von Hasan Posdnjakow
Seit dem Rücktritt Gerhard Schröders vor 14 Jahren hat sich innerhalb der Führungsetage der SPD ein merkwürdiger Ritus entwickelt. Immer dann, wenn es in den Umfragen ganz, ganz schlimm aussieht für die Sozialdemokraten, wenn sämtliche Alarmglocken im Willy-Brandt-Haus läuten und August Bebel anfängt, sich wild in seinem Grab umzudrehen, dann versammeln sich die obersten Genossinnen und Genossen zu einer nächtlichen Krisensitzung und bestimmen einen Beauftragten aus ihrer Mitte, dem sie die Pflicht auferlegen, vor der Öffentlichkeit eine vermeintliche Zauberformel zu sprechen, von der die SPD-Spitze glaubt, sie würde die Partei im Nu von sämtlichen Umfrage-Wehwehchen kurieren.
Dieses Mal fiel die Wahl auf Andrea Nahles, seit April dieses Jahres die Vorsitzende der altehrwürdigen Partei, die vor Kurzem gnädigst ihrem Wahlvolke die frohe Botschaft verkündete: "Wir werden Hartz IV hinter uns lassen!" Sie fuhr fort: "Wir brauchen eine große, umfassende, tiefgreifende Sozialstaatsreform – und nicht nur viele kleine."
Es ist immer schön, wenn sich die SPD etwas Gutes vornimmt. Dann weiß man nämlich zur Abwechslung mal genau, was die SPD nicht machen wird.
Die Anzahl der Forderungen aus der SPD, einschließlich ihrer ersten Reihe, die Hartz-IV-Reformen und die Agenda 2010 zurückzunehmen, ist so hoch, sie lässt sich gar nicht mehr beziffern. Mittlerweile hat sogar der leichtgläubigste Alt-SPD-Wähler begriffen, dass soziale Verbesserungen für die heutige SPD nur eine Art Sozial-Placebo sind. Im Gegensatz zur Bewegung um den ehrlich um soziale Belange bemühten Labour-Vorsitzenden Jeremy Corbyn in Großbritannien nimmt keiner den abgehobenen, grünliberalen Akademiker-Eliten und karriere- und pöstchengeilen Profi-Politikern, die in der SPD den Ton angeben, ab, sie wollten sich um die Sorgen und Nöte einfacher, arbeitender Menschen kümmern.
Um vorherzusagen, wie die x-te soziale Wende der SPD auszehen wird, muss man nicht Nostradamus heißen. Bis kurz nach den Wahlen werden uns die Genossen den Himmel auf Erden versprechen und zugleich tagtäglich in den medialen Beichtzimmern bei Anne Will, Frank Plasberg und Co. sich demütigst um Verzeihung für ihre Sünden der Vergangenheit bitten. Sie wären wohl sogar bereit, wäre es nicht gesetzlich verboten und moralisch unangemessen, Gerhard Schröder als Oberverantwortlichen für die Agenda 2010 persönlich dem Wählergott als Menschenopfer auf dem Umfragealtar darzubieten.
Doch schon wenige Sekunden nachdem die letzten Urnen geschlossen wurden, verwandelt sich der "Wähler als Gott" zum "Wähler als Maus". Vorher noch Objekt der Begierde aller Politiker, ist er nunmehr wieder passives Opfer diverser Intrigen und schattenhaften Machenschaften. Wie eine unaufhaltsame Seuche ergreift plötzlich alle SPD-Politiker eine mysteriöse Amnesie:
Alle Versprechungen – vergessen! Soziale Verbesserungen? Nicht möglich! Zu teuer! Falscher Zeitpunkt! Der Koalitionspartner spielt nicht mit! Verfassungsbedenken! Der Russe kommt, lieber Geld in die Rüstung! Was sagst du da, wir hätten eine Mehrheit zusammen mit den Grünen und Linken? Ja, aber den Linken kann man doch nicht trauen, da soll es doch tatsächlich noch den einen oder anderen Politiker geben, der das meint und glaubt, was er sagt! Mit solchen Typen können wir uns nicht abgeben! Dann doch lieber mit der CDU zusammen. Dann behaupten wir einfach: "Wir konnten uns in den Koalitionsverhandlungen nicht durchsetzen."
Eher wird sich das Wahlvolk endgültig von der SPD verabschieden, als dass sich die SPD von ihrer opportunistischen Herumlaviererei verabschiedet.
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