von Günther Hirsch
Man stelle sich vor, es wäre Anfang der 1970er Jahre, als die USA ihre letzten Fässer mit Agent Orange in B52-Bomber verluden, um sie über Vietnam und Laos zu versprühen. Und in Europa würden hunderttausende vietnamesische Flüchtlinge, gerettet von den Booten einiger Hilfsorganisationen, auf abenteuerlichen Routen, oder auf welchem Wege auch immer, eintreffen.
Sicherlich wären auch damals die Flüchtlinge aufgenommen worden, mit mehrheitlich großer Anteilnahme der Bevölkerung. Aber die Menschen würden nicht, wie heute, auf die Straße gehen, um mehr Freizügigkeit für die Flüchtlingsströme zu fordern. Sie hätten sicher auch besseres zu tun, als vornehmlich gegen jene zu demonstrieren, denen der massenhafte Zuzug nicht passt. Und sie würden auch nicht an den Bahnsteigen stehen, um die Geflüchteten mit Teddybären und Kaltgetränken jubelnd zu begrüßen. Denn wahrscheinlich wäre nicht Jubel das dominierende und angemessene Gefühl, sondern Zorn. Das alles beherrschende Thema der Empörung wäre die Fluchtursache selbst, nämlich dieser mörderische Krieg in Vietnam!
Die Menschen würden, hätten wir den politischen Geist der 70er Jahre, massenhaft auf die Straßen gehen, um gegen die US-amerikanische Aggression zu protestieren – und zwar Gesinnungen aller Couleur gleichermaßen. Nicht nur Linke, auch die Grünen, die Sozis, die Kirchen und Gewerkschaften – gemeinsam. Und ich vermute, auch einige der heutigen "Wutbürger" und Pegidisten wären angesichts des augenfälligen Unrechts mit unter den Antikriegs-Protestlern.
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Heute hingegen scheint die öffentliche Diskussion und Berichterstattung sich dem allzu evidenten Zusammenhang zwischen Krieg und Flucht hartnäckig zu verweigern. Dabei könnte der Fall klarer kaum sein: Ohne die US-amerikanischen Angriffskriege gegen Afghanistan, Irak oder Libyen und ohne die Unterstützung der Islamisten in Syrien gäbe es keine Flüchtlingsströme aus diesen Ländern. Dies ist so offenkundig, dass man darüber nicht reden kann, ohne in einen unlösbaren Konflikt und eine schwere kognitive Dissonanz mit jener eventartigen Willkommenskultur zu geraten, wie sie viele Medien gefeiert haben. Und so erleidet die öffentliche Auseinandersetzung eine Art Diskursallergie. Auf den Podien von Anne Will oder Maybrit Illner heißt es, wenn doch mal jemand die Kriegs-Vorgeschichte der Flüchtlingsströme ins Gespräch bringt, regelmäßig: "Das können wir an dieser Stelle nicht klären. Das würde zu weit führen. Dafür brauchten wir eine eigene Sendung."
Aus den Verbrechen des Westens entsteht heute nicht Wut auf die Ursachen und Verursacher, sondern ein eigenartiges und überschwängliches Jubelfest der eigenen Philanthropie. Eine Art Sommermärchen voller rührender Anekdoten. Und das ist auch der Boden, aus dem dann Social-Fantasy-Storys wie die des Claas Relotius gedeihen. Warum aber stellt kaum einer die Frage, wer zum Teufel eigentlich die Verantwortung für die mörderischen Kriege trägt und was die Conclusio daraus wäre? Und wie ausgelassen oder angemessen feiert man den Einzug von Waisenkindern, wenn man für den Tod ihrer Eltern mitverantwortlich ist?
Die mediale Emotionalisierung des Sujets lässt dabei selbst ansonsten hochanständige, integre und verdienstvolle einstige "Schwerter zu Pflugscharen"-Aktivisten den Zusammenhang zwischen Krieg und Flucht völlig ausblenden. Ebenso die Frage nach der ursächlichen Verantwortung der USA und der NATO – und durch die deutsche Beteiligung an den Kriegseinsätzen auch die eigene. Selbst die völlige Auflösung des Völkerrechts wird bei diesen Einsätzen ohne UN-Mandat einfach achselzuckend hingenommen.
"Soll der Westen tatenlos zusehen, wie Menschen im mittleren Osten von fanatischen Islamisten abgeschlachtet werden?", lautet dann gelegentlich die Frage. Nun ist es bloß so: Wir haben diese Islamisten selbst geschaffen und finanziert. "We have created and funded Al-Qaeda", sagt Hillary Clinton in diesem Video. Dies gilt ebenso für die Taliban und Al-Nusra, wofür wir mit Zbigniew Brzeziński und John Kerry gewichtige Zeugen aufrufen können.
Hat in den letzten Wahlkämpfen des vergangenen Jahres jemand die Grünen von den weltweiten Kriegen reden hören? Vom Krieg als den wirklichen Vater aller Probleme? Bereitet nicht der Krieg, neben seinem gigantischen Mordwerk, auch die verheerendsten Umweltkatastrophen? Ganze Landstriche verseucht mit Uranmunition, die Missbildungen über viele Generationen verursachen. Mienenfelder und Streubomben, die Kindern die Gliedmaßen wegreißen. Von weißem Phosphor verseuchte Böden und Ernten. Von brennenden Ölfeldern verpestete Landschaften. Es gibt wohl keine effizientere Methode, die Umwelt eines Landes in kürzester Zeit derart gründlich und nachhaltig zu zerstören, als den Krieg.
Stattdessen spricht man nicht nur bei den Grünen euphemistisch von einer zunehmenden Zahl von Umwelt- und Klimaflüchtlingen und tut ansonsten so, als seien die Fluchtursachen eine Art Naturkatastrophe. Wie wenige Klimaflüchtlinge mögen das sein, neben denen, die wegen der von den USA inszenierten Regime Changes und Interventionskriege flüchten – aus Syrien, Libyen, Afghanistan oder dem Irak. Weit mehr als die Hälfte aller Kriegsflüchtlinge kamen 2015 aus just eben jenen Ländern, denen USA und NATO seit Jahren mit ihren Interventionen zuvor die Hölle bereitet haben.
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Es ist bisher nicht gelungen, nachgewiesene Kriegsverbrechen im Irak, im Kosovo, in Afghanistan oder in Libyen vor den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zu bringen. Nicht wegen Abu Ghraib, nicht wegen Mossul, nicht wegen Guantánamo oder Kundus oder irgendeinen der anderen Orte des Grauens US-amerikanischer und NATO-betriebener Kriegsverbrechen.
Nach dem Jugoslawientribunal wandte sich der ICC vornehmlich Kriegsverbrechen in Afrika zu. Gegen 39 Personen, Generäle und Politiker, sämtlich aus afrikanischen Staaten, hat der Internationale Strafgerichtshof bis heute Ermittlungen aufgenommen. Keine einzige Person aus einem anderen Teil der Welt ist bislang betroffen.
Ein Untersuchungsbericht für das britische Parlament, mit dem Aktivisten Tony Blair vor den Internationalen Strafgerichtshof bringen wollten, stellte fest: Tony Blair hatte die Nation angelogen und sie unter Angabe falscher Gründe in den Irakkrieg geführt. Aber es sei "from his perspective and standpoint, emotionally truthful", also aus seiner Perspektive und seiner Sicht emotional wahrhaftig gewesen. Auf sowas muss man erstmal kommen. Und als ob das dann nicht auch für jeden anderen Kriegsverbrecher gelten würde.
Im extra3-Jahresrückblick vom 19.12.2018 ließ man Gott den Zustand der gegenwärtigen Welt beklagen. "Ihr habt meine Schöpfung zu einer Müllhalde gemacht", sagt dieser. Die Menschen hätten die Luft verpestet, die Meere verschmutzt, betrieben noch immer Atomkraftwerke und die USA seien auch noch aus dem Klimaabkommen ausgestiegen. Über die seit vielen Jahrzehnten von den westlichen Koalitionen angezettelten weltweiten Kriege verlor dieser Gott kein Wort. Kriege scheinen für diese Art der kritischen Weltbetrachtung nicht der Rede wert zu sein.
Dieses Ausblenden des eigentlichen Verursachers des weltweiten Flüchtlingselends in den Diskussionen ähnelt dem Verhalten der humanistischen Töchter, welche sich rührend um die misshandelten Familienmitglieder oder um die tyrannisierten Nachbarskinder kümmern, aber es nicht wagen, den Vater, das eigene Familienoberhaupt, als den Täter zu benennen.
Ein Verhalten, das die Vergehen der eigenen Sippe bagatellisiert oder verdrängt, um die Stammesintegrität zu wahren und die eigene Komplizenschaft mit humanistischer Geste zu kaschieren, mag im persönlichen Bereich ja durchaus allzu menschlich sein. Im intellektuellen und politischen Diskurs jedoch ist es, wenn nicht naiv, so zynisch wie eine Waisenhäuser stiftende Diktatorengattin, oder schlicht und einfach Chauvinismus – und ermöglicht den Geostrategen im Schatten dieser medialen und politischen Umnachtung unmittelbar die Vorbereitung weiterer Kriege. Diesmal vielleicht gegen den Iran, mit vielleicht wieder abertausenden von Flüchtlingen über die Route Türkei, Griechenland... Und wir feiern dann wieder deren glückliche Ankunft? Ich würde sagen: die Flüchtlinge menschenwürdig aufnehmen – ja, unbedingt. Die zunehmenden Flüchtlingsströme aber als solche zu begrüßen, wie etwa Katrin Göring-Eckardt ("ich freue mich drauf") – nein. Die Menschen haben um diese Kriege, vor denen sie fliehen, nicht gebeten.
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