von Zlatko Percinic
Die Redakteure der New York Times sind keine Freunde von subtiler Sprache. In ihrer Polemik zur Verteidigung der NATO machen sie bereits in der ersten Zeile klar, wohin die Reise gehen soll. "Die Idee, dass die Vereinigten Staaten aus der NATO austreten könnten, ist surreal."
Sollten nach dieser Einleitung noch etwaige Zweifel über die Richtung des Artikels offen geblieben sein, werden diese spätestens im nächsten Abschnitt beseitigt:
Die Allianz, die jetzt 29 Länder umfasst, ist seit sieben Jahrzehnten die Grundlage für transatlantische Stabilität und Prosperität. Sie hält weiterhin ein räuberisches Russland in Schach und vermindert die Gefahr, dass amerikanische Soldaten wieder auf europäischem Boden kämpfen müssen.
Ein räuberisches Russland? Das mag die Russophoben in den USA und Europa ansprechen und ihr Weltbild bestätigen, aber als sachliche Argumentation für den Verbleib der Vereinigten Staaten in der NATO taugt diese krude Behauptung nicht viel. Ebenso wenig wie die faktenfreie Darstellung der sieben Jahrzehnte währenden "transatlantischen Stabilität und Prosperität". Spätestens mit der NATO-Bombardierung der damaligen Bundesrepublik Jugoslawien 1999 und der Errichtung eines Protektorats – einschließlich eigener Besatzungstruppen – im Kosovo hat die transatlantische Allianz ihre Unschuld verloren.
Während Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen in ihrem Aufruf zur Verteidigung der NATO vergangene Woche eine europäisch-deutsche Sicht darbot, machten sich die Redakteure der New York Times bei ihrem Artikel erst gar nicht diese Mühe. Von der Leyen bemühte sich mit Bauchpinselei, die US-Amerikaner zum Verbleib im Bündnis zu bewegen. Sie sprach von den "besonderen, sogar emotionalen Banden zwischen dem amerikanischen und europäischen Kontinent" und vom "Wert der NATO an und für sich". Auch Generalsekretär Jens Stoltenberg fand bei seinem Besuch in Washington am 28. Januar nur lobende Worte. Der "US-Führung fällt eine Schlüsselrolle in der NATO zu", meinte Stoltenberg.
Die New Yorker Kollegen sprachen aber wenigstens aus, warum ein Austritt der USA eine schlechte, ja sogar "surreale" Idee ist. Es geht um Machtpolitik und Einflussnahme auf europäische Politik. Durch einen Austritt würde man sich der Pfründe beraubt fühlen, die Washington seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa kultiviert hatte. Im Artikel heißt es dazu:
Es scheint offensichtlich zu sein, dass ein Austritt aus der NATO ein außenpolitisches Debakel werden würde, (er den) amerikanischen Einfluss in Europa untergräbt und Wladimir Putin, den russischen Führer, der die NATO schwächen will, ermutigt, seinen politischen und militärischen Einfluss auszuweiten.
Kein Wort von den "besonderen, sogar emotionalen Banden zwischen dem amerikanischen und europäischen Kontinent", die von der Leyen noch bemüht hatte. Kein Wort von den durch Unsicherheit vor dem "räuberischen Russland" geplagten Befindlichkeiten der baltischen Länder und Polens, die durch die ihnen eigene antirussische Rhetorik in der Politik nur weiter befeuert wird. Nein, es geht einfach nur um Einfluss.
Das wird auch in der aktuellen National Intelligence Strategy 2019 der USA deutlich. Darin wird von "traditionellen Gegnern" gesprochen, die "weiterhin versuchen werden", im internationalen Umfeld "Einfluss zu erhalten und auszuüben". Das gilt insbesondere für Russland, das versuchen wird, "seinen Einfluss und seine Autorität zu erhöhen", die "wahrscheinlich mit US-Zielen und Prioritäten in multiplen Regionen im Konflikt stehen". Dasselbe gilt auch für den Iran und China, die ebenso US-Interessen "gefährden", wie auch die "Demokratisierung des Weltraums" eine "Herausforderung" für die USA darstellt.
Dass die Europäer diese Einschätzung der kühlen Machtpolitik Washingtons – zumindest offiziell – nicht wahrhaben möchten, ist nachvollziehbar. Sie haben sich bisher der Formel verschrieben, dass die USA für ihre Sicherheit sorgen werden, solange sich die europäischen NATO-Länder der US-Politik beugen, auch wenn sie manchmal gegen die nationalen Interessen der einzelnen Länder verstößt. Steigt Washington aber aus dem transatlantischen Bündnis aus, müssten die Europäer zum ersten Mal seit sehr langer Zeit wieder Verantwortung übernehmen und ihre bisherige Politik überdenken.
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