von Gert Ewen Ungar
Am 16. November des vergangenen Jahres veröffentlichte der ukrainische Künstler Max Barskih das Lied "Berega", das im russischsprachigen Raum sofort zum Hit wurde. Berega ist ein trauriges Lied, ein Abschiedslied. Es geht um eine gescheiterte Liebe. Man hat sich auseinandergelebt - endlos weit. Man lebt an getrennten Ufern, nichts verbindet mehr, selbst die Sterne scheinen nur noch für andere. Es ist absolut hoffnungslos, fatal. Man hat sich schon lange nicht mehr in die Augen gesehen, lebt einfach in unterschiedlichen Welten. Sehenswert ist auch der Clip dazu:
Ganz in der Ästhetik von Unterhaltungssendungen der 80er Jahre gehalten, ist er in allen Details durchkomponiert. Ab Minute 2:10 sieht man Max Barskih in einem gelben Anzug, darunter trägt er einen hellblauen Rollkragen-Pullover. Die Farben der ukrainischen Flagge! Und mit diesem Bild öffnet das traurige Abschiedslied unmittelbar das Fenster in eine weitere Bedeutungsebene. Plötzlich ist es politisch. Die tanzenden Frauen - alle von ausgesuchter Schönheit - werden zu russischen Mutter-Heimat-Figuren, die sich hochästhetisch die Augen ausweinen - vor Sehnsucht nach der sich trennenden Ukraine. Gleichzeitig zeigt die Ukraine damit ihr derzeit wahres Gesicht - es ist eine Fratze. Pop-Kultur in ihrem besten Sinne, als politische Botschaft, als zeitgeschichtliche Analyse.
Wer glaubt, in Zeiten der politischen Aufladung gebe es Bereiche, die sich dem Politischen entziehen können, täuscht sich wieder einmal. Man muss es aktiv thematisieren, denn sonst wird man eben passiv davon heimgesucht. Max Barskih erkennt das ganz richtig und nimmt sich des ungeliebten Themas an. Beim Eurovision Song Contest dagegen erkennt man das nicht. Denn "Politisches" kommt wie eine Heimsuchung über ihn.
Als durchaus politisches Event erdacht, das eigentlich durch Betonung des Unpolitischen das Zusammenwachsen aller Länder Europas befördern wollte und sollte, ist er inzwischen seit Jahren immer stärker zu einem hochpolitischen Event geworden, an dem sich nun auch der sich zunehmend verschlechternde Zustand Europas als Ganzes ablesen lässt.
Ein Motor, der diese Politisierung treibt, ist die in einer tiefen Krise verharrende Ukraine. In ihr werden von Menschen die Gräben am deutlichsten und tiefsten wieder aufgerissen, die Europa knapp dreißig Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges und 75 Jahre nach Ende des letzten Weltinfernos erneut trennen sollen. Dort wird wieder der Eiserne Vorhang geistig wie mit Waffen dicht gemacht. Massive Zensur, öffentliche Listen von "Staatsfeinden", Einreiseverbote für ganze soziale und politische Gruppen von Menschen, Bedrohung und Ermordung von einfach nur unabhängig berichtenden Journalisten, Bürgerkrieg ohne absehbaren Ausweg. All dies sind neben dem ökonomischen Niedergang des Landes deutliche Signale für eine wahrlich existentielle Krise, die im Inneren weiter wächst, die aber mit Schuldzuweisungen schamlos externalisiert wird. Der Feind ist Russland, der Agressorstaat, wie es unter Vermeidung der Nennung des Namens in der Ukraine mittlerweile oft heißt. Die Ukraine ist blind geworden gegenüber sich selbst und seinen eigenen Wurzeln, das herrschende politische Establishment befördert Hass und Misstrauen nach Kräften.
Zu spüren bekam das jetzt auch MARUV, als Gewinnerin der Vorentscheidung des ukrainischen Fernsehens. Von der Überzahl der Zuschauer gewählt, die Ukraine beim größten Schlager-Wettbewerb der Welt zu vertreten, versuchte der Sender durch einen Knebelvertrag MARUV den Mund zu verbieten. Sie sollte zudem auch jegliche Auftritte in Russland absagen. Das wirft auch für ein sich selbst als unpolitisch verstehendes Publikum ein deutliches Schlaglicht auf den Zustand der Ukraine. Die Kunst ist dort keineswegs frei. Auf der einen Seite ein politisches Establishment, das alle Verbindungen zu Russland zerschneiden möchte, das kürzlich dafür das Ziel der NATO- und EU-Einbindung sogar in die Verfassung des Landes schreiben durfte. Auf der anderen Seite die Lebenswirklichkeit der Ukrainer, die nach wie vor eng mit Russland und der russischen Kultur verwoben ist. Der Pop ist da keine Ausnahme - im Gegenteil.
Man mag MARUV für eine Heldin des Widerstandes gegen ein wild um sich schlagendes, nationalistisches Establishment halten. Man mag den zweit- und drittplatzierten Bewerbern ebenfalls edle Motive unterstellen, da auch sie sich weigerten, anstelle von MARUV in Israel anzutreten. Vermutlich ist das allerdings nicht die ganze Wahrheit. Denn hinzu kommt schlicht die weitere Wahrheit, dass es für Pop aus der Ukraine nur einen Markt gibt: den Russischen.
Naturgemäß gibt es immer wieder Versuche, sich einen Platz in den Charts des Westens zu erobern, aber alle diese Versuche sind bisher weitgehend gescheitert. Die ehemaligen ukrainischen Repräsentantinnen beim ESC, Switlana Loboda und Ani Lorak, haben es auf Englisch versucht, kamen aber - wie viele vor ihnen - nicht gerade weit. Wie in vielen anderen Bereichen auch, ist der Musik-Markt im Westen hermetisch abgeriegelt, oder besser gesagt: in festen Händen einer Vermarktungsmaschinerie. Freier Wettbewerb ist da keinesfalls gewünscht.
Zudem genießt der ESC bei uns keineswegs den Status, den er im Osten Europas genießt. Die Teilnehmer verschwinden bei uns nach der Teilnahme in der Regel wieder in der Bedeutungslosigkeit, in Osteuropa, vor allem aber in Russland ist das anders. Einen Beitrag beim ESC platziert zu haben, ist oft ein Einstieg oder ein erster Höhepunkt in einer steilen und durchaus auch dauerhaften Karriere.
Man kann der Ukraine vorwerfen, den ESC politisch zu instrumentalisieren. Es ist allerdings die Frage, ob es denn anders geht. Die Frage ist, ob die Ukraine aktuell überhaupt die Chance zu einem unpolitischen Statement im Sinne des Eurovision Song Contests hätte. Die Ukraine wurde - nicht nur von innen - in eine Situation gebracht, in der alles zu Politik gerinnt. Das Land wurde durch die EU vor die Frage gestellt: "Wir oder die?" Die Entscheidung darüber hat das Land zerrissen, und diese Zerrissenheit spiegelt sich im Alltag wider.
Während sich ein Teil der Ukrainer in einem Krieg gegen Russland sieht, jeden Moment den Einmarsch russischer Truppen erwartet und bereit ist, für eine in den Westen eingebundene Ukraine zu kämpfen und auch zu sterben, ist für einen anderen Teil das Abenteuer der Ausrichtung nach Westen längst gescheitert und bereits traurige Geschichte.
Die Sehnsucht nach einem wieder ganz normalen, nicht bis in alle Ritzen politisierten Leben nimmt zu. Die Wahl MARUVs ist Ausdruck dieser Sehnsucht. Die Verhinderung der Teilnahme aber durch unannehmbare Bedingungen, diktiert vom ukrainischen Fernsehen, zeigt den Unwillen, solche Sehnsüchte in der Bevölkerung zu befriedigen.
Das Ergebnis zeigt sich nun in der Vorauswahl zum ESC. Die Ukraine ist faktisch handlungsunfähig. Die Ukraine schafft es nicht, ein Lied für einen Schlagerwettbewerb auszuwählen. Auch dieses Scheitern sagt viel aus. Sie ist inzwischen in allen vitalen Bereichen unfähig, in der Realität umsetzbare Entscheidungen zu fällen und tragfähige Kompromisse im Interesse aller ihrer Bürger zu finden. Sie agiert ausschließlich ideologisch und dogmatisch. Die inneren Mechanismen des Ausgleichs, die durch einen breiten gesellschaftlichen Diskurs zu relevanten Themen in Gang gesetzt werden könnten, sind ausgeschaltet. Politische Vernunft liegt verschüttet unter dem gezüchteten Hass gegen den großen Nachbarn, flankiert vom damit einhergehenden engstirnigen Nationalismus.
Mit dieser irrationalen Entwicklung ist die Ukraine in Europa heute keineswegs alleine, davon sind nahezu alle Staaten der EU zunehmend betroffen. Doch am radikalsten vollzieht sich wohl derzeit dieser Niedergang - rational gesteuert - in der Ukraine. Dieser Niedergang der politischen Vernunft befördert aber ungewollt gleichzeitig auch ihren ökonomischen Niedergang. Das macht die dumpfe Resignation aus, die man in der Ukraine spürt, genau das macht sie zu einem gescheiterten Staat. Die Vorauswahl zum Eurovision Song Contest macht diesen Zustand permanenten Scheiterns nun auch für dieses breite Publikum sichtbar.
Der Druck auf ukrainische Künstler, sich zu positionieren, ist immens groß. "Wir oder die", heißt auch hier die Losung. Doch mit der Abkehr von Russland fordert man im Grunde auch den wirtschaftlichen Selbstmord der Musiker. Auch das ist typisch für den aktuellen Zustand, denn auch die Ukraine als Land begeht gerade ökonomischen Selbstmord. Die völlige Selbstauslieferung an die EU, der politisch denkbar unkluge Weg, sich keinerlei andere Option offen gehalten zu haben, die völlig einseitige Ausrichtung auf diese EU wird der Ukraine keinen Aufschwung mehr bringen. Die EU ist selbst im Zerfall begriffen, daher dazu aktuell gar nicht in der Lage, die Ukraine zu integrieren. Dazu kommt, dass das geopolitische Agieren der EU ohnehin nicht einem Angleichen der Wohlfahrt aller Völker und Nationen dient, sondern lediglich der profitmaximierenden Ausbeutung durch Kapitalexport oder Import noch billigerer Arbeitskräfte als Zuhause oder beides - ganz nach Bedarf.
Die Menschen in der Ukraine merken das zunehmend. Die Ukrainer müssen nur einen Blick auf die Krim werfen, um zu verstehen, was zuhause schief läuft. Dort wächst trotz Sanktionen der Wohlstand, dort geht es wirtschaftlich bergauf, während die Ukraine - trotz oder gerade wegen Unterstützung aus dem Westen - ökonomisch am Boden liegt. Sogar die Grundversorgung ihrer Bürger kann sie in vielen Bereichen nicht mehr gewährleisten. Schulen und öffentliche Gebäude bleiben ungeheizt, Renten und Pensionen werden gekürzt, die Löhne sinken, der Sozialstaat wird auf Geheiß des Westens geschliffen, breite Bevölkerungsteile verarmen.
Kein ukrainischer Künstler kann es sich leisten, auf Russland zu verzichten, es sei denn, er möchte wie die Gewinnerin des Jahres 2016 Jamala ausschließlich für ein dumpf-nationalistisches Publikum singen. Doch auch dieser Nischenmarkt ist nicht nur abgegrenzt, sondern auch klein und überschaubar, räumlich und hoffentlich auch zeitlich. Es können nicht alle ukrainischen Pop-Stars gleichzeitig im Besingen von Nationalismus ihr Auskommen finden.
Am Ende des Videos "Berega" gibt es Eigenwerbung für ein weiteres Lied von Max Barskih. Der Lied heißt "Nesemnaja", die Überirdische. Es ist gleichsam der Gegengesang zu Berega, ein Lied über eine überirdisch starke Liebe, das Bekenntnis, in der eigenen Bedeutung durch die Liebe des anderen aufgehoben zu sein. Es geht um eine tiefe, seelische Zusammengehörigkeit. Das Lied wurde am 14. Februar im russischen Ersten Kanal vorgestellt. Dass beide Songs zusammengehören, wird schnell klar, denn es sind - in einem aufgeklärten Sinne - patriotische Lieder, indem sie das Spannungsfeld in der Ukraine zeigen. Die Ukraine findet für sich im Moment keine lebenserhaltende Lösung. Es wäre Aufgabe einer verantwortungsvollen Politik in und für Europa, der Ukraine dabei zu helfen, zurück zu ihrer geopolitische Bestimmung zu finden. Diese Bestimmung war, ist und bleibt der Brückenschlag. Die allein machtpolitisch diktierte Alternative "Wir oder die?" war ein historischer Fehler enormen Ausmaßes, unter dem die Ukrainer heute leiden. Diesen Fehler gilt es zu beheben. Dann wird es auch wieder schöne unpolitische Lieder als Beiträge der Ukraine beim ESC geben können.
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