von Zlatko Percinic
Seit Anbeginn der kriegerischen Auseinandersetzungen stehen sich diese zwei Protagonisten auf dem Schlachtfeld gegenüber: die Wahrheit und die Lüge. Und aus jeder Schlacht geht stets die Lüge als Siegerin hervor, die eine neue Wahrheit schreibt, die sich wiederum bis zum nächsten Krieg hält. Und so wiederholt sich diese tragische Geschichte immer wieder aufs Neue, mit immer neuen Wahrheiten, die jeweils mit einer Lüge begonnen haben. Ein wunderschönes Beispiel dafür bietet Abu Simbel in Ägypten. In dieser monumentalen Tempelanlage ließ sich der altägyptische Pharao Ramses II. als großer Kämpfer und Besieger der Hethiter bei Kadesch im heutigen Syrien verewigen. Über Jahrhunderte wurde diese Darstellung von Ramses II. übernommen und fand als "Wahrheit" Eingang in die Geschichtsbücher. Bis die Wissenschaft herausfand, dass sich die Schlacht von Kadesch in Wahrheit anders abgespielt hatte und Ramses II. nur mit Mühe und Not einer Katastrophe entging.
Nicht anders verhält es sich mit der Ukraine. Im politischen Diskurs wird völlig ausgeklammert, was sich seit Beginn der Krise Ende 2013 alles ereignet hat. Die Vorkommnisse rund um die Scharfschützen auf dem Maidan; die Präsenz von und Angriffe durch Neonazigruppen auf dem Maidan; die geleakte Aufnahme des US-Botschafters in Kiew zusammen mit Victoria Nuland; die halbgeheimen Besuche von CIA-Direktor John Brennan in Kiew kurz vor der als "Antiterroreinsatz" bezeichneten Militäroffensive gegen die eigene Bevölkerung in der Ostukraine; und zu guter Letzt auch noch das Krim-Referendum. Solche Fakten fehlen vollkommen im westlichen Narrativ, als ob es das alles nie gegeben hätte. Die Wahrheit ist der Lüge zum Opfer gefallen.
Die dadurch entstandene neue Wahrheit will es so, dass es in der Ostukraine eine "russische Invasion" gab, obwohl es für diese Anschuldigung noch nie auch nur den geringsten Beweis gab. Selbst die deutsche Regierung sah sich genötigt, der faktenlosen Kriegstreiberei des damaligen NATO-Oberkommandierenden sämtlicher Streitkräfte in Europa, General Philip Breedlove, Einhalt zu gebieten, damit Europa nicht unkontrolliert geradewegs in einen Krieg mit Russland schlittert. Am Narrativ – oder besser gesagt an der Mär – hat sich dadurch allerdings nicht geändert. Moskau wird seitdem ohne Unterlass beschuldigt, alle möglichen und unmöglichen Angriffe in verschiedenen westlichen Ländern durchgeführt zu haben.
In dieser ganzen Konzeption von Wahrheit gegen Lüge, dem manichäischen Verständnis des ewigen Kampfes zwischen Gut und Böse entsprechend, soll nun die Ukraine auf der Seite der vermeintlich Guten aufgebaut werden. Zumindest wenn es nach den Vorstellungen einiger Kommentatoren in und außerhalb der Ukraine geht. Einer davon ist Denys Gurak. Am 1. Juli 1986 in Kiew geboren, gehört Gurak zur jungen Generation von einflussreichen Ukrainern, die eine extrem antirussische Haltung einnehmen und entsprechende Politik machen. Als Reformator des staatlichen Rüstungskonzern Ukroboronprom und als Vorsitzender der ukrainischen NATO-Delegation NIAG war er für die Integration der Rüstungsindustrie unter die Fittiche der NATO zuständig. Als Inhaber einer Apothekenkette in der Ukraine und Senior Fellow der Denkfabrik "Potomac Foundation" versucht Gurak nun, US-Kongressabgeordnete für seine ganz persönliche Wahrheit zu gewinnen.
Nun gab ihm die Zeitung The National Interest eine Plattform, um für seine Ideen zu werben. Darin behauptet er, dass die Ukraine "der Schlüssel zum Ausgleich von Russlands globalen Ambitionen" sei. Der Westen müsse "Russlands Aggression" mit Gegenmaßnahmen beantworten, und zwar dort, wo es wehtut: Energie und Rüstungsexporte. Denn laut Denys Gurak stellt "Russlands Waffenhandel eine Gefahr für die globale Sicherheit" dar. Mit Rüstungsverkäufen wolle der Kreml seine gesteckten geostrategischen Ziele erreichen, so der Ukrainer weiter. Und aus diesem Grund "müssen" die USA die eigenen Rüstungsexporte in die Weltgegenden erhöhen, wo auch die Russen aktiv sind. Auch hier zeigt sich das schon angedeutete Muster: US-amerikanische Waffen sind gut, russische Waffen sind böse.
Wie das mit den realen Zahlen der Rüstungsexporte zu vereinbaren ist, bleibt Gurak seinen Lesern schuldig. Spitzenreiter bei den Waffenverkäufen ist nicht etwa Russland, wie er in seinem Artikel impliziert. Mit einem Anteil von 34 Prozent am gesamten Rüstungskuchen stehen die US-Amerikaner an erster Stelle beim Export, Russland mit 22 Prozent an zweiter Stelle. Und während die Exporte auf der US-Seite um 25 Prozent gegenüber dem Zeitraum von 2008 bis 2012 zugenommen haben, sind sie um 7,1 Prozent bei den Russen gesunken.
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Dennoch soll die Ukraine zum ersten Brückenkopf gegen Russland ausgebaut werden. Indem die ukrainische Rüstungsindustrie mit westlichem (US-amerikanischem) Kapital ausgestattet und in den NATO-Produktionszyklus integriert wird, wäre der "Westen in der Lage, Russlands geopolitischen Einfluss einzudämmen". Und dieser Einfluss zeige sich insbesondere darin, dass NATO-Mitgliedsstaaten wie die Tschechische Republik, Ungarn, Bulgarien, Italien und sogar Frankreich nach wie vor teilweise russische (bzw. sowjetische) Waffen und Munition in ihren Beständen führen. Die Türkei möchte das moderne S-400-Flugabwehrsystem kaufen, was natürlich der von der NATO gewünschten Intraoperabilität vollkommen widerspricht und deshalb in Brüssel entsprechend sensibel gehandhabt wird.
Wenn aber nach Meinung Guraks die ukrainische Rüstungsindustrie die russischen Waffen und Munition in NATO-Ländern ersetzen würde, könnten alle betreffenden Parteien nur gewinnen. Die Ukraine könnte einen wichtigen Industriezweig modernisieren und entsprechende Einnahmen generieren, und die westlichen Länder wären nicht mehr von Russland abhängig. Damit würde die Ukraine "substanziell zu regionaler und globaler Stabilität beitragen", schließt Denys Gurak. Wie aber eine gegen Russland gerichtete Politik und ein potenziell breit aufgestellter US-amerikanischer Waffenproduktionsstandort an der russischen Grenze "zu regionaler und globaler Stabilität" beitragen könnte, bleibt der Ukrainer erneut schuldig.
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