von Andreas Richter
Fast 30 Jahre nach der sogenannten Wiedervereinigung erkennt die Bundesregierung gravierende Versäumnisse bei der Wertevermittlung in Ostdeutschland. Markus Kerber, Heimatstaatssekretär im Innenministerium erklärte im Interview mit der Bild, dass die Ostdeutschen besser integriert werden sollen.
Auf die Frage "Ist der Osten nicht richtig integriert?" erklärte Kerber:
30 Jahre nach der Wiedervereinigung müssen wir genauer untersuchen, wie es eigentlich um die Ostdeutschen steht, die im Moment anscheinend ganz anders über Fragen der Zugehörigkeit und des Zusammenhalts denken. Unsere Integrationspolitik ist also beileibe nicht nur auf Zuwanderer beschränkt. Wir wollen und müssen uns mit allen gesellschaftlichen Gruppen auseinandersetzen – vor allem mit wütenden und enttäuschten Bürgern, die sich abgehängt fühlen.
Innenminister Seehofer werde im nächsten Frühjahr durchs Land reisen und das Gespräch mit den Bürgern suchen. Das Innenministerium wolle sich für eine flächendeckende Versorgung mit 5G-Mobilfunk einsetzen, grundsätzlich müsse sich der Staat wieder stärker um die Bereitstellung von öffentlichen Gütern kümmern:
Man kann nicht alles dem freien Spiel der Märkte überlassen. Regieren muss auch heißen, dass man dort, wo der Markt nicht alles leisten kann, stärker investieren muss – in Straßen, in Schulen, in den öffentlichen Nahverkehr. Das hilft. Die Bürger wollen und müssen spüren, dass der Staat verstanden hat und mehr macht.
Den Ausführungen des Staatssekretärs über die Rolle des Staates bei der Bereitstellung öffentlicher Güter lässt sich kaum widersprechen. Dumm nur, dass die Politik aller Bundesregierungen der letzten Jahrzehnte genau auf das Gegenteil zielte und immer mehr Lebensbereiche, nicht nur der Ostdeutschen, den vielgepriesenen Marktkräften überließ.
Auch sonst werfen die Äußerungen des Staatssekretärs Fragen auf. Wie genau will er wen wohinein integrieren? Sprachkurse kann er wohl nicht meinen, denkt er - für die Vermittlung von Werten - vielleicht an eine Art Staatsbürgerkunde-Nachhilfe-Unterricht? Damit kennen sich die Ostdeutschen aus. Allerdings sollte hinreichendes Wissen über die DDR lehren, dass solche Art ideologischer Indoktrination ganz gewiss dann nicht funktioniert, wenn sie mit mit den Niederungen der Realität nicht in Übereinstimmung zu bringen ist.
Massenhafte Beschäftigung im Niedriglohnsektor und prekäre Lebensverhältnisse haben auch im Osten in den letzten Jahren und Jahrzehnten zugenommen und sind heute allgegenwärtig. Diese Probleme werden durch die Migrationspolitik der Regierung mit Sicherheit noch verschärft. An solchen Tatsachen lässt sich durch Gesprächs-Rundreisen und gütige Belehrungen Besserwissender nichts ändern. Wie der Staatssekretär auf der Grundlage dieser Tatsachen seine Werte vermitteln möchte, bleibt wohl sein Geheimnis.
Wahrscheinlich ist schon die Eingangsdiagnose Kerbers falsch: Nicht die Ostdeutschen sind schlecht in "die deutsche Gesellschaft" integriert, sondern die Bundesrepublik ist mit ihren Institutionen, ihren Glaubenssätzen und Sprachregelungen nur schwach in der ostdeutschen Bevölkerung verankert. Und diese Verankerung ist in den letzten Jahren eher noch schwächer geworden.
Die Ostdeutschen erdreisten sich, ihre Regierungen und auch das politische System der repräsentativen Demokratie danach zu beurteilen, wie sie sich auf ihr eigenes Leben auswirken. Sie lassen sich dabei auch vom Sprachdiktat der "politischen Korrektheit" nicht mehr beeindrucken. Das ist allerdings kein Ausdruck und keine Folge einer besonders schlechten Integration, sondern vielmehr Beleg für den Fortbestand eines guten Maßes an gesundem Menschenverstand.
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