Karlsruhe prüft Hartz-IV-Sanktionen – Wie viel ist die Menschenwürde in Deutschland noch wert?

Darf der Staat Menschen die Existenzgrundlage entziehen? Und ist jede Arbeit zumutbar? Mit diesen Fragen beschäftigt sich am Dienstag das Bundesverfassungsgericht. Doch bevor es richtig losgeht, dämpft der Vorsitzende schon mal vorsorglich die Erwartungen.

von Timo Kirez

Ein Arbeitsloser lehnt ein ihm zugewiesenes Jobangebot ab, weil er nicht zu einer Arbeit gezwungen werden will. Daraufhin kürzt ihm das Jobcenter Erfurt zunächst 117,30 Euro, dann sogar 234,60 Euro seiner monatlichen Grundsicherung. Als Begründung gibt das Jobcenter an, der Mann habe bei der Jobsuche nicht "kooperiert". Nun geht der Ausdruck "Kooperieren" auf das lateinische "cooperatio", zurück, was so viel wie "Zusammenwirkung" und "Mitwirkung" bedeutet. Doch zwischen "Mitwirkung" und "Zwang zur Mitwirkung" gibt es einen himmelweiten Unterschied. Ersteres ist ein Merkmal einer funktionierenden Zivilgesellschaft, letzteres eine Form des Totalitarismus.

Im Sinne dieser "Zwangsbeglückung" wurden im Jahr 2017 rund 957.000 Sanktionen ausgesprochen, die Zahlen für 2018 sind noch nicht veröffentlicht. Zum Teil waren einige Menschen sogar mehrfach von Sanktionen betroffen. Nach jahrelangen vergeblichen Versuchen, dem Lessing'schen "Kein Mensch muss müssen" zum Recht zu verhelfen, nimmt sich das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe nun endlich der Legitimierung dieser "kooperationsfördernden Maßnahmen" an. Seit der Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zu Hartz IV im Jahr 2005 unter Kanzler Gerhard Schröder und der rot-grünen Regierung stehen Arbeitslose grundsätzlich unter dem Generalverdacht, der Spezies der Faultiere anzugehören. Und spätestens seitdem gilt auch das goldene Mantra des "flexiblen Arbeitsmarkts", mit anderen Worten: Jede Arbeit ist zumutbar.

Wer dieser Schreckensherrschaft durch "unkooperatives Verhalten" in die Quere kommt, kann für bis zu drei Monate finanziell sanktioniert werden. Wie viel gestrichen wird, hängt immer von der "Schwere der Verfehlung" ab. Wer ohne "triftigen Grund" einen Termin beim Jobcenter versäumt, büßt zehn Prozent des sogenannten Regelsatzes von aktuell 424 Euro für alleinlebende Erwachsene ein. Wer ein Jobangebot ausschlägt oder eine Fördermaßnahme abbricht, setzt 30 Prozent aufs Spiel – beim zweiten Mal binnen eines Jahres 60 Prozent und beim dritten Mal das komplette Arbeitslosengeld II, samt Heiz- und Wohnkosten.

Bei Jugendlichen sieht das Gesetz sogar vor, bereits beim ersten Verstoß, der über ein Meldeversäumnis hinausgeht, eine hundertprozentige Sanktion der Regelleistung vorzunehmen. Weitreichende Sanktionen können die Jobcenter mit Gutscheinen für Sachleistungen wie Lebensmittel "abmildern". Doch die müssen extra beantragt werden und betragen maximal einen halben Regelsatz ohne Miete.

Dass das Bundesverfassungsgericht nun aktiv wird, liegt an einer Vorlage des Sozialgerichts Gotha. Dort hatte ein Arbeitsloser geklagt, dem in Erfurt 2014 zweimal die Leistungen gekürzt wurden. Die Thüringer Richter halten die Sanktionen für verfassungswidrig. Wenn Hartz IV das Existenzminimum sichere, gebe es keinen Spielraum für Kürzungen. Der Staat lasse die Betroffenen in soziale Isolation, Krankheit, Schulden und Obdachlosigkeit abgleiten. Doch sollte man vom Verfassungsgericht keine Wunder erwarten. Noch bevor es so richtig losgeht, schraubte der Vorsitzende des Ersten Senats, Stephan Harbarth, die Erwartungen erst einmal runter. Es gehe nicht um die Frage, ob Sozialleistungen mit einem Sanktionssystem politisch sinnvoll seien, so Harbarth zu Beginn der Verhandlung.

Und erst recht gehe es nicht um die politische Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen. Ihm zufolge stelle sich vielmehr die Frage, "was der Staat und damit auch die Gemeinschaft von Menschen fordern darf, bevor sie Sozialleistungen erhalten, und was er dann eventuell auch durch Sanktionen erzwingen darf". Dem Senat sei bewusst, dass die Thematik für viele Menschen in schwierigen Lebenslagen sehr wichtig sei und grundlegende Bedürfnisse betreffe. "Das nehmen wir ernst", so der Vorsitzende. Mit anderen Worten, es geht nicht darum, was der einzelne Mensch an unverhandelbaren Grundbedürfnissen hat, sondern vielmehr darum, wie weit man ihn für diese Grundbedürfnisse piesacken darf. 

Dabei musste die Politik schon einmal wegen eines Verfassungsgericht-Urteils von 2010 bei Hartz IV nachbessern, damals allerdings bei den Regelsätzen. Das Grundgesetz sichere "jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind", urteilten die Richter seinerzeit. Und das Existenzminimum sei "dem Grunde nach unverfügbar" und "realitätsgerecht, schlüssig und transparent" zu berechnen. Der Satz "Das Existenzminimum sei dem Grunde nach unverfügbar" lässt sich nur schwer mit den neuesten Aussagen Harbarths in Einklang bringen.

Der Erste Senat des Verfassungsgerichts wird die Angelegenheit im Geheimen beraten. Das Urteil dürfte einige Monate auf sich warten lassen. So bleibt dem Staat noch ein wenig Gelegenheit, Kasse zu machen. Schließlich konnten allein zwischen 2007 und 2017 durch die Kürzungen rund zwei Milliarden Euro eingespart werden. Auch dem Niedriglohnsektor dürfte eine lange Verhandlungsdauer recht sein. Zwingt der Sanktionsdruck die Arbeitslosen doch vor allem dazu, Billiglohn-Angebote anzunehmen. Kein Wunder, dass Deutschland den größten Niedriglohnsektor Westeuropas hat.

Minijobs, Teilzeit- und Leiharbeit oder Zeitverträge: Knapp 7,4 Millionen Menschen arbeiten in Deutschland auf 450-Euro-Basis, für 4,7 Millionen von ihnen ist es die einzige Einkommensquelle. Die Zahl der sogenannten "atypisch Beschäftigten" ist seit 1991 stark gewachsen. Das geht aus dem "Atlas der Arbeit" hervor, den die Hans-Böckler-Stiftung und der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) 2018 vorlegten. Dort steht unter anderem ein Satz, der der Arbeitsmarktpolitik der letzten Jahre Hohn spricht:

Entgegen der ursprünglichen Idee haben sich Minijobs für die Beschäftigten nicht als Einstieg zu guter Arbeit erwiesen.

Zudem bekämen rund 1,2 Millionen Beschäftigte zusätzlich Hartz IV. Wer neu eingestellt werde, bekomme in 44 Prozent der Fälle nur einen befristeten Vertrag. Und auch was die befristeten Verträge betrifft, ist Deutschland in "Rekordstimmung". Nach Angaben des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) waren 2018 etwa 3,15 Millionen Menschen hierzulande befristet beschäftigt. Das ist jeder Zwölfte der rund 38 Millionen Beschäftigten. Ein neuer Höchststand. Nur sechs von hundert Betroffenen hätten diese Form der Beschäftigung freiwillig gewählt. Etwa die Hälfte der Verträge würden ohne sachlichen Grund befristet.

Rosarote Arbeitsmarkstatistiken auf Kosten der Schwächsten und Bedürftigsten – willkommen im bundesdeutschen "Jobwunder".

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