Von Wladislaw Sankin
Erinnert sich noch jemand an das Jahr 2014? Fast tägliche Fernsehrunden zum Themen "Was will Putin", Bedrohungsszenarien, Gespräche über Sanktionen - den deutschen Leser, Zuschauer, Zuhörer wird ein neues Vokabular in Bezug auf Russland eingetrichtert: "Annexion", "Aggression", "Separatisten", "Destabilisierung" - und folglich - "Sanktionen". Und die Ukraine, wo vor wenigen Wochen und Monaten ein gewaltsamer Machtwechsel herbeibejubelt wurde, sei Opfer Russlands. Viele Mediennutzer waren empört über solche Einseitigkeit, sie bemühten sich um andere Narrative – was der Mainstream vorsorglich als "russische Propaganda und Desinformation" verunglimpfte.
Der politische Konflikt mit Russland wurde festgefahren, grundlegend änderte sich dabei lange nichts. Mit der Zeit waren die Krim und die Ukraine nicht mehr das Hauptthema. Und langsam zeichnete sich Normalität ab: Der deutsche Handel mit Russland wuchs, langfristige Projekte wie Nord-Stream 2 wurden beschlossen und vorangetrieben – gegen den erheblichen Druck der Russland-Gegner von beiden Seiten des Atlantiks. Der verlustreiche Krieg in der Ost-Ukraine, der nach Erstürmung einiger Verwaltungsgebäude vonseiten der Aufständischen und darauffolgendem Einsatz schwerer Waffen vonseiten der provisorischen Regierung in Kiew im Frühjahr 2014 begann, wurde eingefroren.
Und dann platzte die Nachricht über den Vorfall in der Straße von Kertsch am 25. November, als zwei ukrainische Patrouillenboote und ein Schlepper von den Schiffen der FSB gerammt und gekentert wurden. Die Besatzung wurde nach einer kurzen Auseinandersetzung aufgrund der Grenzverletzung festgenommen. Beide Seiten warfen einander Provokation vor. Nach eineinhalb Tagen beschloss das ukrainische Parlament auf Gesuch des Präsidenten, das Kriegsrecht in zehn Gebieten der Süd-Ostukraine. Es begann Krim-Krise 2.0.
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Mit den gleichen Beteiligten – Journalisten, Politikern, Diplomaten – wie auch vor vier Jahren hat man in deutschen Medien wieder über das russische "aggressive Verhalten" und "Bruch der internationalen Regeln" diskutiert. Man hat wieder über russische Einmärsche im Baltikum oder gar Polen fabuliert. Der ukrainische Botschafter Andrei Melnick forderte in deutschen Medien die Entsendung deutscher Kriegsschiffe ins Schwarze Meer. Auch der ukrainische Präsident Petro Poroschenko wurde in diesen Tagen oft zitiert – unhinterfragt gab man seine Befürchtungen über einen "großangelegten Krieg" mit Russland weiter. Auch er verlangte mehr NATO-Schiffe im Schwarzen Meer. Der ukrainische Premier Wladimir Groisman forderte in Berlin das Anlegeverbot für russische Schiffe. Eine neue Kriegshysterie war wieder perfekt. Eigentlich.
Denn die Unterschiede zum Jahr 2014 waren nicht zu verkennen. Nicht nur der ukrainische Botschafter wurde befragt. Auch der russische Botschafter kam mit seiner Version zu Wort. Dietmar Bartsch trat mit versöhnlichen Tönen bei der ARD auf. Die Bundesregierung hielt sich mit scharfer Rhetorik gegen Russland zurück. Sorge – ja. Auch Kritik – aber wann hat Berlin in den letzten Jahren Moskau nicht kritisiert? In Buenos Aires besprachen dann Angela Merkel und Wladimir Putin die Sache in aller Ruhe beim Frühstück. Der russische Präsident zeichnete Emmanuel Macron auf dem Papier den Hergang des Vorfalls nach. US-Präsident Donald Trump ging Wladimir Putin beim G20-Gipfel aus dem Weg - ein souveränes Verhalten sieht anders aus.
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Gabriel vs. Kramp-Karrenbauer
Zeitgleich zum Gipfel machte sich für Entspannung im wiederaufgeflammen Konflikt der frühere Außenminister Sigmar Gabriel stark. Deutschland dürfe sich "nicht in einen Krieg gegen Russland hineinziehen lassen", sagte er dem Tagesspiegel am 1. Dezember. Ähnlich äußerte er sich am Tag zuvor in einem Interview mit dem Fernsehsender NTV. Gabriel kritisierte Forderungen der Ukraine nach deutschen Kriegsschiffen gegen Russland sowie den Vorschlag nach einer Schließung von internationalen Häfen für russische Schiffe aus der Krim-Region.
Gabriel nannte dies "eine Neuauflage der Kanonenboot-Politik" und spielte damit auf die Vorschläge der CDU-Generalsekretärin und Parteivorsitz-Kandidatin Annegret Kramp-Karrenbauer an. Sie hatte – ganz im Sinne der Ukraine – eine Schließung von europäischen und US-Häfen für russische Schiffe aus der Krim-Region ins Spiel gebracht. Diese sollten "so lange nicht mehr in europäische oder US-Häfen einlaufen dürfen, wie dieser Zustand mit der Ukraine nicht beseitigt ist", sagte sie der Agentur Reuters.
Wenn es sich bestätigt, dass die Aggression von Russland ausgegangen ist, dann bin ich der Meinung, muss es auch eine klare Antwort geben", so Kramp-Karrenbauer.
Trotz des Vorbehalts einer "Überprüfung", warf Gabriel Kramp-Karrenbauer vor, "mit starken Sprüchen den innerparteilichen Wahlkampf befördern" zu wollen. Deutschlands Rolle sei die Vermittlung und Deeskalation und nicht das Anheizen des Konflikts, sagte er. Gabriel schlug vor, den Sitz im UN-Sicherheitsrat, den Deutschland ab Januar für zwei Jahre innehat, zu nutzen, um ein UN-Blauhelm-Mandat für die Ost-Ukraine zu beschließen.
Endlich einen Waffenstillstand erreichen, den Rückzug der schweren Waffen auf beiden Seiten durchsetzen und dann danach auch einen ersten Schritt zum Abbau von Sanktionen unternehmen: das ist der einzige Weg heraus aus diesem völlig verfahrenen Konflikt“, sagte Gabriel.
Zunehmende Abstoßung?
Schwenkt Deutschland auf einen ausgewogeneren Russland-Kurs ein? Geht die Bundesregierung auf Distanz zu Kiew? Wenn man bedenkt, dass Deutschland so etwas wie eine Patenschaft über die Ukraine nach dem Maidan vor fünf Jahren übernommen hat, ja. Russische Experten, mit denen RT sprach, verzeichnen jedenfalls zunehmende Ukraine-Müdigkeit und zwar europaweit.
So sagte der Analyst des Zentrums für Europäische Forschung der Russischen Akademie der Wissenschaften Wladimir Olentschenko, die Kiewer Führung sei daran interessiert, die "äußeren Spieler" in ein bestimmtes "Militärabenteuer" hineinziehen zu lassen. Dennoch, in Deutschland und in der EU insgesamt, riefen solche Handlungen nur Abstoßung hervor.
Es ist erfreulich, dass man in Deutschland das versteht und diesen Vorfall klar einschätzt, indem man es ablehnt, in solchen Abenteuern der Ukraine als Verbündete aufzutreten," fügte Olentschenko hinzu.
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Kiew rechnete mit einer Reaktion vonseiten der Europäischen Union, sagte Anton Bredichin, Leiter des Zentrums für ethnische und internationale Studien, dafür sei auch provoziert worden. Aber Poroschenko habe nicht bekommen, womit er gerechnet habe – die Vertreter der EU hätten sich mit der Standarderklärung von Kritik an Moskau begnügt. Kiew und die USA wollten, dass die Europäer die Ukraine beinahe als vollwertiges Mitglied der EU und NATO ansehen.
Sie realisieren immer mehr, dass die Ukraine in Wirklichkeit eine schwere Bürde ist, die man eigentlich nicht braucht," so Bredichin.
Bei allen eventuellen juristischen Streitpunkten zum Seerecht, die auch in diesem Fall eine Rolle spielen könnten – der provokative Charakter der unangemeldeten ukrainischen Fahrt auf die Krim-Brücke zu ist offensichtlich. Sollte Russland schärfer reagieren, im schlimmsten Fall mit Versenkung der Boote und Todesfällen vonseiten der ukrainischen Soldaten, gäbe es nun aller Wahrscheinlichkeit nach eine neue andauernde schwere Krise auf der ganzen Linie des Westens gegen Russland – mit unausweichlichen Sanktionen und gefährlichen Drohgebärden. Es bleibt zu hoffen, dass das Kriegsrecht in der Ukraine keine neue Krisen verursachen wird.
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