von Em Ell
Wesen ist, was gewesen ist.* (Pierre Bourdieu)
Weitere Teile dieser Serie:
Teil II – Francos langer Schatten
Teil III – Vox, die Stimme der Vergangenheit
Die ultrarechte Partei Vox ist eine "erfolgreiche Abspaltung der konservativen Volkspartei (PP)", konstatiert der politische Analyst und Abgeordnete im EU-Parlament (Podemos) Miguel Urbán zutreffend in seinem historischen Abriss zur Ultrarechten in Spanien (siehe Teil 2), dessen Argumentationslinie ich hier weiterführe und ergänze. Vox gründete sich 2013 aus ehemaligen Kadern der PP, die dieser vorwarfen, unter dem seinerzeitigen Parteivorsitzenden und Ministerpräsidenten Mariano Rajoy wesentliche konservative Prinzipien zu verraten, speziell in der "nationalen Frage" gegenüber dem katalanischen und baskischen Nationalismus. Zur selben Zeit stießen innerhalb der PP mit Rajoys Vorgänger an der Partei- und Regierunsspitze, José María Aznar, und der Präsidentin der autonomen Region Madrid, Esperanza Aguirre, zwei maßgebliche politische Freunde Santiago Abascals öffentlichkeitswirksam ins gleiche Horn. Vox repräsentiert sowohl den "soziologischen Franquismus" (Franquismo sociológico), der all die Jahre in der PP selbst seine politische und parlamentarische Heimat und Einflussmöglichkeit gefunden hatte und sich daher – als "iberische Ausnahme" (siehe Teil 1) – nicht eigenständig parteipolitisch organisieren musste, als auch die dezidiert neokonservativen Kräfte einer Art spanischen "Tea Party", die bisher als Teil der PP deren politischen Kurs mitbestimmten und nun mit Vox über eine eigene politische Stimme verfügen. Hierzu zählen etwa die provokatorischen Medien aus den Häusern von Grupo Intereconomía und Libertad Digital, der neokonservative Thinktank Grupo de Estudios Estratégicos (GEES) und Agitationsplattformen wie Hazte Oír.
Vox kombiniert in ihrer politischen Botschaft einerseits wesentliche Elemente des Franquismus, etwa die durch die Streitkräfte nach innen wie außen zu garantierende Einheit Spaniens. Weshalb eine ihrer Schlüsselforderungen die Rezentralisierung des Staates mit der Abschaffung der Autonomieregionen und die Ablehnung jeglichen Nationalismus ist, der nicht "spanisch" – sondern etwa baskisch oder katalanisch – ist, verbunden mit dem "Kampf gegen Korruption, Vetternwirtschaft und Verschwendung", für die sie die Existenz der Autonomieregionen verantwortlich macht. Andererseits folgt sie dem Neoliberalismus und Neokonservatismus à la española von Aznar und Aguirre und scheut sich ebenso wenig vor gezielten Provokationen gegen "politische Korrektheiten" und von der politischen Linken erreichte gesellschaftliche Fortschritte, beispielsweise in ihrem Kreuzzug gegen den Feminismus und die "Geschlechterideologie" (der "Feminazis") beim Thema Abtreibung und dem Infragestellen der in Spanien verbreiteten Gewalt gegen Frauen – eine Botschaft, die sie wiederum mit der erzkatholischen Amtskirche und anderen ultrakonservativen Organisationen (wie Hazte Oír, Foro Español de la Familia) verbindet. Hinzu kommen Elemente und Slogans des Trumpismus, etwa "Spanien wieder groß zu machen" und zu seinem Schutz vor armen und nicht westlichen Immigranten (in Ceuta und Melilla) "Mauern zu bauen". Eine billige politische Propaganda der Effekthascherei und des Sündenbocks, die existierende Probleme demagogisch vereinfacht und zugleich überdimensioniert und so von den eigentlichen Ursachen der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Krise ablenkt. Die durch die (neo)liberalen Gesellschaften des Westen hervorgerufene und verschärfte "marktkonforme und alternativlose Austerität" und massive Prekarisierung im Inneren ("Unterschichten") und Äußeren ("Armutseinwanderung") wird nicht in ihrem Ursprung kritisiert und korrigiert. Vielmehr werden in einer Umkehrung von Ursache und Wirkung gezielt ihre Folgen und Opfer als "schuldig" erklärt und als "Verbrechen" bzw. "Verbrecher" bekämpft – so dass diese politische Logik und Programmatik im Namen der "nationalen Einheit" und von "Recht und Ordnung" Spaltung und Stigmatisierung, Ressentiment und Ausschluss innerhalb der Gesellschaften und zwischen diesen weiter befördert und entsprechend den Ausbau der "Sicherheitspolitik", des Überwachungs-, Repressions- und Militärapparates fordert.
Vox artikuliert und verstärkt die im Namen des Liberalismus und der westlichen Demokratie geschaffene und zunehmende gesellschaftliche Enge, Agressivität und Brutalität und ist damit einerseits "modern", als Teil einer in Europa und andernorts neu aufkommenden extremen Rechten, sowie andererseits sehr spezifisch "traditionell", als eine Neuauflage der spanischen Ultrarechten aus den Zeiten der faschistischen Franco-Diktatur und der "Transición" (dem historischen Prozess des Übergangs) von der Diktatur zur Demokratie und der Verfassung des "Regimes von 1978" (siehe Teil 1). Den "Kampf der Kulturen" in der globalisierten Moderne verbindet Vox mit der erklärten "Rückeroberung Spaniens" (in bewusster Analogie zur historischen "Reconquista") und der Logik eines "Kreuzzuges" zur Rückeroberung des Landes aus den Händen der "Roten" (wie 1936) in der spanischen Vergangenheit – und so mit dem Militärputsch und der Diktatur Francos.
Ein sich radikalisierender Schwebezustand
Infolge der ungelösten und zunehmenden neoliberalen Krise befinden sich große Teile der liberalen Gesellschaften des Westens insgesamt in einer Art sich radikalisierendem Schwebezustand – so auch Spanien, und mit ihm Katalonien. Und da die Fundamente sowohl der liberalen Gesellschaften im Allgemeinen als auch die der spanischen – und katalanischen – Gesellschaft im Besonderen maßgeblich von im Wortsinne "konservativen" Machtinteressen der Privilegierten und Besitzenden – vermittelt über das politische Feld und dort über ihre Repräsentanten der politischen Rechten – bestimmt sind, sind es die Entwicklungen und Auseinandersetzungen in der politischen Rechten, die die jeweiligen gesellschaftlichen Zustände maßgeblich bestimmen und repräsentieren. Mit der Einbindung Spaniens in die westliche Ordnung schon während der Franco-Diktatur (siehe Spanien: Von Diktatur, Geopolitik und der Krise der Parteiendemokratie – Teil 1) und in der Folge der Transición in die NATO, die Europäische Union und die Eurozone war der Weg und der Raum für die weitere Entwicklung Spaniens innerhalb der kapitalistischen Ordnung entscheidend vorgezeichnet und begrenzt. Und mit der Transición, der Transformation und "Aktualisierung" der Franco-Diktatur, war die weitere Entwicklung in Spanien ebenso entscheidend vorgezeichnet und begrenzt. Dessen "nationale Projekte" knüpften an die Traditionen der Franco-Zeit an (siehe Spanien: Von Diktatur, Geopolitik und der Krise der Parteiendemokratie – Teil 2). Insbesondere der Aznarismus, der in der traditionellen und elitären Selbstgefälligkeit, Besitzstandsmentalität und Korruptheit der in der PP vereinigten politischen Rechten in der neoliberalen Krise letztlich an sich selbst zerbrach und somit die spezifisch spanische Krise einleitete und bestimmt – sowohl die Spaltung der politischen Linken als auch die der politischen Rechten sowie die Auflösung des machtpolitischen territorialen Arrangements in der katalanischen Frage (siehe Spanien: Von Diktatur, Geopolitik und der Krise der Parteiendemokratie – Teil 3). Letzteres, die Radikalisierung der politischen Rechten durch ihre Spaltung und Konkurrenz zwischen PP und Ciudadanos insbesondere in der katalanischen Frage, sind gegenwärtige Entwicklungen und Auseinandersetzungen in der politischen Rechten selbst (die gegenwärtige katalanische Frage an sich ist schließlich Ausdruck und Resultat der Auseinandersetzung zwischen der spanischen und der katalanischen Rechten), die den politischen Raum für das Entstehen und den Erfolg einer eigenen Partei der Ultrarechten in Form von Vox geschaffen haben.
Dies alles vor dem Hintergrund der umfassenden wirtschaftlichen und sozialen Misere mit hoher Arbeitslosigkeit, prekären Arbeitsbedingungen und bedrückender Perspektivlosigkeit weiter Teile der Bevölkerung durch die drastische neoliberale Austeritätspolitik seit 2010, einer verstärkten medialen und politischen Präsenz der Einwanderungsproblematik sowie der Auseinandersetzungen um die Exhumierung Francos und das historische Gedenken an "Bürgerkrieg" und Diktatur (Ley de Memoria Histórica de España). Zwar sind weder die wirtschaftliche und soziale Misere noch die Einwanderungsproblematik selbst der unmittelbare Auslöser für den gegenwärtigen Erfolg der Ultrarechten. Schließlich kanalisierte sich der umfassende wirtschaftliche, soziale und politische Unmut in der Hochphase der Krise mit dem Entstehen und Erfolg von Podemos zuerst nach links. Auch der Höhepunkt der Ankunft von Bootsflüchtlingen in Spanien liegt Jahre zurück. Doch insgesamt bieten diese Themen einen äußerst fruchtbaren Nährboden für die zunehmende Radikalisierung der politischen Rechten und ihrer Botschaften.
Weder ist Franco tot. Noch der Aznarismus. Und so überbieten sich in einem "¡Y yo más!" ("Ich bin besser!") – einer umgekehrten Version des typisch spanischen Totschlagarguments "¡Y tú más! ("Du bist schlimmer!") – die drei rechten Parteien PP, Ciudadanos und Vox als die "wahren Spanier" in ihrem Kampf um "das Wohl und die Einheit Spaniens" gegen die "Linken" und die (katalanischen) "Putschisten" als "Zerstörer Spaniens". Alle drei rechte Parteien sind letztlich Teil desselben gemeinsamen Hauses der politischen Rechten von Alianza Popular und PP (siehe Teil 2). Und sowohl Albert Rivera, Führer der rechtsliberalen Ciudadanos, als auch Santiago Abascal, Chef der ultrarechten Vox, stammen (wie die meisten ihrer jeweiligen Parteianhänger) aus der PP (Ciudadanos wird bisweilen als "Handelsmarke" und "Jugendorganisation" der PP bespöttelt). Rivera und Abascal sind zudem ebenso Aznaristen wie der neue Präsident der PP, Pablo Casado, selbst (hier ein Überblick über die Gemeinsamkeiten von Casado und Abascal). Politisch liegen sie daher im Wesentlichen auf der gleichen Linie: Neoliberalismus und Neokonservatismus im Allgemeinen sowie Identifikation mit dem Regime der Transición der Franco-Zeit (und dadurch mit dieser und dem "soziologischen Franquismus" selbst) im Besonderen. Mit der Formierung eines "neuen Machtblocks" einer "nationalen Rechten" aus diesen drei Parteien steht Spanien – so wie fast alle liberalen Demokratien des Westens – in Zeiten des "alternativlosen Neoliberalismus" vor einer weiteren Krisenverschärfung und einem drohenden Ruck nach rechts in die politische Vergangenheit.
Mehr zum Thema - Spanische Konservative sehen Pakte mit Ultrarechten als Strategie für ganz Spanien
Andalusien und Katalonien
Erneut also Andalusien. Und erneut Katalonien. Schließlich waren die Wahlen in Andalusien die ersten in Spanien seit der Eskalation der katalanischen Frage im Dezember 2017, mit der erstmaligen Anwendung des Verfassungsartikels 155 zur Suspendierung der katalanischen Autonomie durch die seinerzeitige PP-Regierung von Mariano Rajoy. Die nationale Frage spielte daher eine entscheidende Rolle im andalusischen Wahlkampf. Hinzu kommt, dass durch die innerspanische Armutsimmigration vom agrarisch geprägten "Armenhaus" Andalusien ins industriell und kommerziell reiche Katalonien – speziell in der Franco-Zeit – eine besondere Verbindung zwischen beiden Regionen besteht (so dass Katalonien häufig auch als neunte andalusische Provinz bezeichnet wird). Zwar hatten beide Regionen am schwersten unter dem "Bürgerkrieg" und der Franco-Diktatur gelitten. Doch hatten sich in beiden Regionen die maßgeblichen Eliten mit den gegebenen Verhältnissen arrangiert (Katalonien) oder waren Teil derselben (Andalusien), sowohl während der Franco-Zeit als auch danach. So etablierte sich in Katalonien – analog zur PP im übrigen Spanien – über die regionale konservative Volkspartei CiU, Convergència i Unió, unter ihrem langjährigen katalanischen Präsidenten Jordi Pujol, ein nicht minder korruptes System mit Verbindungen bis in die Franco-Zeit. Weshalb in der gegenwärtigen katalanischen Frage die politische Rechte in Spanien wie in Katalonien die jeweilige "nationale Frage" instrumentalisiert und darüber die tiefer liegende soziale Frage bisher äußerst wirksam verdecken, übertönen und übergehen kann (Näheres zum katalanischen und zum spanischen Nationalismus und der aktuellen Zuspitzung der "katalanischen Frage" findet sich hier, hier und hier).
Auch in Andalusien hat sich die dortige politische Elite der spanischen Sozialdemokraten (PSOE) sowohl mit den vorherrschenden Strukturen des Kapitalismus und Neoliberalismus (wie die "moderne Sozialdemokratie" des sogenannten "Dritten Weges" generell) als auch denen der Transición (und damit der Franco-Zeit) arrangiert bzw. arrangieren müssen, und – geprägt durch die wirtschaftliche Rückständigkeit und die hoch subventionierte EU-Einbindung – im Ergebnis in ihrer andalusischen Hochburg neben dem öffentlichen Sektor als bedeutendem Faktor wirtschaftlicher und sozialer Stabilität ein eigenes Klientelsystem etabliert. Fast vier Jahrzehnte ununterbrochener PSOE-Regierung resultierten in den jüngsten Wahlen daher in einer Mischung aus falscher Siegessicherheit und – angesichts der besonderen Schwere der wirtschaftlichen und sozialen Krise in dieser Region – echter Enttäuschung bei maßgeblichen Teilen der Anhänger- und Wählerschaft in einer äußerst niedrigen Wahlbeteiligung, die die erstmalige parlamentarische Mehrheit und Regierungsübernahme der politischen Rechten in der linken Bastion Andalusien und das aktuelle politische Krisenpanorama für ganz Spanien überhaupt erst ermöglicht haben.
Womit sich einmal mehr bestätigt, dass Wahlen in repräsentativen Parteiendemokratien weniger dadurch entschieden werden, dass die politische Rechte gewinnt (sie ist ohnehin als im Wortsinne konservative politische und gesellschaftliche Kraft genuin staatstragend bzw. strukturimmanent), sondern dadurch, dass die politische Linke verliert – insbesondere dadurch, dass sie in dem Maße, in dem sie sich mit den vorherrschenden Machtstrukturen arrangiert bzw. arrangieren muss, selbst nicht mehr wirklich links sein kann, sondern zwangsläufig – über Kooptation und Korruption – Teil dieser Machtstrukturen sowie entsprechend konservativ wird und schließlich nicht mehr ihre eigentliche Klientel und Wählerbasis repräsentieren und mobilisieren kann. Ohne als (untergeordneter) Teil der vorherrschenden Machtstrukturen diese tatsächlich ändern zu können, kann sich die politische Linke lediglich als das geringere Übel im Vergleich zur politischen Rechten präsentieren, immer zu dem Preis, in der Regierungsverantwortung (was nicht gleichbedeutend mit tatsächlicher Macht ist) im Namen der (systemkonformen) "Regierungsfähigkeit" ihre eigene Anhänger- und Wählerschaft zwangsläufig enttäuschen bzw. verraten zu müssen (andernfalls wäre sie tatsächlich nicht fähig zu regieren, denn eine echte, systemändernde linke Regierung würde entsprechend sabotiert).
Darüber hinaus waren die andalusischen Wahlen die ersten seit dem erfolgreichen konstruktiven Misstrauensvotum gegen die PP-Regierung von Mariano Rajoy, mit der Machtübernahme durch die PSOE in einer Minderheitsregierung unter Pedro Sánchez, die sich auf die parlamentarische Zusammenarbeit mit der linken Podemos sowie den rechten Parteien des baskischen und katalanischen Nationalismus stützte. Ebenso wie in Andalusien wird auch in den kommenden regionalen und landesweiten Wahlauseinandersetzungen die "nationale Frage" die bestimmende Rolle in der politischen und medialen Öffentlichkeit spielen. Die tatsächlichen Erfolge der politischen Linken in der Regierungszusammenarbeit von PSOE und Podemos in der sozialen Frage (speziell die Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohnes und der öffentlichen Investitionen) drohen damit im sich radikalisierenden und dominanten politisch-medialen Getöse der politischen Rechten unterzugehen (hier liegt ein weiterer Faktor für das historische schlechte Abschneiden des linken Lagers in Andalusien, da die regionalen Formationen von PSOE und Podemos – trotz der gemeinsamen Erfolge auf nationaler Ebene – jeweils infolge interner Auseinandersetzungen zu den nationalen Organisationen ihrer Parteien auf Distanz gingen und mit der Betonung ihrer regionalen Eigenständigkeit letztlich auf dem Glatteis der "nationalen Frage" landeten, die von der politischen Rechten dominiert und monopolisiert wird).
Die Neuformierung des Status quo
Über die tiefer liegende soziale Krise bzw. "soziale Frage" und deren politische Konsequenzen sind sich auch die nationalen wie internationalen Machteliten im Klaren. Eine echte Bedrohung der herrschenden Interessen ist eine wirkliche und wirksame politische Linke, die die wesentliche Machtfrage (und damit auch die Systemfrage, siehe Teil 1) stellt, nicht die politische Rechte, die selbst Ausdruck und Repräsentant der tatsächlichen Machtstrukturen bzw. die Antwort auf diese Machtfrage ist. Spaniens eigene Geschichte des Putsches und Krieges von Franco gegen die "linke Republik" und die nachfolgende faschistische Diktatur ist das beste Beispiel dafür. Ebenso das drastische und undemokratische Vorgehen der Machteliten gegen die 2015 gewählte linke Syriza-Regierung in Griechenland oder die massive Gewalt der Sicherheitskräfte gegen die seit Ende 2018 existierende breite Protestbewegung der "Gelbwesten" in Frankreich. Seit dem Ausbruch der neoliberalen Krise 2008 sind diese maßgeblichen Machtstrukturen im Rahmen und Namen der "internationalen Finanzmärkte", der EU und der Eurozone sowohl während der PSOE-Regierung von José Luis Zapatero (politische Wende zur "alternativlosen" Austeritätspolitik) als auch während der nachfolgenden PP-Regierung von Mariano Rajoy (Verschärfung der neoliberalen Agenda sowie "Bankenrettung" mit der weiteren "Öffnung der spanischen Wirtschaft") bereits zweimal in Spanien offen sichtbar und einschneidend spürbar geworden. Und wie andernorts dient auch in Spanien das von der "alternativlosen Politik" des Neoliberalismus provozierte Erstarken der politischen Extreme der Stabilisierung des neoliberalen Status quo in einer "großen Koalition" der "moderaten Kräfte" der "extremen Mitte". Um die rechten und vor allem die linken Extreme zu vermeiden, soll just einmal mehr die "Alternativlosigkeit" der Politik begründet, legitimiert und fortgeführt werden, die die neoliberale Krise und die politische wie gesellschaftliche Perspektivlosigkeit und Radikalisierung ausgelöst hat und weiter verschärft.
Dies schließt nicht aus, dass sich Entwicklungen im politischen Feld und gemäß dessen eigener Logik verselbständigen und eine Eigendynamik entwickeln, die die in den liberalen Demokratien des Westens mehr oder weniger im Hintergrund wirksamen Machteliten speziell der Wirtschafts- und Finanzinteressen nicht unmittelbar kontrollieren und einfangen können, so dass sie sich mit den politischen Folgen und Tatsachen dieser Entwicklungen arrangieren müssen. Die Instrumentalisierung und Eskalation der "nationalen Frage" sowohl in Katalonien als auch im übrigen Spanien illustriert dies besonders anschaulich, ebenso wie die auch andernorts aufstrebende extreme Rechte (Trump, Bolsonaro). Die ultrarechte Vox ist Teil dieses Rechtsrucks im Namen "nationaler Werte" (à la "America first"), eines über transatlantische Verbindungen (mit dem ehemaligen Trump-Berater Steve Bannon sowie mutmaßlich obskuren Finanzierungen im Dunstkreis des tiefen Staates) auch in Europa zu formierenden Projekts einer "neuen Rechten", die unter anderem mit dem Einsatz der Medien von heute über Schmierenkampagnen eine Politik von gestern verbreitet und den zuvor von links (Podemos) kanalisierten sozialen und politischen Protest, speziell der jungen Generation, von rechts einfängt. Sie ist andererseits Teil der ebenfalls transatlantisch orientierten und vernetzten "casa Aznar", des neoliberalen und neokonservativen Aznarismus der politischen Rechten der PP und ihrer Kinder Ciudadanos und Vox.
Auf der nationalen politischen Ebene kristallisieren sich demnach zwei politische Blöcke und eine "Formation der extremen Mitte" heraus. Denn dadurch, dass sowohl die politische Rechte als auch die politische Linke – die sich ehemals in den Volksparteien PP und PSOE als einzige politische Alternativen und "Antipoden" formierten – infolge der neoliberalen Krise parteipolitisch in PP, Ciudadanos und Vox bzw. PSOE und Podemos fragmentiert sind, ergeben sich zuvor nicht vorhandene Kombinationsmöglichkeiten aus den "moderaten" Fragmenten des rechten und linken Blocks. Diese neue Konstellation einer "großen Koalition" ohne die rechten wie linken Extreme Vox und Podemos wäre als "extreme Mitte" eine Kombination von PP, Ciudadanos und PSOE. Sie ist im Kern nichts anderes als der Ausdruck und Repräsentant der Kräfte des Status quo, die im Zuge der Krise an den Rändern durch die Abspaltungen von Podemos und Vox ausgefranst sind und sich über die dafür etablierte "rechte Protestpartei" Ciudadanos als "Scharnier" zwischen PP und PSOE neu organisieren. Zwar würde eine Neuformierung des Status quo in einer solchen extremen Mitte mit einer Politik des "Weiter so" die durch eben diese neoliberale Politik verursachte Krise und damit die politischen und gesellschaftlichen Extreme weiter verschärfen. Doch in der gegebenen politischen und medialen Konjunktur würde eher – und im Sinne des Status quo – die systemkonforme extreme Rechte gegenüber der tatsächlich systemkritischen Linken profitieren. Diese extreme Mitte hatte sich bereits zweimal abgezeichnet und präsentiert. Ein erstes Mal in der zwischen PSOE und Ciudadanos verabredeten Regierungsbildung nach den Wahlen 2015, die an der Ablehnung durch Podemos scheiterte. Und ein zweites Mal in der Minderheitsregierung der letzten PP-Regierung nach den Neuwahlen 2016, die nur durch die Enthaltung der PSOE (nach der durch die Parteigranden forcierten Absetzung ihres Vorsitzenden Pedro Sánchez) und die Unterstützung von Ciudadanos gebildet werden konnte – und die schließlich durch das erfolgreiche konstruktive Mistrauensvotum der PSOE (nachdem Pedro Sánchez die Parteibasis mobilisierte hatte und 2017 erneut Parteichef geworden war) mit maßgeblicher Unterstützung durch Podemos und die Parteien der baskischen und katalanischen Nationalisten scheiterte.
Zur Formierung und Etablierung dieser extremen Mitte laufen weiterhin hinter den Kulissen – sowie über die einschlägigen Medien begleitete – intensive maßgebliche Manöver ab, insbesondere in den dafür zentralen Formationen PSOE, Podemos und Ciudadanos (im Falle von Podemos geht es darum, den Widerstand gegen diese extreme Mitte zu schwächen bzw. zu zersetzen, etwa durch Spaltungen und Kooptationen in der Formation). Pedro Sánchez und seine Ausrichtung der PSOE sind für die Machtelite ein entscheidender Unsicherheitsfaktor. Zudem hat er mit seiner Wiederwahl zum Parteivorsitzenden erfolgreich bewiesen, dass er die für die politische Linke einzig verfügbare wirksame Kraft der Basis ihrer Anhänger und Wähler tatsächlich bereit und fähig ist zu mobilisieren. Zwar ist auch eine Regierung des rechten Blocks für die Kräfte des Status quo nicht unbedingt die bevorzugte Option. Denn die sich innerhalb dieses Blocks radikalisierende politische Dynamik in der "katalanischen Frage" – mit der Drohung der erneuten und dauerhaften Suspendierung der Autonomie Kataloniens und damit eines "permanenten Ausnahmezustandes" sowie der Gegenreaktion der katalanischen Seite – ist ebenfalls eine gravierende und möglichst zu vermeidende Belastung für die "politische und wirtschaftliche Stabilität", die die bereits bestehende tiefe Krise der spanischen Verfassungsordnung noch weiter verschärfen würde. Doch der eigentliche Gegner und Unsicherheitsfaktor des Status quo ist eine wirksame politische Linke, die wie in Portugal in der Lage wäre, mit gewissem Erfolg eine Politik gegen die neoliberale Reformagenda der letzten Jahre einzuleiten und damit ein Beispiel gegen die vermeintliche "Alternativlosigkeit" zu bieten (der zwischen der PSOE und Podemos verhandelte Haushaltsentwurf ging in diese Richtung und war ein entsprechendes "Alarmsignal", auch für die systemkonformen Granden der PSOE). Angesichts der volkswirtschaftlichen und politischen Dimension und Bedeutung Spaniens im Gefüge des internationalen Kapitalismus ("globale Finanzmärkte", EU, Eurozone) wäre eine solche portugiesische Option von den nationalen wie internationalen Machtzirkeln alles andere als erwünscht. Und angesichts der ganz besonderen spanischen Verhältnisse, der weiterhin lebendigen und tonangebenden Geister der Vergangenheit, des Faschismus und der Franco-Diktatur, in der spanischen Gesellschaft und im politischen und medialen Machtgefüge des spanischen Staates, ist der Widerstand gegen die politische Linke breit und tief verankert und damit massiv – und die Stimme der Vergangenheit à la Vox entsprechend dröhnend und bestimmend.
"Die Faschisten des dritten Jahrtausends"
Für aufmerksame Beobachter der spanischen Politik kommt all dies nicht aus heiterem Himmel. Angesichts einer Transparentaktion im Jahr 2016 in Madrid zitiert sich der Leiter des Hauptstadtbüros von La Vanguardia, Enric Juliana, in einem aktuellen Beitrag zum Krisenpanorama des Landes selbst:
Die Aktion wurde von Mitgliedern der Hogar Social de Madrid durchgeführt, einer Organisation, die sich vom neuesten Format des italienischen Neofaschismus, der Casa-Pound-Bewegung, inspirieren ließ (der Name erinnert an den US-amerikanischen Dichter Ezra Pound, einen begeisterten Bewunderer von Benito Mussolini). Casa Pound hat immer noch keine parlamentarische Vertretung, applaudiert aber oft dem neuen starken Mann Italiens, Matteo Salvini, dem Innenminister, der gern in einer Polizeijacke auftritt. 'Wir sind die Faschisten des dritten Jahrtausends', sagen sie.
'Ein Neofaschismus mit sozialem Akzent könnte aufkeimen, wenn sich das spanische politische System blockiert und die Stimme der von der Krise am stärksten Betroffenen übertönt wird. Nach Podemos, der Partei, die die Europäische Union, den Euro und die NATO-Mitgliedschaft akzeptiert hat, kann etwas ganz anderes kommen. Veränderungen können recht schnell und ohne Vorankündigung geschehen.'
Diese Zeilen im September 2016 zu schreiben, schien etwas gewagt zu sein. (Ich hatte diese Angst am Ende des Artikels). Heute indes womöglich weniger.
Zweieinhalb Jahre später ist das politische Geschrei ohrenbetäubend. Die aus dem Misstrauensantrag hervorgegangene Regierung hat Schwierigkeiten, ihren konkreten Entscheidungen (z. B. die Anhebung des Mindestlohns auf 900 Euro) in der öffentlichen Debatte Aufmerksamkeit zu verschaffen. Niemand weiß, ob die Haushaltsbudgets für 2019 verabschiedet werden können [deren Verabschiedung ist schließlich gescheitert, weshalb Sánchez vorgezogene Wahlen angesetzt hat]. Die soziale Krise heizt sich weiter auf. Der Protest der Taxifahrer erinnert uns langsam an die Bewegung der Gelbwesten in Frankreich [die Massenproteste in Barcelona und Madrid gegen alternative Fahrdienste wie Uber sind mittlerweile nach Teilerfolgen bzw. Aufgabe eingestellt]. Podemos, die Partei, die dem Protest Gehör verschafft und ihn ins Parlament geführt hat, befindet sich jetzt in einer erbärmlichen Krise, mit starker persönlicher Schlagseite. Carles Puigdemont, der katalanische Verfechter der Legitimität, ruft aus Brüssel das 'illegitime' spanische Verfassungsgericht zu einer Entscheidung über das katalanische Parlamentspräsidium mit einer Mehrheit der Separatisten an [um gegen den faktischen Entzug seines Stimmrechtes als Abgeordneter im katalanischen Parlament vorzugehen, das er wegen Abwesenheit nicht persönlich wahrnehmen kann]. Ciudadanos, die sagen, dass sie den liberalen Emmanuel Macron bewundern, verbünden sich mit der extremen Rechten in Andalusien. Und die PP fürchtet jetzt, von Vox überwältigt zu werden, einer trumpianischen Truppe mit faschistischen Verkrustungen.
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(*) "Es ist wahr, dass das gesellschaftliche Sein das ist, was gewesen ist, aber auch das, was einmal gewesen ist, für immer nicht nur in die Geschichte, was sich von selbst versteht, sondern in das gesellschaftliche Sein, in die Dinge und auch die Körper eingeschrieben ist. Die Vorstellung einer offenen Zukunft mit unbegrenzten Möglichkeiten hat verdeckt, dass jede neue Wahl (und seien es auch die nicht getroffenen des Laisser-faire) das Universum der Möglichkeiten weiter einschränkt oder genauer, das Gewicht der in den Dingen und den Körpern instituierten Notwendigkeit anwachsen lässt, mit der eine Politik rechnen muss, die auf andere Möglichkeiten und insbesondere auf die sukzessive ausgeschlossenen gerichtet ist. Der Prozess der Instituierung, der Etablierung, d.h. die Objektivation und Inkorporation als Akkumulation in den Dingen und den Körpern eines ganzen Ensembles von historischen Errungenschaften, die den Stempel ihrer Produktionsbedingungen tragen und die Tendenz haben, die Bedingungen ihrer eigenen Reproduktion zu erzeugen (schon durch den Effekt der Bedürfnisweckung, den ein Gut allein durch seine Existenz ausübt), negiert in einem fort alternative Möglichkeiten. In dem Maße, wie die Geschichte voranschreitet, werden diese Möglichkeiten unwahrscheinlicher, ihre Verwirklichung schwieriger, weil ihr Übergang ins Dasein die Vernichtung, Neutralisierung oder Rückverwandlung eines mehr oder minder großen Teils des geschichtlichen Erbes, das auch Kapital ist, zur Voraussetzung hätte. Selbst diese Möglichkeiten überhaupt zu erkennen, wird schwieriger, aus dem Grund, weil die Denk- und Wahrnehmungsschemata stets das Produkt zu Dingen gewordener früherer Entscheidungen sind. Jede Aktion, die darauf abzielt, dem Wahrscheinlichen, d.h. der in die bestehende Ordnung objektiv eingeschriebenen Zukunft, das Mögliche entgegenzusetzen, muss mit dem Gewicht der verdinglichten und inkorporierten Geschichte rechnen, die wie in einem Alterungsprozess dazu tendiert, das Mögliche auf das Wahrscheinliche zu reduzieren." (Pierre Bourdieu – Der Tote packt den Lebenden)
RT Deutsch bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.
Mehr zum Thema - 40-jähriges Verfassungsjubiläum in Spanien: Ein Grund zum Feiern?
Weiterführende Informationen
Liberale Gesellschaftsordnung / Neoliberalismus
- The Century of the Self – Documentary, Part I / Part II / Part III / Part IV
- The Corporation – Documentary
- Manufacturing Consent – Documentary
- The Spider's Web: Britain's Second Empire – Documentary
- Michael Hudson – Interview from The Spider's Web Documentary
- The History of Neoliberal Economics / Michael Hudson
- ON CONTACT: A History of Neoliberalism, Part I / Part II
- Economic Update: Capitalism, Changed by its Contradictions – Richard D. Wolff
- Kapitalismus: Videos - Kapitalismus - Wirtschaft - Gesellschaft - Planet Wissen
- Der Fehlende Part: Rainer Mausfeld zu den "Gelbwesten", Neoliberalismus, Migration und Elitendemokratie
- Der Fehlende Part: Der Markt regelt gar nichts – Prof. Heinz-Josef Bontrup im Gespräch
- Der Fehlende Part: "Die Menschen wollen in Ruhe gelassen werden" – Fritz R. Glunk zu Demokratie und Souveränität
- Der Fehlende Part: "Kritik der Migration" – Österreichischer Historiker Hannes Hofbauer im Gespräch
- Interview mit Prof. Heiner Flassbeck: Brexit, Budgetstreit, Gelbwesten-Proteste – Teil 1 / Teil 2
- Die EU als Dystopie
- Transatlantischer Elitenfaschismus und Tiefer Staat
Spanien
- "Spain: Engañados e intervenidos" – Documental / Versión resumida
- Joan Garcés – Entrevista sobre soberanía e intervención – ejemplo Chile e España
- Las cloacas de Interior – Documental
- Iñaki Gabilondo: "Vox es el franquismo, exactamente lo que nos quisimos quitar de encima"
- Sobre el juicio al procés (I) / (II) / (III) / (IV)
- Spanien und seine franquistische Vergangenheit – Das Tal der Gefallenen
- Spanien: Von Diktatur, Geopolitik und der Krise der Parteiendemokratie – Teil 1 / Teil 2 / Teil 3
- Der große Fehler der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung
- Weshalb die Rechten und viele der Linken nicht verstehen oder nicht verstehen wollen, was in Katalonien geschieht
- Die Probleme und Fehler der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung
- Über den Irrsinn der Aufspaltung und der sogenannten Unabhängigkeit