von Hasan Posdnjakow
Schon im 19. Jahrhundert bildeten sich in den imperialistischen europäischen Staaten neben den "Kolonialherren" auch eine kritische Öffentlichkeit und eine gesellschaftliche Opposition heraus, meist innerhalb der Arbeiterbewegung, sodass die damaligen Gelüste kolonialer Ausbeutung nicht völlig unreflektiert blieben. Infolgedessen erarbeiteten sich die Kolonisatoren Argumentationsmuster, um ihre auf wirtschaftlichen Profit und geopolitische Beherrschung ausgerichteten Absichten zu verschleiern und zu legitimieren. Sie wollten oder konnten es nicht wagen, die nackte Wahrheit auszusprechen, im Gegensatz zum späteren "Mein Kampf" von Adolf Hitler mit Blick auf dessen Pläne für die Sowjetunion und die slawische Kultursphäre überhaupt.
Die Ideologen der westlichen Welt entwickelten also zu Zeiten des Kolonialismus einen großen Lügenkomplex, der darauf ausgerichtet war, die brutale Ausbeutung der "Eingeborenen" in den Kolonialgebieten vorgeblich als humanitäre Selbstaufopferung und zivilisatorische Großtat der nun einmal überlegenen Weißen erscheinen zu lassen. Der Weiße habe die weltgeschichtliche Mission, hieß es, die Zivilisation in alle Weltregionen zu tragen. Das sei die Bürde des weißen Mannes, wie es programmatisch im Titel eines Gedichtes des Dschungelbuch-Autors Rudyard Kipling heißt.
Die Imperialisten verwiesen nun also etwa auf die wenigen Bildungseinrichtungen, die sie gebaut hatten, um die ausländischen Kolonialverwalter durch einige auserwählte Einheimische ergänzen zu können. Oder auf Eisenbahnen, die sie errichtet hatten, um einerseits die Bodenschätze besser ausbeuten und andererseits "im Notfalle" Truppenteile schneller verlegen zu können. Alles Beispiele für den Erfolg ihrer zivilisatorischen Mission, oder zumindest um zu zeigen, wie sehr sie sich darum bemühen. Wenigstens hatte man nun ein reines Gewissen bei dem schmutzigen Geschäft, Millionen von Afrikanern und Asiaten schonungslos, oft bis zum Tod, für den eigenen Profit auszuquetschen! In den Quellen wurde allerdings kaum überliefert, was die Einwohner der Kolonien selbst von dieser "zivilisatorischen Mission" hielten, etwa dadurch offenbart, dass imperialistische "Humanisten" wie der belgische König Leopold II seinen lieben Untertanen im Kongo die Hände abhacken ließ, wenn sie bei der Zwangsarbeit nicht fleißig genug waren.
Freilich ließen sich schon damals nicht alle von diesem Musterbeispiel an Doppelmoral überzeugen. Der weltberühmte US-amerikanische Autor Mark Twain etwa schrieb den satirischen Essay "To the Person Sitting in Darkness". Darin prangerte er den Imperialismus schonungslos an.
Noch heute wagen die mächtigen Staaten dieser Erde nicht, offen ihre eiskalten wirtschafts- und machtbasierten Projekte zu verkünden. Sie sagen nicht, zumindest nicht in der breiten Öffentlichkeit: "Deutschland will ungehinderten Zugang zum Weltmarkt und ist bereit, das militärisch durchzusetzen". Wer es so plump sagt, wie der frühere Bundespräsident Horst Köhler, wird dann doch schnell untragbar. Stattdessen wird uns im Nachgang als Präszisierung sinngemäß erklärt: "Wir sind in Afghanistan, weil wir Brunnen bohren, Mädchenschulen bauen wollen und die Rechte von Frauen und Schwulen verteidigen!" Und welcher Weg wäre besser, die Bedeutung von Frauen- und Schwulenrechten zu vermitteln, als zum Beispiel ein Paar Bomben auf afghanische Hochzeitsgesellschaften abzuwerfen? Eine vielversprechende Schock-Therapie mit ganz gewiss bleibender Erinnerung für die getroffenen Familien!
Ist also womöglich der geopolitische Konflikt um die Ukraine, der eine klare Aggression des Westens mit auch immensem finanziellem Aufwand darstellt, gegen das Kernland Russlands gerichtet? Aber nein, das hat doch wohl mit den über hundert Jahre alten Plänen Deutschlands, ein wirtschaftliches Hinterland in Eurasien zu erobern, nichts zu tun! Auch nicht mit der Strategie der USA, Russland von Europa zu trennen und zu zerstückeln, die schon der alte Zbigniew Brzezinski beschrieb. Nein: den lieben, selbstlosen Humanisten im Pentagon und im Kanzleramt geht es doch vielmehr um die ukrainische Demokratie.
Eine Demokratie, die heute darin zum Ausdruck kommen könnte, dass rund neun von zehn Ukrainer den vom Westen gesponserten Schokokönig am liebsten früher als später aus dem Amt jagen würden. Eine so "lebendige" Demokratie, dass das Menschenrecht krimineller Oligarchen, unliebsame Journalisten und kritische Stimmen nicht nur mundtot, sondern lieber gleich ganztot zu machen, quasi zum Grundgesetz wird. Eine liberale, EU-konforme Zivilgesellschaft, in der alle, die für den Frieden mit den abtrünnigen Ostukrainern und für gutnachbarschaftliche Beziehungen zu Russland eintreten, auf völlig demokratische Art von Neonazi-Banden verfolgt, gequält und ermordet werden.
Doch wie vor hundert Jahren regt sich auch heute Widerstand gegen solch imperialistische wie fadenscheinige Masche. Die Völker Europas spüren, dass die halsbrecherischen Auslandseinsätze und geopolitischen "Spielchen" der Westmächte nicht in ihrem Interesse sind, sondern im Gegenteil dazu führen, dass auch ihre eigenen Lebensbedingungen immer schlechter werden. Auch der Aufstand der Gelbwesten in Frankreich verdeutlicht dies. Der Tag, an dem der soziale Protest der Ausgebeuteten und Unterdrückten mit einem Aufstand gegen die imperialistische Barbarei zusammengehen wird, rückt immer näher.
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