von Gert Ewen Ungar
Auf meinem Bildschirm erscheint eine Nachricht. "Eilmeldung" steht dort auf Russisch. Und darunter die Überschrift: "Auf einem deutschen Fernsehkanal wird über den 'Einmarsch' Russlands in Estland berichtet". Jetzt übertreiben die Kollegen beim russischsprachigen Kanal von RT aber wirklich, denke ich. Doch schon wenige Minuten später stellt sich heraus, aus Russland kommt wie immer der fachlich bessere Journalismus, der niederschmetternd schlechte kommt aus Deutschland.
Denn schon eine kurze Recherche später ist klar: Er hat es wirklich gesagt. Claus Kleber hat sich in seiner Anmoderation eines Beitrags über die NATO im heute-journal vom 4. April tatsächlich zu dieser Aussage verstiegen:
Zu Lande, zu Wasser und in der Luft sind heute amerikanische, deutsche und andere Verbündete unterwegs nach Estland, um dort die russischen Verbände zurückzuschlagen, die sich dort wie vor einigen Jahren auf der Krim festgesetzt haben.
Er fügt dann noch hinzu: "Keine Sorge, das ist nicht so, das ist nur eine Vision, aber eine realistische." Eine Nullnachricht, garniert mit der ihr zugrunde liegenden wilden Mutmaßung. Realistisch ist hier nämlich gar nichts, wie ich zeigen werde.
Es mag sein, Kleber habe nur Wachrütteln wollen angesichts einer in seinen Kreisen wahrgenommenen russischen Bedrohung. Es mag ja sein, dass er aufgrund dieser Bedrohung zu einem Mittel gegriffen hat, das er bei Orson Wells entlehnte. Das mag er ja alles als Entschuldigung für seinen groben Fehltritt anführen. Allerdings ist damit zwar das eine oder andere erklärt, entschuldigt ist damit aber nichts, denn der Vorgang wirft ein Licht auf die Verrohung und die intellektuelle Dürftigkeit der deutschen medialen Eliten.
Als Orson Wells im Radio zu einem neuen Stilmittel griff, brach in den USA eine Panik aus. Wells schilderte den Einfall Außerirdischer so realistisch, dass die Zuhörer nicht begriffen, dass es sich um eine Fiktion, ein Hörspiel handelte.
Claus Kleber mag sich in seiner Anmoderation davon inspiriert gefühlt haben. Er mag gedacht haben, er wandele nun auf den Spuren der großen Kunst. Allein es verkam ihm zu einer geistigen Bankrotterklärung. Es gibt nämlich einen kleinen, aber gravierenden Unterschied. Wir wissen nicht, ob es Außerirdische gibt. Russland aber gibt es. Das Land ist unmittelbarer Nachbar der Europäischen Union. Und während es mit möglicherweise vorhandenen Außerirdischen aktuell keinerlei Spannungen gibt, gibt es mit Russland zahlreiche.
Kleber begibt sich mit seiner Anmoderation daher weniger auf das Feld der hohen Kunst als in den Kontext der Gleiwitz-Lüge. Der Grund für den Überfall auf Polen durch die Deutsche Wehrmacht, der den Beginn des Zweiten Weltkriegs markiert – er war in gleicher Weise erfunden, wie Kleber seinen Einfall russischer Soldaten in Estland erfindet. Es ist daher mehr als nur geschmacklos, wozu sich Kleber hinreißen lässt. Es ist geschichtsvergessen. "Seit 5 Uhr 45 wird zurückgeschossen." In diesen Kontext begibt sich eine große deutsche Nachrichtensendung. Man kann sich nur schämen.
Es mag ja den transatlantisch ausgerichteten Medienvertretern als reale Möglichkeit erscheinen, dass Russland eine Bedrohung für die Baltischen Staaten darstellt, weil man derartigen Unsinn in diesen Kreisen eben verbreitet und dort allem Anschein nach auch daran glaubt – in der realen Welt gibt es diese Bedrohung nicht. Seriöser Journalismus würde auf diese Tatsache hinweisen. Die Bedrohung, die baltische Staaten fühlen und die die NATO für ihre zunehmende Aggression gegen Russland benutzt, existiert nicht. Die Wiederholung macht es auch nicht wahrer.
Jedem, der genauer hinsehen kann, fällt unmittelbar auf, dass der westlichen Aggression auf russischer Seite die Entsprechung fehlt. Während hier das Schreckgespenst eines Überfalls auf die Baltischen Staaten als Argument für Aufrüstung und Truppenstationierung an der russischen Westgrenze herhalten muss, fehlt in Russland eine derartige Rhetorik vollständig. Es gibt dort nicht so etwas wie "Das Baltikum ist unser". Es gibt nichts, das darauf hindeutet, die russische Regierung bereite die Bevölkerung medial auf eine Konfrontation vor. Das Gegenteil ist deutlich näher an der Wahrheit. Man ist in Russland froh, das Baltikum losgeworden zu sein.
Seriöser Journalismus würde nicht nur herausfinden, dass dem so ist, er würde auch darlegen, warum dem so ist: Das Baltikum war ein Problem für die Sowjetunion, so wie es heute ein Problem für die EU ist. Es ist wirtschaftlich nicht eigenständig. Es hat keine Industrie, kein funktionierendes Geschäftsmodell, keine Ressourcen. Das Baltikum lebt von der Abwanderung seiner jungen Bewohner, die im europäischen Ausland arbeiten und Geld nach Hause überweisen. Es gibt dort tatsächlich nichts, das Russland bräuchte. Es ist auch strategisch unwichtig. Russland hat genug Zugänge zur Ostsee. Man könnte auch sagen, das Baltikum schnorrt sich so durch die Geschichte. Mal hier und mal dort.
Die Idee Klebers, Russland könnte nun ausgerechnet Estland überfallen, zeugt daher von einer befremdlichen Unkenntnis der tatsächlichen Verhältnisse. Es ist schmerzhaft peinlich, was Kleber in transatlantischer Hörigkeit an geistiger Flachheit öffentlich abliefert. Es lässt aber auch den Schluss zu, wie die transatlantische Unterwanderung deutscher Medien inzwischen dazu geführt hat, dass wir systematisch fehlinformiert werden. Russiagate, russische Hacker allüberall, Skripal, russische Bedrohung des Baltikums, russische Truppen in der Ukraine – alles Fake, der durch die Qualitätsmedien geistert und eine Bedrohung inszeniert, die der Realität nicht entspricht. Es ist Propaganda, was wir vorgesetzt bekommen, die ein Feindbild erzeugen soll. Kleber machte das am 4. April überdeutlich.
Was sich Kleber geleistet hat, ist ein Tiefpunkt des deutschen Journalismus und Zeugnis für eine intellektuelle Verrohung und Verflachung Deutschlands.
Das Baltikum ist ein Problem für die EU, denn nirgendwo in der EU wird die Grundrechtecharta derart offensichtlich mit Füßen getreten wie dort. Staatliche Diskriminierung von Minderheiten, Verletzung der Menschenrechte, offener Faschismus – für all das steht das Baltikum. Dass wir davon nichts erfahren, auch dafür steht der Journalismus eines Claus Kleber. Ganz ehrlich und ganz an den Fakten orientiert, müsste er nämlich sagen: So eine Region möchte man nicht mal geschenkt, weil sie mit ihrem Rechtsradikalismus das Gesamtprojekt EU nicht nur in Verruf bringt, sondern tatsächlich gefährdet.
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Kleber aber hängt ausgerechnet daran den NATO-Bündnisfall auf, den niemand von uns überleben würde. Es ist entweder nah am Wahnsinn, was Kleber hier tut, oder er ist hoffnungslos fehlinformiert. Egal wofür man sich entscheidet, in einer Nachrichtensendung mit einem Millionenpublikum hat so etwas nichts zu suchen.
Und noch ein Wort zur Krim. Russische Soldaten sind da nie eingefallen. Sie waren immer schon dort, ihre Stationierung war mit der Ukraine vertraglich geregelt. Sie haben die Krim auch nicht besetzt, sondern lediglich ukrainische Soldaten daran gehindert, das Referendum zu stören, in dem sich eine übergroße Mehrheit der Krimbewohner für die Loslösung von der Ukraine und den Anschluss an Russland ausgesprochen hat. Auch darüber informiert Kleber sein Publikum falsch.
Über die Ukraine informiert er praktisch gar nicht mehr. Die Ukraine kommt in deutschen Nachrichten kaum noch vor. Das hat damit zu tun, dass in der Ukraine keinerlei Demokratisierung und wirtschaftliche Entwicklung zum Positiven festzustellen ist. Während es auf der Krim steil bergauf geht, geht es in der Ukraine steil bergab. Der deutsche Mainstream schweigt die Folgen westlicher Intervention in der Ukraine einfach tot. Die Fakten sind trotzdem nicht aus der Welt und weiterhin wirksam.
Wenn ein Ukrainer heute auf die Krim schaut, kann er angesichts des dort vorhandenen Wohlstands, der gefestigten Strukturen sowie der dort herrschenden Freiheit nur vor Neid erblassen. Es ist daher nicht schwer zu prophezeien, dass die Krim einer der Faktoren sein wird, an dem der ganze vom Westen angezettelte Putsch in der Ukraine scheitern wird. Es herrschen dort gute ökonomische und politische Bedingungen, in der Ukraine nicht. Kleber und die Seinen verschweigen das.
In zwei von ihm einleitend gesprochenen Sätzen ohne jeden nachrichtlichen Gehalt ist jede Grundlage dieser Sätze nachweisbar falsch und ideologisch aufgeladen. So etwas nennt man Propaganda. Das sind deutsche Nachrichten heute: Zeugnisse einer tiefen geistigen Verrohung und einer geistigen Verbarrikadierung vor der Realität. Über diesen Zustand unserer Nachrichtenlandschaft informieren uns heute russische Medien, denn dort ist der Journalismus entgegen allen Behauptungen völlig intakt.
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