großhistoriker nennt. Der US-Amerikaner, der an der Yale-Universität lehrt, erlangte durch sein im Jahr 2010 erschienenes Buch "Bloodlands" Bekanntheit. In dem Buch versuchte Snyder, das NS-Regime und die stalinistische Sowjetunion und ihr Wirken in Osteuropa gleichzusetzen – dazu später mehr. Er wurde für das Buch mit Preisen überhäuft und gilt seitdem als gefragter Gesprächspartner westlicher Medien, auch in Fragen, die die Gegenwart betreffen.
Auch das Wirtschaftsmagazin Capital hat sich für seine März-Ausgabe mit Fragen an Snyder gewandt und ein längeres Interview geführt. Die alarmistische Überschrift, ein Snyder-Zitat: "Russland muss die EU zerstören, bevor Putin die Macht verliert". Ehrfürchtig führt die Zeitschrift den Yale-Historiker ein:
Wo erwischt man Timothy Snyder? An seiner Universität Yale in Connecticut, auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos oder in Wien, München oder Heidelberg, wo er Vorträge hält und an einem Buch schreibt "über das, was meiner Meinung nach am wichtigsten ist"? Nun, er sei eh in Berlin, antwortet er auf Anfrage. Da könne man sich doch gleich in der Redaktion treffen. Beim Gespräch schließt er oft die Augen, man kann ihm beim Nachdenken zuschauen.
Capital macht sich Sorgen: Der Aufstieg der "Populisten", die Ungewissheit über den Zustand der Welt und der EU, die Rolle Russlands – in diese Richtungen zielen die Fragen. Snyders Antworten sind allerdings wenig ehrfurchtgebietend.
Befragt nach den Ursachen des Aufstiegs der sogenannten Populisten in der EU und anderswo, erklärt Snyder glattweg:
Der Grund war, dass wir die Kultur vernachlässigt haben. Nun nimmt die Kultur vielerorts eine sehr nationale Form an.
Ökonomische Ursachen, wie das Verschwinden der Mittelschicht auf beiden Seiten des Atlantiks und die allgegenwärtige Zunahme des Gegensatzes zwischen Arm und Reich scheinen für ihn keine Rolle zu spielen. Vielmehr spricht Snyder unbeirrt vom "wirtschaftlichen Fortschritt".
Sein Rezept für die Bekämpfung der "Populisten": "die Zukunft wieder für sich zu erobern". "Populisten", zu denen für ihn die AfD ebenso zählt wie die Präsidenten der USA und Russlands, Donald Trump und Wladimir Putin, idealisierten die Vergangenheit, ohne eine Vision für die Zukunft zu haben:
Denken Sie an die AfD: Was sagt die AfD über die Zukunft? Nichts. Sie hat keinerlei Vision. Denken Sie an Wladimir Putin. Keinerlei Vision von der Zukunft Russlands.
Was Snyder übersieht: die "nichtpopulistischen" westlichen Regierungen (wie die Angela Merkels) bieten ihren Wählern eher weniger Zukunftsvisionen als etwa Wladimir Putin, der in seinen Reden zur Lage der Nation durchaus Pläne für die Zukunft seines Landes vorstellt. Bei Angela Merkel und ihresgleichen haben dagegen immer mehr Bürger das Gefühl, über die wahren Beweggründe ihrer Politik im Unklaren gelassen zu werden.
Dann redet der Historiker über Vernunft und Wahrheit, die man den "Populisten" entgegensetzen müsse:
Doch, mit der Sprache der Vernunft. Aber kombiniert mit einem bestimmten Ideal. Es heißt immer: Die Vergangenheit war besser als die Gegenwart, und wir müssen uns verteidigen. Man kann darauf nur antworten, indem man eine normative Vision der Zukunft entwickelt. Also: Deutschland wird ein besseres Land, wenn die sozialen Aufstiegschancen besser sind. Deutschland wird ein besseres Land, wenn es die erneuerbaren Energien ausbaut und kein Gas mehr aus Russland importiert.
Snyder blendet vollkommen aus, dass die Aufstiegschancen in Deutschland seit 1945 noch nie so schlecht waren wie heute, warum Deutschland ohne russisches Gas ein besseres Land sein soll, bleibt sein Geheimnis.
Die "Wahrheit" ist dabei für Snyder die westliche Sicht auf die Dinge, es sind die anderen, namentlich die Russen, die Unwahrheiten verbreiten. Beispiel Ukraine:
Nehmen wir die Ukraine: Russland marschiert in ein Land ein und schafft es, viele Deutsche davon zu überzeugen, dass etwas völlig anderes geschehen ist. Über soziale Medien und Propagandisten haben sie den Eindruck erweckt, dass Faschisten die Kontrolle über die Ukraine übernommen hätten. Warum gelingt ihnen das? Weil wir sie lassen. Die Russen haben Macht, weil wir gespalten sind und sie das ausnutzen. Wir haben die Wucht des Informationskriegs unterschätzt.
Dieser einen Wahrheit möchte der Historiker im Dienst eines "bestimmten Ideals" auch mit technischen Mitteln zur Geltung verhelfen:
Wir brauchen Fakten, die von allen anerkannt werden – sie müssen ein öffentliches Gut sein wie saubere Luft oder reines Wasser. Konkret gefragt: Warum sollten Regierungen keine Suchmaschinen betreiben? Als Alternative zu Google.
Geradezu absurd ist, dass Snyder die Vernunft auf Seiten des westlichen Establishments verortet. Tatsächlich ist eine Politik, die im Sinne der US-dominierten westlichen Weltordnung nach außen Kolonial- und Hegemonialkriege führt und nach innen immer mehr Lebensbereiche der Menschen den Gesetzmäßigkeiten des Marktes unterwirft – und auf beides bezieht sich Snyders "bestimmtes Ideal" –, gegenüber den Wählern nicht mehr rational zu begründen.
Nicht zuletzt Deutschland ist ein Beispiel dafür, wie Politik und Gesellschaft zur Geisel der ständigen moralischen Begründung von Politik geworden sind und sich in immer mehr Bereichen geradezu irrational verhalten – zu Lasten des Landes und seiner Bürger. Hier liegt der tatsächliche Grund für den Aufstieg der "Populisten".
Snyder liefert noch zwei Argumente dafür, die EU zu erhalten:
Zum einen ist es patriotisch, in der EU zu sein. Wem ein deutscher, belgischer oder polnischer Staat am Herzen liegt, muss verstehen, dass die EU erst dafür gesorgt hat, dass diese Staaten überhaupt funktionieren. Zum anderen muss man sich klarmachen, dass Europa die einzige Einheit ist, die den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gewachsen ist.
Kein Wort dazu, dass die EU von immer mehr Menschen als undemokratisch wahrgenommen wird, dass die von Brüssel erzwungene Austerität Millionen Menschen ins Elend gestoßen hat. Angesichts dieser verzerrten Wahrnehmung überrascht es nicht, dass für Snyder die größte Bedrohung für die EU und die "westlichen Demokratien" nicht von der verfehlten Politik ihrer Eliten ausgeht, sondern von außen kommt, natürlich von Russland:
Weil Russland keine Zukunft hat, muss es uns die Zukunft nehmen. Die größte Gefahr für Putin ist ja ein alternatives, erfolgreiches Modell, das seine eigenen Schwächen offenlegt. Es gibt nämlich etwas, was die russische Führung nicht kann: ein Land schaffen, in dem Menschen wirklich leben wollen. Die Wirklichkeit ist ihre Schwachstelle. Deshalb muss Russland die EU zerstören, bevor Putin die Macht verliert.
Derartige Äußerungen kommentieren sich selbst, sie zeigen den Horizont eines Welterklärers, der wenig erklärt, aber viel propagiert. Interessanter ist, dass Gleiches auch für die eigentliche Arbeit Snyders gilt. Grover Furr, ein US-amerikanischer Literaturwissenschaftler, hat Snyders Buch "Bloodlands" und die darin verwendeten Zitate und Quellen akribisch untersucht, und ist zu dem Schluss gekommen, dass der prominente Historiker im großen Stil seine Quellen verfälscht.
Diese Quellen, im Original oft in Ukrainisch oder Polnisch, geben nicht her, was Snyder daraus macht: Er interpretiert sie falsch, übersetzt sie falsch, oder erfindet einfach Fakten, die in den Quellen nicht vorkommen. Furr spricht von "Propaganda mit Fußnoten". Man muss nicht jede von Furrs Interpretationen der Geschichte teilen, nicht von der Hand zu weisen ist aber, dass Snyder als Historiker in etwa so arbeitet, wie Claas Relotius als Journalist. Die Richtung steht fest. Bei Snyder lautet sie, kurz gefasst: Stalin gleich Hitler. Glaubhaft wird die Erzählung erst durch die Verwendung fiktiver Elemente.
Dass Snyder trotz so offensichtlicher Verstöße gegen wissenschaftliche Standards immer noch als Größe seines Fachs gilt, verrät auch viel über den Wissenschaftsbetrieb dieser Tage. Wer Karriere machen will, versucht in bestimmten Themengebieten besser nicht, gegen den Strom zu schwimmen.
Mehr zum Thema - Wolhynien: Ein Massaker in der Westukraine, über das man in Deutschland lieber schweigt
RT Deutsch bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.