von Martin Dolzer
In der Türkei und weltweit finden Hungerstreiks von kurdischen Politikern, Aktivisten und politischen Gefangenen gegen die Isolationshaftbedingungen von Abdullah Öcalan statt, dem seit 2011 jeglicher Kontakt sogar mit seinen Anwälten verwehrt wird.
Die Forderung der Hungerstreikenden nach Anwaltsbesuchen wäre ohne Weiteres sofort zu erfüllen, und deren Umsetzung müsste eine Selbstverständlichkeit sein, da sie sowohl nationalem türkischen Recht als auch internationalen Standards entspricht. Der türkische Menschenrechtler Akın Birdal, auf den Nationalisten im Mai 1998 ein Attentat mit sechs Schüssen verübten, so dass er nur schwerverletzt überlebte, erklärt dazu:
Wir sprechen von einem juristisch notwendigen Ende der Isolation gegen Öcalan. Gefangene haben Rechte, die international gesichert sind. Wir haben gemeinsam mit der Anwältin Erin Keskin eine Delegation zusammengestellt, die aus Menschenrechtsaktivisten und Kulturschaffenden besteht. Seit Tagen finden wir jedoch keinerlei Gesprächspartner. Die parlamentarische Menschenrechtskommission in der Türkei muss nun endlich handeln.
Leyla Güven, Abgeordnete der Türkischen Nationalversammlung von der linken und pro-kurdischen HDP, befindet sich seit mehr als 130 Tagen im Hungerstreik, einige politische Gefangene seit 3 Monaten und 14 kurdische Exilpolitikerinnen und Exilpolitiker in Strasbourg seit mehr als 100 Tagen. Deren Gesundheitszustand ist sehr kritisch, sie könnten jeden Tag sterben.
Weitere 7.000 politische Gefangene begannen am 1. März 2019 mit dem Hungerstreik. Einen derartig ausgedehnten Hungerstreik hat es bisher weltweit nicht gegeben. Allerdings schweigen die Mainstreammedien in der Bundesrepublik und der EU dazu.
Vier politische Gefangene haben sich mittlerweile aus Protest gegen die Ignoranz der Verantwortlichen das Leben genommen. Leyla Güven appellierte an die Hungerstreikenden und forderte das Ende der Selbsttötungen und sagte "Mit Hoffnung und Willensstärke sollten wir die Hungerstreikenden umschließen." In Strasbourg haben am 25. März weitere mehr als 300 Menschen mit einem "Massenhungerstreik" vor dem EU-Parlament begonnen.
In der Türkei sind zehntausende Oppositionelle inhaftiert. Darunter befinden sich 12 Abgeordnete(!) der kurdischen Oppositionspartei HDP (darunter die ehemaligen Vorsitzenden Selahattin Demirtas und Figen Yüksedag), der frühere CHP-Abgeordnete Eren Erdem, 40 Bürgermeisterinnen und Bürgermeister kurdischer Kommunen, 159 Journalistinnen und Journalisten sowie unzählige Frauenaktivistinnen. Auch in der Bundesrepublik wurden kurdische Politiker wegen ihres Engagements für Frieden und Demokratie auf Grundlage des § 129b (Mitglied einer terroristischen Vereinigung im Ausland) kriminalisiert. Mehr als ein Dutzend von ihnen wurden zu Strafen von mehr als 3 Jahren verurteilt, ohne dass ihnen eine konkrete Straftat vorgeworfen werden kann.
Mehrfach drang mittlerweile an die Öffentlichkeit, dass hungerstreikende politische Gefangene in der Türkei in den letzten Tagen misshandelt oder gefoltert wurden. Das betont auch TOHAV, die in Istanbul ansässige "Stiftung für Gesellschafts- und Rechtsstudien" in einem dringenden Appell an das Europäische Anti-Folter-Komitee CPT und die UNO. Etlichen Gefangenen würde das im Hungerstreik dringend benötigte Vitamin B und Salz vorenthalten. Zudem wird kritisiert, dass medizinische Untersuchungen der Gefangenen nicht gemäß den gesetzlichen Bestimmungen durchgeführt und den Gefangenen Disziplinarstrafen wie Einzel- oder Bunkerhaft auferlegt werden.
Die Bundesregierung und die Politiker in der EU sowie weltweit sollten endlich Verantwortung übernehmen und entschiedenen Druck auf die Regierung Erdoğan ausüben, so dass diese endlich die Menschenrechte einhält und zudem den berechtigten Forderungen entspricht. Es war Abdullah Öcalan, der 2013 einen Friedensprozess einleitete, den die Regierung Erdoğan 2015 beendete. Seitdem wurden ganze Stadtteile in den kurdischen Provinzen des Landes zerstört, mehr als 90 Bürgermeisterinnen und Bürgermeister durch Statthalter aus Ankara ersetzt und eine Vielzahl an dokumentierten Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen von der Armee gegen die Zivilbevölkerung begangen. Eine Aufhebung von Abdullah Öcalans Totalisolation könnte entscheidend zu Frieden und Demokratisierungen in der Türkei und auch zu einer langfristigen Stabilität beitragen. Ähnlich wie einst Nelson Mandela in Südafrika, ist er die zentrale Figur für respektvollen Dialog in der heutigen Türkei.
Wer kontinuierlich zu dem Hungerstreik und der momentanen Situation schweigt, billigt die Rechtsverletzungen der türkischen Regierung, kommentiert Devris Cimen, ein Mitarbeiter von Civaka Azad, dem in Berlin ansässigen "Kurdischen Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit". Die in Strasbourg seit hundert Tagen im Hungerstreik Befindlichen fordern, wie Politiker Yüksel Koc und die Journalistin Gülistan Ike, dass sowohl in Parlamenten als auch in der Öffentlichkeit Zeichen gesetzt werden müssen:
Wir rufen die Medien in Europa dazu auf, den Hungerstreikenden Gehör zu geben, denn das Schweigen ist in unserem Fall tatsächlich tödlich", so Ike.
Es ist wichtig, dass sich weltweit humanistisch und demokratisch gesinnte Menschen mit den Hungerstreikenden solidarisieren und gesellschaftlichen Druck auf die Regierungen ausüben – so dass zumindest im ersten Schritt die Menschenrechte eingehalten werden. Das Leben von Leyla Güven und allen politischen Gefangenen muss gerettet werden.
Zudem ist ein Umdenken in Bezug auf den Umgang mit der türkischen Regierung sowie mit Oppositionellen in der Bundesrepublik dringend notwendig. Die nahezu bedingungslose Waffenbrüderschaft mit den Herrschenden in der Türkei, die schon zum Genozid an den Armeniern zu Beginn des letzten Jahrhunderts beigetragen hatte, muss endlich beendet werden und ist durch eine Politik zu ersetzen, die sich an den Menschenrechten und dem Völkerrecht orientiert!
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Martin Dolzer ist Abgeordneter der Hamburgischen Bürgerschaft und hat sich dem Hungerstreik für vier Tage symbolisch angeschlossen, um dazu beizutragen, das Schweigen in der Berichterstattung auch hierzulande zu brechen.