Von Thomas Schwarz
Eine neue Entspannungspolitik gegenüber Russland wäre für die bundesweit auf 15 Prozent abgestürzte SPD eine echte, möglicherweise die letzte Chance, Wähler zu mobilisieren. Nachdem die Partei auf dem Gebiet der Sozialpolitik ihre Glaubwürdigkeit verloren hat, könnte sie immerhin noch auf das reiche Erbe Willy Brandts und seiner Ostpolitik bauen. Umfragen belegen schließlich eine große Sehnsucht der Deutschen nach einer Freundschaft zu Russland. Auch zeigen die empörenden Äußerungen des US-Botschafters Richard Grenell, wie weit die Zerrüttung der deutsch-amerikanischen "Freundschaft" bereits fortgeschritten ist. Dazu kommt, dass die SPD den Außenminister stellt und dadurch theoretisch sehr einfach und sehr wirkungsvoll öffentliche Akzente setzen könnte.
Die außenpolitische Selbstzerstörung des SPD
Doch die Sozialdemokraten bewegen sich außenpolitisch in selbstzerstörerischer Weise in die entgegengesetzte Richtung und setzen beharrlich auf das falsche, das transatlantische Pferd.
So berichtet die Tagesschau: "Außenminister Heiko Maas verfolgt seit seinem Amtsantritt eine Außenpolitik, die sich von seinen SPD-Vorgängern absetzt." Die NachDenkSeiten schreiben dazu: "Das erinnert schmerzlich an die rätselhafte Entscheidung der SPD, den Russland im Vergleich zu Maas stärker zugewandten und unter anderem darum beliebten Sigmar Gabriel durch einen mutmaßlichen Transatlantiker wie Maas zu ersetzen. Der im letzten Jahr aufkeimende Unmut an der SPD-Basis über den Konfrontationskurs gegenüber Russland wurde bisher leider nicht in personelle und konzeptuelle Änderungen umgesetzt."
Besonders problematisch scheint dabei – neben Außenminister Heiko Maas – die Personalie des außenpolitischen Sprechers der SPD-Fraktion Nils Schmid zu sein. Der legte Russland kürzlich eine ganze Liste mit "Forderungen" des Westens vor: eine "regelbasierte Ordnung", die "Wahrung von Menschenrechten", "faire Wahlen" und "Demokratie". Schmid folgerte, "all das" – also in Russland angeblich fehlende Menschenrechte, Wahlen und Demokratie – verbiete "einen verklärenden Blick auf Russland".
SPD: Arrogante Moralpredigten für Russland
Doch die außenpolitische Verwirrung der SPD geht noch tiefer, wie nochmals die NachDenkSeiten ergänzen: "Die Diffamierung Russlands durch führende SPD-Politiker erschöpft sich nicht in solchen allgemeinen Moralpredigten. Die Sozialdemokraten fühlen sich aktuell auch aufgefordert, in konkreten Fragen gegen die Russen zu argumentieren." So verortet Heiko Maas laut Medien die alleinige Verantwortung für das Ende des INF-Vertrags in Moskau und stützt damit die unhaltbare NATO-Position zum Thema: "Russland habe noch eine 'letzte Chance', um den INF-Vertrag einzuhalten, den nur Russland, aber nicht die USA verletzt habe", zitiert Telepolis Verantwortliche des "Verteidigungsbündnisses".
Auch auf seiner aktuellen Russland-Reise wollte Maas von dieser Arroganz nicht lassen und wies Russland abermals die Verantwortung für das voraussichtliche Scheitern des INF-Vertrags zu, wie die Tagesschau berichtet: "Bundesaußenminister Heiko Maas hat bei seinem Besuch in Moskau eindringlich an Russland appelliert, im Streit über das Verbot atomarer Mittelstreckenraketen einzulenken: 'Wir sind der Auffassung, dass Russland den Vertrag retten kann'."
Diesem einseitigen und darum taktisch verheerenden Standpunkt stellt sich etwa der Geschäftsführer der "NaturwissenschaftlerInnen-Initiative", Pascal Luig, entgegen:
"Abrüstung und der Gedanke der gemeinsamen Sicherheit erfordern aber keine einseitigen Schuldzuweisungen, sondern Angebote zum Dialog und Vertrauen in geschlossene Abkommen. Propagandistische Anklagen helfen nicht weiter und lenken von den wahren Motiven ungehemmter Aufrüstung ab. Die Bundesregierung täte gut daran, auf beide Seiten zuzugehen und zu vermitteln."
LINKE reicht Russland die Hand
In diesem Zusammenhang ist darum die klare Haltung der Linksfraktion im Bundestag zur Rückkehr der russischen Delegation in den Europarat zu begrüßen: Die Entscheidung der russischen Staatsduma, keine Delegation zur Wintersitzung der Parlamentarischen Versammlung des Europarates zu entsenden, sei "das Spiegelbild zu den Versuchen antirussischer Hardliner in der Versammlung, eine Rückkehr der Delegation zu verhindern". Nach wie vor bestünde "die Gefahr massiver Einschränkungen für eine mögliche russische Delegation, die von russischer Seite nicht akzeptiert werden" könnten, so die LINKE.
Wohin sich allerdings trotz solcher Appelle die Realpolitik – in Form von Bundeswehr-Papieren – bewegt, stellt "Justice Now" unter der Überschrift "Rüstung gegen Russland" klar: "Deutschland soll künftig nicht nur am Hindukusch und in der Sahelzone, sondern zudem auch wieder in Osteuropa 'verteidigt' werden. Niedergeschrieben ist dies in den neuesten Strategiepapieren der Bundeswehr. Deutlicher ist wohl nach dem Ende der Blockkonfrontation noch nie ein Krieg mit Russland öffentlich einsehbar durchgespielt worden."
Ruft Heiko Maas etwa zum Widerstand gegen die USA?
Verwirrend waren angesichts dieser Informationen wiederum jüngste Äußerungen von Heiko Maas gegen die Stationierung neuer atomarer Mittelstreckenraketen in Deutschland und Europa. In einem Interview der Deutschen Presse-Agentur sagte er Widerstand in Deutschland gegen eine neue Atomaufrüstung voraus, falls der 30 Jahre alte INF-Vertrag zwischen Russland und den USA zum Verbot von Mittelstreckenwaffen platzen sollte, wie RT berichtete: "Europa darf auf gar keinen Fall zum Schauplatz einer Aufrüstungsdebatte werden", sagte Maas. "Eine Stationierung neuer Mittelstreckenraketen würde in Deutschland auf breiten Widerstand stoßen."
Die Frage ist aber: Wessen "Widerstand" meint Maas hier? Den der Politik? Will er also selbst Widerstand gegen die US-Aufrüstung leisten? Oder möchte er diesen Widerstand wie in den 80er-Jahren der Bevölkerung überlassen? Zur Erinnerung: Die breite Friedensbewegung konnte die Stationierung von US-Raketen damals nicht verhindern. Solchen zweideutigen und dadurch höchstwahrscheinlich folgenlosen Ankündigungen können sich dann sogar die (Oliv-)Grünen anschließen: Die befanden es für "längst überfällig, dass Außenminister Maas mehr Engagement für Rüstungskontrolle und Abrüstung zeigt". Allein die Tatsache, dass sich die der antirussischen Meinungsmache besonders verschriebene Partei hier Maas anschließt, sollte skeptisch stimmen.
Anarchy in the UK: Brexit-Schockberichte sollen Bürger verschrecken
Die großen westlichen Medien möchten die Bürger gerne gegen weitere Exit-Bestrebungen aus der EU imprägnieren. Aus diesem Grund wird die aktuelle Situation in wahlweise düsteren oder grellen Farben gezeichnet. So prognostiziert der Tagesspiegelstellvertretend für den allgemeinen Medien-Tenor, dass im Falle des "harten Brexit" das "Heulen und Zähneklappern ohrenbetäubend" zunehmen wird, auf der Insel wie auf dem Kontinent: "Keine Seite ist wirklich vorbereitet auf einen 'harten Brexit' ohne Vertrag und Übergangsregeln. Der Stichtag 29. März würde zu einer Katastrophe: für die Briten, für die Deutschen, für die EU."
Auch die Süddeutsche Zeitung sieht England in Trümmern: "Derweil steht in Parlament und Regierung kein Stein mehr auf dem anderen." Durch solche Hiobsbotschaften hoffen einige große Medien, die Stimmung drehen zu können: "Die Mehrheit der Bürger würde mittlerweile im Zweifel in einer neuen Abstimmung schon deshalb gegen den Austritt stimmen, um das Chaos zu beenden." Und auch kleinere Medien wie die Oberhessische Presse hoffen auf einen durch "das Chaos" ausgelösten erzieherischen Effekt pro EU:
"Millionen Menschen in den anderen EU-Ländern erkennen jetzt: Die EU ist doch mehr als nur ein Bürokratiemonster, das seine Bürger mit unsinnigen Verordnungen über die Krümmung von Gurken gängelt. Die von Politikern so oft wiederholte Floskel, dass die europäische Einigung Frieden und Wohlstand garantiert, ist doch kein leeres Geschwafel. Wer angesichts dessen noch vom 'Dexit' träumt, muss schon Augen und Ohren ganz fest vor der Realität verschließen."
Ob sich aber nicht eher dieses Medium vor der Realität verschließt, fragt treffend die Welt: "Der Ausgang eines zweiten Referendums gilt mitnichten als sicher. Je länger der Brexit die britische Gegenwart verdüstert, desto mehr rumort es unter der Oberfläche: Bloß raus aus der EU-Zwickmühle! Großbritannien hat keine europäische Identität gewonnen, die EU ist und bleibt dem Land fremd. Eine Wiederholung des Ausgangs wie 2016 ist daher durchaus möglich."
"Demokratie"-Verständnis: Wahlen nur für die "besten Bürger"
Aus diesem Grund würden manche Medien Wahlen gerne für die "besten Bürger" reservieren. Diese Arroganz vieler Redakteure gegenüber dem Wahlvolk ist bekannt, aber immer wieder bedenklich: "Wählen ist kein Kinderspiel. Wer es an der Wahlurne nur mal 'denen da oben' zeigen will, dem kann das britische Exempel verdeutlichen, was passieren kann. Die repräsentative Regierungsform ist existenziell darauf angewiesen, dass in den Parlamenten die besten Bürger sitzen. Nicht die lautesten", dozieren etwa die Badischen Neuesten Nachrichten.
Dieser skandalösen Haltung schließt sich auch die Süddeutsche Zeitung an. Die Zeitung sieht im Brexit ein Zeichen dafür, dass "zu viel direkte Demokratie" offene Gesellschaften zerstören könne: "Die hochkomplexe Frage, wie Großbritannien mit Europa leben soll, wurde einer Augenblicksstimmung des zum Teil ungenügend informierten Volkes zur Entscheidung überlassen." Diese Misstrauen gegenüber dem "ungenügend informierten Volk" kann als Symptom bei vielen Redakteuren beobachtet werden – es erinnert etwa an den infamen Kommentar von Anja Reschke zu Volksabstimmungen.
Wenn es gegen "die Populisten" geht, ist alles erlaubt
Aber gegen "Populisten" ist eben alles erlaubt – auch die Einschränkung der Demokratie oder der "Pressefreiheit", wie weiter unten im Zusammenhang mit der Rundfunklizenz für RT Deutsch noch thematisiert wird. Einen weiteren Mosaikstein im aktuellen Propaganda-Konstrukt "gute Liberale gegen böse Populisten" hat vor einigen Tagen die "Menschenrechts"-Organisation "Human Rights Watch" (HRW) mit ihrem infamen "Weltbericht" beigesteuert. Bei näherer Betrachtung muss man HRW als mutmaßliches Propagandawerkzeug des wirtschaftsliberalen Westens bezeichnen. Zwar werden in den Berichten auch westliche Länder kritisiert – aber erheblich zögerlicher als etwa Russland, Syrien oder Venezuela. Die NachDenkSeiten bilanzieren:
"Human Rights Watch wird durch diese Haltung Teil einer Medienstrategie, die 'externe' und angeblich 'unabhängige' Stimmen und Beurteilungen braucht, um sich besser zu verkaufen. Weitere Beispiele für diese Konstrukte sind mehr oder weniger eindeutig die Reporter Ohne Grenzen, die Syrische Stelle Für Menschenrechte oder Amnesty International."
"Human Rights Watch" liefert passende Meinungsmache
Diesen Befund beweist auch ein aktueller HRW-Artikel zu Russland, der die Botschaft bereits in der Überschrift herrausschreit: "Russland: Ein düsteres Jahr für die Menschenrechte". HRW fährt fort: "Die russische Regierung hat den Raum für friedliche Meinungsverschiedenheiten, politische Opposition und Bürgerinitiativen in Russland im Jahr 2018 unerbittlich reduziert." Zudem würden viele "Menschenrechtsverteidiger, Bürgerrechtler, Anwälte, Oppositionsaktivisten und Durchschnittsbürger" einen "Preis dafür zahlen", dass sie sich nicht "an die politische Agenda der Regierung gehalten haben".
Das vorsätzliche Herabsenken des Presse-Niveaus beim Thema "Populismus" ist bekannt: Die großen Medien suggerieren gerne, dass dieser Politiker-Typus keine Notwehrreaktion der Bürger auf die Philosophie des Neoliberalismus sei. Statt dessen seien die Trumps und Orbáns "aus dem Nichts" und völlig unabhängig von der staatsfeindlichen und wirtschaftsliberalen Kürzungspolitik entstanden. In diese Richtung wirkt auch ein neuer, raffinierter Propaganda-Spielfilm zum Brexit. Und der Spiegel macht seinem zerstörten Ruf alle Ehre, wenn er das Thema auf eine billige und infantil verkürzte Schlagzeile herunterbricht: "Globaler Siegeszug der Gaga-Politiker – Brexit-Lustspiel, Trump-Trara, Italo-Dramen, AfD-Gepolter".
Die "Pressefreiheit" kann eben nicht für alle gelten …
Wie oben beschrieben, bringen sich in der Brexit-Debatte ausgerechnet die medialen "Verteidiger der Demokratie" immer wieder gegen die Demokratie in Stellung – wenn diese Demokratie in die "falsche" Richtung tendiert. Wie jedes Gesetz und jedes moralische Prinzip verliert aber auch "die Demokratie" ihren Wert, wenn Ausnahmen zu diesem Prinzip gefordert und zugelassen werden.
Diese Eigenschaft der Geltung "für alle" teilt die Demokratie mit der Pressefreiheit. Doch die beiden Prinzipien teilen leider auch die mit ihnen verbundene Heuchelei: Nicht nur werden in vielen großen Medien Demokratie-Phrasen schizophren mit Warnungen vor derselben verbunden. Auch gerieren sich viele große Medienhäuser als Verteidiger der Pressefreiheit – während sie gleichzeitig eine Einschränkung alternativer Medien fordern. Ein Gipfel der medialen Heuchelei zur "Pressefreiheit" wurde in dieser Woche im Zusammenhang mit dem Bemühen von RT Deutsch um eine Rundfunklizenz erreicht: Die großen deutschen Medien versuchten, eine Welle der Empörung dagegen zu entfachen, und entwerteten ihre Position zur Pressefreiheit dadurch als hohle Phrasen.
RT als Konkurrent und Korrektiv
Den mutmaßlichen Grund für dieses Engagement großer Privatmedien gegen RT nennen die NachDenkSeiten: "RT ist nicht nur ein Konkurrent im Kampf um Zuschauer und Aufmerksamkeit. Der Sender hat sich auch zu einer ernsten Bedrohung für die westlichen Propaganda-Konstrukte etwa zum Syrienkrieg oder zum Putsch in der Ukraine entwickelt." Wohl auch aus diesem Grund lassen unter vielen anderen Medien etwa die FAZ, der Tagesspiegel, die Bild und die Welt kein gutes Haar an dem Vorhaben von RT.
Der Gipfel war aber in diesem Zusammenhang das antirussische Engagement des Deutschen Journalisten-Verbands (DJV), der die Landesmedienanstalten auffordert, "dem Kanal Russia Today für seine Webseite RT Deutsch keine Rundfunklizenz zu erteilen":
"'Russia Today ist für uns kein Informationsmedium, sondern ein Propagandainstrument des Kreml', urteilt DJV-Bundesvorsitzender Frank Überall, 'das mit Desinformation Politik zu machen versucht.' Der DJV-Vorsitzende reagiert damit auf Berichte, nach denen der Medienberater und frühere MDR-Chefredakteur Wolfgang Kenntemich von RT damit beauftragt sein soll, die Erteilung einer Rundfunklizenz an RT Deutsch in die Wege zu leiten."
Der Offenbarungseid des Deutschen Journalisten-Verbands
Mit dieser öffentlichen Parteinahme gegen ein konkretes Medium stellt sich Frank Überall zweifach ins Abseits: Zum einen maßt er sich eine übertrieben "politische" Rolle an und instrumentalisiert "seine" Institution dafür. Zum anderen verletzt er das Neutralitätsgebot des DJV und fällt einem Teil seiner Mitglieder in den Rücken.
Dass der DJV-Chef seine Tirade gegen RT dann auch noch in einem Telepolis-Interview mit "Fake News" über den Fall Lisa unterfüttert, wie RT hier beschreibt, ist einerseits skandalös. Andererseits kann ein solch eindeutiges, unvorsichtiges und wiederholtes Fehlverhalten auch endlich auf den umstrittenen Funktionär Überall zurückfallen – so wird bereits sein Rücktritt gefordert:
"Dass Überall nun eine entlarvte Falschaussage, für die er sich bereits entschuldigt hat, einfach wiederholt, um nochmals Stimmung gegen den Sender RT Deutsch zu machen – das ist ein Skandal. Überall hat sich damit unhaltbar gemacht. Er ist als unseriöser 'Wiederholungstäter' keine würdige Vertretung seines Berufsstands mehr und sollte abtreten."