von Fjodor Alexandrowitsch Lukjanow et al.
(Teil 1 können Sie hier nachlesen)
Die neuen Erscheinungen im internationalen Leben: die drastische Politisierung der Handelskriege, die massive Anwendung, ob mit oder ohne Ankündigung, von Wirtschaftskriegsinstrumenten (sogenannte Sanktionen) durch alle bedeutenden Protagonisten, die Umwandlung von Information in ein außerordentlich wichtiges Konfrontations- und Kontrollinstrument, die Migrationsströme, die Regionalisierung – all das ist die Kehrseite der globalen Arena, die in der vorherigen Periode entstanden ist. Genauer gesagt, die Folge einer allgemeinen und sehr starken gegenseitigen Abhängigkeit, die als Garantie für Frieden und Gedeihen galt, sich jedoch auch als Voraussetzung für die Möglichkeit entpuppte, einander schmerzhaften Schaden zuzufügen.
Natürlich brachen auch früher Handelskriege aus, und wirtschaftliche Druckmittel wurden seit jeher angewandt. Die USA zum Beispiel hatten Maßnahmen zur Handelseinschränkung gegen Japan verhängt, doch als sie die entstandene Schieflage behoben hatten, kehrten sie zur liberalen Praxis zurück. Sind die Gründerländer der Globalisierung imstande, den damit verbundenen Aufwand erheblich zu senken und gleichzeitig die Gewinne zu bewahren?
Weltwirtschaft wird von immer mehr bedeutenden Protagonisten bestimmt
Historisch war ihnen das stets gelungen. Doch jetzt hat sich der Kontext verändert. In der Weltwirtschaft und -politik gibt es nicht mehr zwei oder drei, sondern mindestens fünf bedeutende Spieler mit verschiedenen Vorstellungen über die politische Kultur. Zwei davon sind Giganten mit fast anderthalb Milliarden Menschen. Doch auch viele mittelgroße Staaten tragen bei der Verteidigung ihrer nationalen Interessen, gewollt oder ungewollt, zur Verzerrung der gewohnten Regeln und Praktiken bei.
Dazu kommt noch der Anfang eines neuen Technologiesprungs auf Gebieten wie IT, Kommunikationstechnologie, Biotechnologie, Robotertechnologie und neuen Materialien. Das wird wiederum zu einem sprunghaften Fortschritt in der Produktionssphäre (Produktion mit wenig Personal), bei den Geschäftsmodellen (Geschäftsführung ohne Vermittler) und im sozialen und humanitären Bereich (verlängerte Lebenserwartung und die entsprechenden Veränderungen der Gesellschaftsstruktur) führen.
Die Staaten werden immer egoistischer, sie wenden sich hin zur Lösung ihrer eigenen Probleme, die durch die Herausforderungen einer immer verworrener werdenden Welt begründet sind. Und ihre Anzahl wächst lawinenartig. Dadurch erinnert die Stimmung an diejenige, die zu Zeiten der Großen Depression vorherrschte. Doch vor 90 Jahren waren die Weltwirtschat und -politik mehr oder weniger geographisch lokalisiert. Heute sind sie allumfassend. Und je weitgreifender die Gesamtmenge der Interessen und Konflikte, desto komplizierter ist es, sie ins Gleichgewicht zu bringen.
Migrationsströme und der demographische Faktor
Vor dem Hintergrund eines sich verlangsamenden Tempos des Weltwirtschaftswachstums werden die Ausmaße der Migrationsströme nicht kleiner, mehr noch, sie werden weiter ansteigen. In den 1990er bis 2000er Jahren war das Wachstumstempo nicht höher als 1,2 Prozent, doch im nächsten Jahrzehnt stieg diese Zahl auf 2,3 Prozent an. Und 2014 bis 2015 beschleunigte es sich noch einmal auf 5 Prozent, was mit dem Zustrom von Flüchtlingen aus den Nahostländern nach Europa zusammenhängt. (Siehe UN-Migrationsbericht von 2015).
Europa ist der größte Herd der Spannungen, die mit dem Migrationsproblem zusammenhängen. Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) gab es 2015 insgesamt weltweit 244 Millionen Migranten, also Menschen, die nicht in ihrem Geburtsland leben. Ein Drittel davon entfiel auf Europa. Fast drei Viertel der Migranten streben nur fünf EU-Länder an: Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Spanien und Italien.
Die wachsende Opposition gegen die Einwanderung in den Industrieländern und die Einführung von Einschränkungen der Migrationsströme werden als Anzeichen für eine Kehrtwende des Globalisierungsprozesses wahrgenommen. Zu den globalen Weltwirtschaftsproblemen (dem Nahrungsmittel-, Umwelt- und dem Energieproblem) kommt das Problem der internationalen Migration hinzu.
Für den Anstieg der Migration entlang der Nord-Süd-Linie sind zwei Schlüsselfaktoren zu verzeichnen: Der BIP-pro-Kopf-Unterschied zwischen Europa und den Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens sowie der demographische Riss zwischen der alternden Bevölkerung der Industrieländer und der schnell wachsenden jungen Bevölkerung der Entwicklungsländer. Einen bemerkenswerten Fortschritt im Bereich der "aufholenden Entwicklung" konnten die Länder Nordafrikas und des Nahen Ostens im vergangenen Jahrzehnt nicht verzeichnen. Das BIP-pro-Kopf-Wachstumstempo erreichte in der Region in der Vorkrisenperiode 2006 bis 2007 rund vier Prozent, doch 2009 bis 2012 sank es auf unter zwei Prozent. Und 2013 bis 2014 sackte der BIP-pro-Kopf-Wachstum tiefer als in den EU-Ländern ab, das heißt, die Länder Nordafrikas und des Nahen Ostens bleiben nur noch stärker hinter Europa zurück.
In Europa ist fast ein Viertel der Bevölkerung älter als 60 Jahre, dabei beträgt das Durchschnittsalter 42 Jahre im Vergleich zu weniger als 30 Jahren für die Weltwirtschaft insgesamt und weniger als 20 Jahren in einer ganzen Reihe von afrikanischen Ländern. Dabei befinden sich zehn von zehn Ländern mit dem stärksten Bevölkerungsrückgang in Europa, und die dynamischsten Wachstumsraten sind in Afrika und Asien (unter anderem im Nahen Osten) zu verzeichnen.
Nach Prognosen der UNO wird mehr als die Hälfte des Bevölkerungszuwachses der Erde im Zeitraum zwischen 2015 bis 2050 in Afrika konzentriert sein, nämlich fast 1,3 Milliarden von einem Gesamtzuwachs von 2,4 Milliarden Menschen. Nach Schätzungen der UNO wird sich die Bevölkerung in den rückständigsten Ländern der Welt im Zeitraum zwischen 2015 bis 2050 bis auf fast zwei Milliarden Menschen verdoppeln, und bis 2100 kann sich die Bevölkerung der 33 ärmsten Ländern mehr als verdreifachen.
Als Ergebnis sagt die UNO einen wachsenden Anteil an Einwanderern in den Industrieländern voraus. Im Zeitraum zwischen 2015 bis 2050 wird der demographische Bevölkerungszuwachs in den Industrieländern 20 Millionen Menschen betragen, während der reine Einwandererzustrom in die Industrieländer auf eine Zahl von 91 Millionen Menschen geschätzt wird. Das heißt, 82 Prozent des Bevölkerungswachstums in den Industrieländern wird auf die Migration entfallen.
Die Zahlen für Europa sind noch beeindruckender: im Zeitraum von 2015 bis 2050 wird der demographische Bevölkerungsverlust in Europa 63 Millionen Menschen betragen, während der reine Einwandererzufluss auf einer Ebene von 31 Millionen Menschen erwartet wird. Im Ergebnis wird die Bevölkerung Europas bis 2050 nach Schätzungen der UNO um rund 32 Millionen Menschen sinken.
Krieg wird nicht mehr als Mittel zur Krisenlösung angesehen
Es gibt aber auch eine gute Nachricht: Die nukleare Abschreckung erstreckt sich jetzt nicht nur auf die Beziehungen der Supermächte, sondern auch auf mittelgroße und im Fall von Nordkorea selbst auf kleine Staaten. Überhaupt sieht niemand trotz der immer stärker werdenden internationalen Spannungen einen Ausweg aus den Widersprüchen in einem großen Krieg. Er würde mehr Probleme schaffen als lösen (ganz zu schweigen vom Risiko einer totalen nuklearen Katastrophe). Das ist ein grundlegender Unterschied der heutigen Situation vom Vorabend des Ersten Weltkrieges, als die Länder und Völker den Krieg als Mittel zur Krisenbehebung sahen.
Eine militärische Lösung ist auch wegen der Verschwommenheit der Konfliktlinie ineffizient. Ein Kennzeichen des Gegners ist dessen Vielfältigkeit und Gespaltenheit, die oft nicht offensichtlich oder von der politischen Konjunktur abhängig sind. Rigide Muster wie "wir gegen sie" gehören immer mehr der Vergangenheit an, das Prinzip "jeder für sich" sieht nicht nur eine "Rundumverteidigung", sondern auch die Möglichkeit eines schnellen Partnerwechsels vor.
Und "schwarze Schwäne", also plötzliche, unvorhergesehene Veränderungen, überraschen und betreffen alle im gleichen Maße. Die Wahl von Donald Trump zum Präsidenten der USA, das "Ja" zum Brexit beim Volksentscheid in Großbritannien, der Arabische Frühling oder die Ukraine-Krise – die unerwarteten Ereignisse fallen auf alle zurück, selbst auf diejenigen, die daran nicht unmittelbar beteiligt sind.
Die statische Konstruktion der internationalen Beziehungen gehört immer mehr der Vergangenheit an. Wechselhaftigkeit, Beweglichkeit, Situationsabhängigkeit sind jetzt die wichtigsten Kennzeichen des globalen Prozesses. Und in mehreren Fällen können diejenigen, die schneller und genauer reagieren, aus so einer Situation ihren Nutzen ziehen. Doch das ist ein kurzfristiger Gewinn. Die Regierungen in aller Welt brauchen mehr Bestimmtheit.
Globale Unbestimmtheit und die drei ungeklärten Fragen
Was ist so schlecht an der Unbestimmtheit? Staaten sind großflächige Organisationen mit langfristiger Planung. Langjährige Budgets, Programme für technologische Entwicklung oder strategische Infrastruktur-, Verkehrs- und Raumfahrtprojekte stützen sich auf ein Verständnis der wichtigsten internationalen Tendenzen. Bestimmtheit ist eine notwendige Bedingung für die Planung, doch genau an ihr mangelt es am meisten.
Es sind drei wichtige ungeklärte Fragen, die die Herauskristallisierung der internationalen Struktur behindern.
Die erste Frage betrifft das Gleichgewicht der Kräfte in der Welt. Wie wechselhaft ist diese Balance? Wird das Dominieren des Westens weiter andauern? Wird der Aufstieg Asiens dazu führen, dass es die Fähigkeit bekommt, die Ereignisse mitzubestimmen? Werden sich diese zwei Pole zu einem Ganzen vereinen? Oder wird ein polyzentrisches System der globalen Weltordnung entstehen, über das die russische Diplomatie seit langem spricht?
Mehr noch, der Begriff der "Polarität" im internationalen System, also dessen Funktionieren um bestimmte Pole beziehungsweise Kraftzentren herum, wird hinterfragt. Die Kraft ist diffus und setzt sich aus so vielen Bestandteilen zusammen wie nie zuvor. Die gegenwärtige russische Konzeption der (Multi)Polarität hat sich in den 1990er beziehungsweise zu Beginn der 2000er Jahre unter dem Einfluss der Ideen von Jewgeni Primakow und seiner Schule herausgebildet, deren Grundlage im Lauf von mehreren Jahrzehnten gelegt und dann weiterentwickelt worden war.
Die russischen Ideen gingen ihrerseits von Erkenntnissen US-amerikanischer Theoretiker der 1960er bis 1980er Jahre aus. Anders gesagt, die grundlegenden Ideen entstanden noch vor Beginn der heutigen tektonischen Veränderungen. Doch dasselbe kann man über die westlichen Theorien einer liberalen Weltordnung sagen, die ebenfalls in einer anderen Realität entstanden sind. Das gemeinsame Problem des russischen und amerikanischen (oder im weiteren Sinne westlichen) Ansatzes ist, dass sie die Vergangenheit beschreiben, doch kaum die Gegenwart und Zukunft erklären können.
In den vorherigen Vorträgen neigten wir zu der Hypothese, dass sich in den kommenden Jahren eine sanfte Bipolarität bilden wird, nämlich eine Balance zwischen den Sphären der USA und Chinas. Das würde eine gewisse Ordnung in der Konstruktion implizieren. Und strukturmäßig würde es ein relativ stabiles Umfeld schaffen, obwohl die Protagonisten dabei gezwungen wären, eine Wahl zugunsten dieses oder jenes Lagers zu treffen. Doch die Evolution des internationalen Handlungsraumes führt an ein anderes Schema heran, das sich bislang am Rande der Diskussion befunden hatte: eine chaotische und sich schnell ändernde Ordnung, ein Krieg aller gegen alle, der mit dem Verfall der gewohnten Institutionen einhergeht (vom Nationalstaat mit seiner Souveränität bis zum klassischen Kapitalismus). Das ist das Szenario einer akuten Krise, die eher nicht zu einem neuen Gleichgewicht der Kräfte, sondern überhaupt zu einem vollkommenen Neustart für die Institutionen, die Macht, die Produktionsweisen und die internationalen Beziehungen führt.
Die zweite von den wichtigsten ungeklärten Fragen ist, ob die internationale Stabilität genug gesichert ist. Wer tritt als Haupt-Revisionist auf? Der Rivale, der Hegemon, der seine Hegemonie durch den Umbau des gesamten Systems zu festigen versucht, oder die Kräfte der Anarchie? Vielleicht sind es die technologischen Innovationen oder der Klimawandel, die den Status quo erschüttern?
Momentan sind wir Zeugen eines für die internationalen Beziehungen ungewöhnlichen Phänomens. Der globale Hegemon (die USA) zerstört zielstrebig die existierende Ordnung – entweder wegen des Wunsches, die Veränderungen zu seinen Gunsten zu steuern, oder aus offener oder scheinbarer Angst vor den neuen Machtzentren, oder wegen einer Serie von Fehlschlägen im Regierungssystem und den daraus resultierenden Systemfehlern beim Treffen der wichtigsten politischen Entscheidungen. Und der Rivale (China) bemüht sich vergeblich, das System zu bewahren, das auf Initiative des Hegemons hin entstanden war.
Und die dritte ungeklärte Frage lautet: Wie viel Halt haben die internationalen Regelungen? Sind sie so zuverlässig wie zuvor? Die Geschichte scheint sich mit jedem Tag zu beschleunigen. In den letzten Jahren erweiterten jähe politische Veränderungen, Wirtschaftskrisen, die Desorganisation des globalen Handels sowie der Zusammenbruch der internationalen Rechtssysteme nur den Raum der Unbestimmtheit.
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Der Artikel wurde verfasst von:
Fjodor Alexandrowitsch Lukjanow
Leiter der Autorengruppe, wissenschaftlicher Direktor der Stiftung für die Entwicklung und Unterstützung des Internationalen Waldai-Diskussionsclubs, Chefredakteur des Magazins "Russia in Global Politics", Präsidiumsvorsitzender des Rates für Außen- und Verteidigungspolitik, Professor und Forscher an der Nationalen Forschungsuniversität "Higher School of Economics".
Dr. habil. pol. Oleg Nikolajewitsch Barabanow
Programmdirektor des Internationalen Waldai-Diskussionsclubs, Professor an der Russischen Akademie der Wissenschaften, Professor am Moskauer Staatlichen Institut für internationale Beziehungen unter der Schirmherrschaft des russischen Außenministeriums (MGIMO).
Dr. rer. pol. Timofej Wjatscheslawowitsch Bordatschow
Programmdirektor des Internationalen Waldai-Diskussionsclubs, Direktor des Zentrums für komplexe europäische und internationale Studien der Nationalen Forschungsuniversität "Higher School of Economics".
Dr. habil. econ. Jaroslaw Dmitrijewitsch Lissowolik
Programmdirektor des Internationalen Waldai-Diskussionsclubs, Mitglied des Expertenrates der russischen Regierung, Mitglied des Bretton-Woods-Komitees.
Dr. rer. pol. Andrej Andrejewitsch Suschenzow
Programmdirektor des Internationalen Waldai-Diskussionsclubs, Leiter des Analysebüros "Außenpolitik", Dozent am Lehrstuhls für angewandte Analyse der internationalen Probleme des Moskauer Staatlichen Instituts für internationale Beziehungen unter der Schirmherrschaft des russischen Außenministeriums (MGIMO).
Dr. rer. pol. Iwan Nikolajewitsch Timofejew
Programmdirektor des internationalen Waldai-Diskussionsclubs, Programmdirektor des Russischen Rates für internationale Angelegenheiten.